Die Schwachen und die Feigen

1

Malvina Bertram wies die Beschuldigungen ihres Mannes, die Präparate von Karen und Violet Girstenbrey vertauscht zu haben, mit Empörung zurück. Sie gab zu, an jenem Tag im histologischen Labor gewesen zu sein. Sie versah den Saaldienst, als die Gewebeproben von Violet Girstenbrey und Karen von Kerckhoff zu Schnellschnitten verarbeitet wurden.

Obwohl Bertram seinen Verdacht bald als unsinnig empfand und sich seines Ausbruchs schämte, wurden, wie bei einer Kettenreaktion, ungeahnte Kräfte freigesetzt. Und das Thema, ihr gemeinsames Leben, war nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Nächte hindurch führten sie erschöpfende Gespräche, bei denen Malvina ihm, mit wenigen Ausnahmen, eine Engelsgeduld entgegenbrachte.

Der November besteht aus sorgenvollen Tagen. Im Hause Bertram herrscht Grabesstimmung. Die Hausherrin sagt alle Einladungen ab, sie wagt sich selten aus dem Haus. Der Professor kommt spät und unregelmäßig heim, oft übernachtet er in der Klinik.

Sobald er zu Hause ist, ziehen sich die Herrschaften in die Bibliothek zurück, am nächsten Morgen räumt die Haushälterin leere Flaschen und volle Aschenbecher weg. Diese Stimmung geht auf das Hauspersonal über, die Leute werden lustlos und reizbar, sie reden leise wie im Hause eines Schwerkranken. Als sei sie unfähig, über andere Dinge zu reden, fängt Malvina immer wieder davon an. Er ist wortkarg und gehemmt, hört ihr mit einem Ausdruck zu, als ob er jedes Wort auf die Goldwaage legen würde.

An einem Sonntag sitzen sie im Wohnzimmer. Sie wirkt kühl, unnahbar und trägt ein so exklusives Kleid, daß es sogar ihm auffällt. Er versucht, sich auf ihre Worte zu konzentrieren, denkt unzusammenhängend: ›Es bedarf sicher eines Vermögens, um sich wie sie anzuziehen.‹

»Ich gebe zu«, sagt sie, »bei näherem Betrachten könnte ich die Gewebeproben deiner früheren Verlobten und ihrer Freundin vertauscht haben. Ich hätte ein Motiv, wenn ich dich schon damals geliebt hätte. Wer weiß es außer mir, wer kann es beweisen?«

»Also gut«, gesteht sie, »ich habe dich geliebt. Solange ich zurückdenken kann, ist meine Erinnerung mit der Liebe zu dir verbunden. Ich hätte ein Motiv. Ich habe es nicht getan.«

Einmal sagt sie: »Um so etwas tun zu können, reicht Liebe nicht aus, jedenfalls nicht nur. Ich habe Karen nie gehaßt, sie nur beneidet. Sie besaß alles, was ich haben wollte. Um dich habe ich sie beneidet. Dich wollte ich haben, koste es, was es wolle. Wenn ich jetzt zurückdenke, muß ich zugeben, ich war bereit, jeden Preis zu zahlen, nur nicht Mord. Zumindest hat sich diese Frage in keinem Augenblick meines Lebens gestellt. Würdest du mir einen Mord zutrauen? Deinetwegen?«

Er antwortet nicht, doch läßt sein Gesicht keinen Zweifel daran.

»Du schmeichelst mir«, sagt sie mit einem trockenen Lächeln, »du traust mir mehr Stärke zu, als ich jemals besaß. Ich glaube, ich wäre hinterher damit nicht fertig geworden. Es spricht vieles gegen mich, vor allem die Tatsache, daß ich am selben Tag den Saaldienst hatte, als die Gewebeproben ins histologische Labor gebracht wurden. Ich könnte vorher davon gewußt haben, aber ich wußte es nicht. Ich erfuhr es in dem Augenblick, als die Präparate vom Operationssaal herübergebracht wurden. Es entstand eine Aufregung, und alle taten sehr wichtig. Totenblaß setzte sich Stephan gleich in Bewegung, er ließ keinen heran, sogar Fräulein Twarz nicht, seine Cheflaborantin, die schon damals unsterblich in ihn verliebt war. Er tat alles allein, schnitt das Gewebe für die Schnellschnitte heraus.«

Anscheinend verbringt Malvina die Tage damit, neue Argumente für ihre Unschuld zu suchen. Eines Abends spricht sie wieder darüber. »Du bist stolz auf deine Fähigkeit, logisch zu denken, Johannes, so erlaube ich mir noch diese Frage: Wie hätte ich vorher wissen können, daß Karen die Gesunde war und Violet die Kranke? Nur die Kenntnis dieser Tatsache würde meiner angeblichen Handlung – die Gewebeproben vertauscht zu haben – einen Sinn geben. Gerade um das zu erfahren, schickte man das Gewebe zu uns.«

»Man kann es auch so erkennen«, antwortet er grob, »ein erfahrener Pathologe kann mit dem bloßen Auge …«

»Von Pathologie verstand ich nichts, eine junge Ärztin, die von ihrem ehrgeizigen Vater dazu gezwungen wurde, Dinge zu tun, die ihr zuwider waren. Ich mußte mich im Sektionssaal zusammennehmen, um mich nicht zu übergeben. Für mich sah jedes Gewebe gleich aus. Erfahren war ich nie, in keinem Fach. Wer weiß das besser als du?«

An einem Nachmittag fährt er, einem plötzlichen Impuls folgend, nach Hause und findet sie im Wohnzimmer vor. Sie sitzt am Fenster, es ist ihr bevorzugter Platz, zarte Rokokostühle, eine Chippendalecouch, auf dem Tisch vor ihr liegt ein altes Buch. Es ist ein wertvolles, handgeschriebenes Exemplar des Korans, einige hundert Jahre alt, er hat es ihr in Teheran geschenkt, wohin sie ihn auf einer Dienstreise begleitete.

Sie blickt kurz auf, dann ruhen ihre Augen nachdenklich auf dem Buch. »Das möchte ich behalten als Andenken an unsere glücklichen Tage.«

Noch ist das Wort Trennung nicht ausgesprochen. Noch nicht.

Der Chefarzt
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