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In Leopoldines bisher ereignislosem Leben gab es nichts, was einem Vergleich mit der Nacht standgehalten hätte, die sie mit Thimm verbrachte. Noch erfüllt davon ging sie nicht mehr ins Bett, nachdem er weg war, und weil die Erregung in ihr nach Betätigung verlangte, begann sie mit ihrer Morgentoilette. Es war noch zu früh, um zur Arbeit zu gehen. Dieses Gefühl der Einmaligkeit, das sie jetzt verspürte, lenkte ihre Gedanken auf ihre gescheiterte Ehe. Verwundert sagte sie sich: ›Daß man immer beim falschen Mann anfängt, daß man jahrelang seine Nächte mit einem anderen verbringt und glaubt, es müsse so sein, es müsse so schmecken.‹ Mit langen, gleichmäßigen Bewegungen bürstete sie ihr Haar, ohne sich dessen bewußt zu sein, nahm auch das leise Knistern nicht wahr, mit dem sich die Elektrizität entlud.
Bevor alles passiert war, hatte sie vor Thimm Ehrfurcht empfunden. Zum wiederholten Male versuchte sie sich an das Geschehene zu erinnern. Zunächst war der Vorfall. Thimm hatte die Polizei angerufen. Dann saßen sie eine Weile da und warteten auf das Ergebnis der Durchsuchung, und als hätte die kurze Anwesenheit des kleinen, geschmeidigen Dicken diese sonderbare Änderung in Thimm hervorgerufen, hatte er sie nicht mehr aus den Augen gelassen. Auch der Glanz seiner Augen, die unvermittelt ihre Gleichmütigkeit verloren, war ihr neu. Sie, der kein Mann je eine Eifersuchtsszene gemacht hatte, glaubte, er wäre über den Vorfall aufgeregt. Als die Durchsuchung ergebnislos verlief, begleitete er sie ins Schwesternheim und kam mit ihr aufs Zimmer.
Es war merkwürdig. Man hat Vorstellungen von einem Mann und liegt plötzlich neben einem anderen. Als hätte Thimm unter Vorspielung falscher Tatsachen ein Bild von sich geprägt und es darauf angelegt, alle Welt zu täuschen. Der Thimm, den sie erlebte, hatte ihr die Furcht vor einer unbekannten Beziehung genommen und das Schweigen, in das sich eine Frau einigelt, bevor sie es mit sich geschehen läßt, selbstsicher gebrochen. Sie suchte nach einem Höhepunkt in den drei Jahren mit ihrem früheren Mann und fand keinen.
Als sie nach dem Augenbrauenstift griff, ließ Leopoldine, die ein fanatischer Pläneschmieder war, ihrer Phantasie freien Lauf. Eines Tages würde ich hier vorbeischauen und meine Nachfolgerin fragen: ›Ist mein Mann in seinem Arbeitszimmer? Ich möchte ihn zu einer Party bei Noldens abholen. Sie haben schon von Noldens Party gehört?‹ Und die Oberschwester der Pathologie würde mit einem Blick auf ihren Nerz antworten: ›Gewiß, Frau Professor, der Herr Professor wartet schon auf Sie.‹ Und sie würde mit einem Kopfnicken gütig sagen: ›Danke, meine Liebe. Übrigens ist mein Mann mit Ihrer Arbeit zufrieden …‹
Einstweilen war es noch nicht soweit. Dennoch fand sie, daß ihr Leben die Unordnung verloren hatte. Jetzt wußte sie, wo sie hingehörte. Nach langem Überlegen zog sie ein violettes Wollkostüm an, das sie vorteilhaft kleidete – ein gestrickter Rock und eine gestrickte Jacke.
