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Je näher Fritsch eine Aufgabe ging, um so mehr sträubte er sich. Das traf besonders auf Lisa zu.
Er mußte sich überwinden, die Diagnose ihrer Erkrankung weiter voranzutreiben, um den Sitz des Tumors festzustellen. Er begann seine Hilflosigkeit zu hassen.
Auch wenn er sich von dem Gefühl des Arztes löste, der einen ihm Nahestehenden in Gefahr sah, blieb seine Ergriffenheit. Nach Mitternacht hielt sich Fritsch noch immer im Stationszimmer auf, statt die kurze Zeit der Ruhe während seines Nachtdienstes zu schlafen.
Um diese Zeit, nur wenige Türen von ihm entfernt, strengte Lisa ihr Gehör an, um seine Schritte im Flur zu vernehmen. ›Er hat seine Zigarette zu Ende geraucht‹, dachte sie, ›bald wird er schlafen gehen.‹
Erst gestern hatte sie ihn gefragt: »Es kommt mir vor, als hätten Sie das Lächeln verlernt. Es ist so selten, Sie lächeln zu sehen. Nicht, daß es mir was ausmacht …«
Ihre Frage erforderte keine Antwort.
Er antwortete: »Ich weiß nicht, warum. Habe ich gelächelt? Vielleicht, weil ich Sie so gerne sehe.« Das war mehr, als Lisa sich erhofft hatte.
Als sie vor Mitternacht ins Krankenzimmer zurückkam, sah sie im Licht der Nachttischlampe Fräulein Mörders wache Augen. »Sie haben Glück«, bemerkte sie, »der Stationsarzt kümmert sich um Sie.«
»Ich finde ihn nett«, sagte Lisa bescheiden, »er erzählt viel von seiner Frau.«
»So?«
»Ja. Dadurch wirkt ein Arzt menschlich, wenn er etwas von sich preisgibt.«
»Jedenfalls«, entgegnete ihre Bettnachbarin, bemüht, den Ton des höflichen Interesses nicht zu verlassen, »er hat eine hübsche Frau und soll eine glückliche Ehe führen.«
In ihren Gedanken war Lisa nicht so bescheiden: ›Ich würde alles geben, um zu erfahren, was er für mich empfindet. Denn ich bin mehr für ihn als nur eine Patientin auf seiner Station.‹
Im Erdgeschoß schlief Fritsch im alten, für ihn viel zu kurzen Bett des Jourzimmers ein und verglich in seinen letzten unbewußten Gedanken Lisas Körper mit Elenas magerer Nacktheit.
›Das Leben‹, sagte sich Fritsch, ›ist denkbar unkompliziert, solange das Zusammenspiel der Organfunktionen stimmt. Tritt das Gegenteil ein, verfängt es sich wie ein Ping-Pong-Ball im Netz. Der Geist, bis dahin frei und unabhängig, wird vom Körperlichen eingefangen und schrumpft vor dem Schmerz. Das Leid nimmt dem Menschen die Fassung.‹
Nicht so Lisa. In den seltenen Minuten, in denen Fritsch nicht mit dem Kampf um seine Existenzberechtigung beschäftigt war, wenn seine innere Spannung nachließ, kehrten – wie zu einer ruhigen Insel – seine Gedanken zu ihr zurück. Er sagte sich, daß sie Fassung und Mut bewies. Ohne sich jemals seine Gefühle zu ihr eingestanden zu haben, verriet ihm sein Instinkt, daß ihm etwas Wunderschönes und zugleich Schuldvolles widerfahren war, denn er liebte seine Frau.
Nun war morgens sein früherer Widerwillen weg, er ging in die Klinik mit einem inneren Frohlocken, das sich bei dem Gedanken an Lisa einstellte.