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Malvina verließ ihn überraschend. Wie sie ohne Überzeugung erklärte, für kurze Zeit. Er sah sie genau an und wußte, daß dies keine Affekthandlung war.
Obwohl er diesen Schritt erwartet hatte, und ihn innerlich befürchtete, verspürte er die Erleichterung eines Menschen, der auf eine Lösung drängte und sich immer wieder sagte, es müsse etwas geschehen. Dies hier war keine Lösung, aber immerhin mehr, als sich allabendlich aufzureiben.
Am Tag ihrer Abreise begleitete er sie zum Hauseingang und sah, wie der Chauffeur das Gepäck in den Kofferraum lud. Wozu die vielen Koffer, wenn sie wirklich nur eine kurze Zeit wegbleiben wollte? Dann fiel ihm ein, daß sie ihm ihr Reiseziel nicht verraten hatte. War es Absicht? In einer plötzlichen Sorge überwand er seinen Stolz und fragte sie.
»Zunächst nach London, dann irgendwohin … Du wirst rechtzeitig meinen Aufenthalt erfahren, wenn ich irgendwo seßhaft werden sollte.«
Mit einem fremden Lächeln winkte sie ihm aus dem abfahrenden Wagen zu, der sie zum Flughafen brachte. Zurück blieb eine Staubwolke, und er stand noch eine Weile vorm Hauseingang und starrte auf den nackten Fliederstrauch, den Karen als Teenager gepflanzt hatte. Wenn ihn seine Erinnerung nicht täuschte, war sein Geruch durchdringend und etwas modrig.
Er macht schlimme Tage durch.
Zum erstenmal seit Jahren denkt Bertram wieder an Karen. Es ist nicht mehr die frühere Karen.
Gegenüber dieser Karen hat er kein Mitleid, keine Schuldgefühle. ›Im Leben haben Tote keinen Platz‹, denkt er hartherzig. ›Sie bleiben in unserer Erinnerung dank der seltsamen Fähigkeit unseres Gedächtnisses, Phantasiegestalten zu schaffen. Mit den Lebenden von einst haben sie wenig gemeinsam. Wie war Karen in Wirklichkeit? Ich fürchte, ich kann diese Frage nicht mehr beantworten.‹ Er fängt wieder zu trinken an. Er verbringt die Abende zu Hause in der Bibliothek, das große Wohnzimmer in dem einsamen, menschenleeren Haus wirkt beklemmend. Er trinkt viel, meistens Whisky, weil er, wie er sich sagt, nicht einschlafen kann. Er grübelt stundenlang nach, dann geht er ins Bett und verfällt in einen schweren, ermattenden Schlaf und hat Alpträume. Wenn er aufwacht, ist das Bettlaken vom Schweiß durchnäßt, sein Mund ist trocken und seine Lippen kleben. Als erstes trinkt er morgens ausgiebig Wasser.
Er träumt von Pegasus Schöndorfer, jenem vielversprechenden Assistenten, den er seinerzeit aus der Universität verjagt hatte, weil er zu seinem Rivalen Holländer hielt. Auch er fand im Alkohol Zuflucht.
Bertram wacht auf, liegt lange mit offenen Augen in der Dunkelheit und lauscht auf die Schläge seines Herzens.
Zu keinem Augenblick in dieser für ihn schweren Zeit hätte ein Außenstehender sagen können, Professor Bertram vernachlässige seine Pflichten. Er war von morgens bis abends unentwegt beschäftigt, seine Visiten bekamen wieder etwas vom früheren Glanz, sie waren nicht nur gründlich und detailliert, die Gespräche mit seinen Mitarbeitern endeten in langen, fruchtbaren Diskussionen. Die jungen Leute bewunderten in ihm den geborenen Diagnostiker, der seine Kunst nahezu vollkommen beherrschte. Bertrams Arbeitseifer währte nicht lange. Aus dem Bedürfnis entstanden, zu beweisen, daß es mit ihm keinesfalls bergab ging, ließ er bald nach. Er war immer noch der alte, gefürchtet, bewundert und umstritten, sein Leben stimmte immer noch.
Abends saß in der Bibliothek seines Hauses ein anderer Bertram, zusammengesunken und von Depressionen geplagt. Ihm kam es vor, als ob alle Türen vor ihm unverhofft zugeschlagen würden, von jemand, der es ein Leben lang gut mit ihm gemeint hatte. Von Malvina.
Sie war nicht mehr da, sie befand sich auf der Flucht. Er hatte sie vertrieben und zur Verzweiflung gebracht. Er trank viel und verfiel in eine zunehmende Gleichgültigkeit. Das Telefon blieb stumm. Immer noch kein Anruf von ihr, keine Anschrift.
›Ich sollte mir lieber klarmachen, daß dies wahrscheinlich das Ende bedeutet, daß Malvina nicht mehr zurückkommt‹, sagte sich Bertram. ›Ich weiß es nicht einmal selbst, ob ich es will.‹