Die geduldige Aufmerksamkeit und die Genauigkeit, die Thimms Charakter und seine Arbeit kennzeichneten, standen im Widerspruch zu der Intoleranz, die er Bertram nach ihrem Streit entgegenbrachte. Seine Verbitterung war so tief und erzeugte einen derartigen Strudel von Gefühlen, daß ein vernünftiges Gespräch zwischen ihnen unmöglich war. Ein Versuch Bertrams, sich für sein Benehmen zu entschuldigen, wurde von ihm nicht zur Kenntnis genommen wenn man Thimm gesagt hätte – aber es gab niemand, der ihm das sagte –, daß er jetzt seinem Freund ebenso unrecht tat, wäre er empört gewesen. Er hatte doch seine Freundschaft zu Bertram ein Leben lang bewiesen. Nur, als er jetzt daran dachte, erinnerte er sich an nichts Gutes, sondern an alles Schlechte, Kränkende. Wenn er an die gemeinsamen Jahre dachte und an ihre Arbeit, so nicht an den Freund, der ihm beistand, sondern an den Rivalen, der ihm Karen weggenommen hatte. Er fühlte sich von Bertram zum zweitenmal beraubt, diesmal der Illusion ihrer Freundschaft.
Die rätselhafte Geschichte mit den Präparaten von Karen und Violet Girstenbrey war nicht rätselhaft. Natürlich waren beide krank. Daß man das erste Mal bei Violet nichts gefunden hatte, bedeutete nicht zwangsläufig, daß jemand schuld war, wie Bertram es auslegte. Entweder hatte der Chirurg einen größeren, harmlosen Knoten herausgeschnitten – das kommt gelegentlich vor, wenn die bösartigen Veränderungen wenig ausgeprägt sind –, oder Violet erkrankte erst hinterher. Beides war möglich, und Bertram mußte das wissen. Er verbohrte sich in weitere Überlegungen. ›Er hat meine Treue immer mißbraucht. Wenn ich ehrlich nachdenke, ist er mir seit langem fremd. Ich habe nur aus Gewohnheit an unserer Verbindung festgehalten, weil ich ihn einmal zu meinem Freund wählte. Unser Weg ist nicht mehr der gleiche.‹
An dieser Unversöhnlichkeit zerbrach Bertrams schwacher Versuch, den Weg zu dieser Freundschaft, die seit langem keine mehr war, wiederzufinden. Als hätten sie mit ihrer Jugend die innere Größe eingebüßt, brachten die Professoren Thimm und Bertram die Kraft für diesen Schritt nicht mehr auf. Sie grüßten sich fortan mit einem Kopfnicken.
Obwohl sie vergangene Nacht kein Auge zugetan hatte, war Leopoldine nicht müde. In ihrer beflügelten Stimmung, die nach Aufgaben verlangte, merkte sie nicht, wie der Tag schnell verging. Sie hatte sich immer wieder im Spiegel betrachtet, jedesmal fand sie, ihr Gesicht strahle eine friedliche Schönheit aus. Im Spiegel lächelte sie entwaffnend auf die Frage, die sie beunruhigte: ›Ist es überhaupt schicklich, daß eine Schwester und ein Pathologieprofessor …‹
So war der Tag verflogen. Sie wurde sich dessen erst bewußt, als in den Gängen und Zimmern der Pathologie kein Laut mehr zu hören war. Sie war mit Thimm allein. Die Zeit verstrich, und ihre Hochstimmung begann zu schwinden, sie fragte sich unsicher: ›Er wollte doch mit mir sprechen. Das kann er unmöglich vergessen haben. Aber was tut er jetzt?‹
Für sie gab es viel zu überlegen. Sie sagte sich: ›Ich weiß immer noch nicht, was er wirklich ist. Ein Egoist?‹ Auch das würde sie bereitwillig akzeptieren.
Bis halb elf wartete sie vergeblich. Dann entschloß sie sich, zu ihm zu gehen. Im ersten Stock angelangt, zögerte sie vor der gepolsterten Doppeltür. Die Stille des verlassenen Gebäudes erschien ihr unheimlich, sie vernahm die Schläge ihres Herzens. Dann klopfte sie und trat ein. Das erste, was sie unvorbereitet traf, war sein Blick. Thimms Gesicht war finster und versprach nichts Gutes. Bevor sie eintrat, war sie überzeugt gewesen, er würde ihr gleich entgegenkommen und sie küssen, und sie würde sich an ihn schmiegen. Er aber saß hinter seinem Schreibtisch. Das Zimmer war durch seine Schreibtischlampe nur spärlich beleuchtet; ihr schien, als hätte er schon vor einer Weile aufgehört zu mikroskopieren. Sein kalter Blick ließ keinen Zweifel daran, daß ihr Erscheinen unerwünscht war. Er fragte schroff: »Was willst du?«
Zitternd antwortete sie: »Ich wollte fragen, ob … Sie etwas brauchen.« Verwirrt suchte sie sich dem Funken von Bosheit in seiner Stimme zu entziehen, während er ihren bittenden Augen vollkommen gleichgültig und kalt begegnete.
Erstarrt blickte Leopoldine auf sein liebloses Gesicht und suchte vergeblich nach passenden Worten. »Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagte sie schwach. Jetzt wuchs ihre Aufregung, ihre Wangen brannten heiß. »Ich dachte, es würde Sie freuen … Sie würden nichts dagegen haben, wenn ich für einen Augenblick vorbeischaue …«
»Ich möchte nicht grundlos gestört werden«, entgegnete er und sah kurz an ihr vorbei, als würde ihr Anblick ihm Unbehagen bereiten.
»Verzeihen Sie mir, bitte!« sagte sie demütig und schuldbewußt und hielt verlegen den Kopf schief.
Thimm betrachtete sie unwillig. Ihr weißer Kittel war offen, und unter Rock und Jacke zeichnete sich ihr Körper ab. Sein Zorn und seine Selbstvorwürfe wegen der vergangenen Nacht richteten sich jetzt gegen sie, gegen diesen blühenden Körper, den er als störend empfand. Bevor sie hereingekommen war, hatte er den Schlußstrich unter die erste Phase seiner Tierexperimente über Tumortransplantationen gesetzt. Die Ergebnisse, obwohl noch weit von der Ideallösung entfernt, hatten sich als vielversprechend erwiesen. Es war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Er genoß seine Freude und wollte in dieser Gemütslage nicht gestört werden. Diese Frau hier hatte er völlig vergessen. Die Nacht mit ihr war ein Fehler, er hoffte, daß sie nicht auf den Gedanken kam, sich etwas darauf einzubilden. Von Illusionen befreit, stellte er fest, daß er für sie nicht das geringste Interesse verspürte. Noch war es mit allen Frauen in seinem Leben – mit einer Ausnahme – so gegangen: Sie hatten selten Begeisterung und nie Leidenschaft geweckt. ›Was übrigbleibt, ist die Treue zu sich selbst‹, sagte er sich. Er blieb sitzen und betrachtete sie. Sogar ihre Wehrlosigkeit ließ ihn unberührt. Für ihn war sie so fremd, daß er selbst für einen Abschied keine Worte fand.
»Lassen Sie mich allein«, befahl er.
Und Leopoldine, die noch nicht erfaßt hatte, daß er sie zum Leiden verurteilte, sah kummervoll zu ihm auf, als hätte nicht er, sondern ein anderer, den sie nicht kannte, diese Entscheidung gefällt. Sie zog ihre schmalen Augenbrauen hoch, die so wenig zu ihrem runden Gesicht paßten, als ob sie jetzt mit Erstaunen begriffe, was geschehen war, und ging mit gesenktem Kopf zur Türe.
Was konnte sie ihm entgegensetzen außer ihr Aufbegehren und ihre, weil er sie nicht brauchte, für ihn wertlosen Gefühle. Langsam und noch unbewußt sehnte sie sich nach der beruhigenden Gewißheit, all das sei nur etwas Oberflächliches, das bald vorübergehen würde. Daß es eine Täuschung war, der sie sich wie in einem Traum für einige Zeit noch hingeben konnte.
Dann ging sie in ihr Zimmer im Erdgeschoß des Schwesternheimes, um eine schlaflose Nacht zu verbringen. Nun hatte sie jemand, der sie schlecht behandelte, und den sie gut behandeln konnte.