4

Malvina verließ ihn überraschend. Wie sie ohne Überzeugung erklärte, für kurze Zeit. Er sah sie genau an und wußte, daß dies keine Affekthandlung war.

Obwohl er diesen Schritt erwartet hatte, und ihn innerlich befürchtete, verspürte er die Erleichterung eines Menschen, der auf eine Lösung drängte und sich immer wieder sagte, es müsse etwas geschehen. Dies hier war keine Lösung, aber immerhin mehr, als sich allabendlich aufzureiben.

Am Tag ihrer Abreise begleitete er sie zum Hauseingang und sah, wie der Chauffeur das Gepäck in den Kofferraum lud. Wozu die vielen Koffer, wenn sie wirklich nur eine kurze Zeit wegbleiben wollte? Dann fiel ihm ein, daß sie ihm ihr Reiseziel nicht verraten hatte. War es Absicht? In einer plötzlichen Sorge überwand er seinen Stolz und fragte sie.

»Zunächst nach London, dann irgendwohin … Du wirst rechtzeitig meinen Aufenthalt erfahren, wenn ich irgendwo seßhaft werden sollte.«

Mit einem fremden Lächeln winkte sie ihm aus dem abfahrenden Wagen zu, der sie zum Flughafen brachte. Zurück blieb eine Staubwolke, und er stand noch eine Weile vorm Hauseingang und starrte auf den nackten Fliederstrauch, den Karen als Teenager gepflanzt hatte. Wenn ihn seine Erinnerung nicht täuschte, war sein Geruch durchdringend und etwas modrig.

Er macht schlimme Tage durch.

Zum erstenmal seit Jahren denkt Bertram wieder an Karen. Es ist nicht mehr die frühere Karen.

Gegenüber dieser Karen hat er kein Mitleid, keine Schuldgefühle. ›Im Leben haben Tote keinen Platz‹, denkt er hartherzig. ›Sie bleiben in unserer Erinnerung dank der seltsamen Fähigkeit unseres Gedächtnisses, Phantasiegestalten zu schaffen. Mit den Lebenden von einst haben sie wenig gemeinsam. Wie war Karen in Wirklichkeit? Ich fürchte, ich kann diese Frage nicht mehr beantworten.‹ Er fängt wieder zu trinken an. Er verbringt die Abende zu Hause in der Bibliothek, das große Wohnzimmer in dem einsamen, menschenleeren Haus wirkt beklemmend. Er trinkt viel, meistens Whisky, weil er, wie er sich sagt, nicht einschlafen kann. Er grübelt stundenlang nach, dann geht er ins Bett und verfällt in einen schweren, ermattenden Schlaf und hat Alpträume. Wenn er aufwacht, ist das Bettlaken vom Schweiß durchnäßt, sein Mund ist trocken und seine Lippen kleben. Als erstes trinkt er morgens ausgiebig Wasser.

Er träumt von Pegasus Schöndorfer, jenem vielversprechenden Assistenten, den er seinerzeit aus der Universität verjagt hatte, weil er zu seinem Rivalen Holländer hielt. Auch er fand im Alkohol Zuflucht.

Bertram wacht auf, liegt lange mit offenen Augen in der Dunkelheit und lauscht auf die Schläge seines Herzens.

Zu keinem Augenblick in dieser für ihn schweren Zeit hätte ein Außenstehender sagen können, Professor Bertram vernachlässige seine Pflichten. Er war von morgens bis abends unentwegt beschäftigt, seine Visiten bekamen wieder etwas vom früheren Glanz, sie waren nicht nur gründlich und detailliert, die Gespräche mit seinen Mitarbeitern endeten in langen, fruchtbaren Diskussionen. Die jungen Leute bewunderten in ihm den geborenen Diagnostiker, der seine Kunst nahezu vollkommen beherrschte. Bertrams Arbeitseifer währte nicht lange. Aus dem Bedürfnis entstanden, zu beweisen, daß es mit ihm keinesfalls bergab ging, ließ er bald nach. Er war immer noch der alte, gefürchtet, bewundert und umstritten, sein Leben stimmte immer noch.

Abends saß in der Bibliothek seines Hauses ein anderer Bertram, zusammengesunken und von Depressionen geplagt. Ihm kam es vor, als ob alle Türen vor ihm unverhofft zugeschlagen würden, von jemand, der es ein Leben lang gut mit ihm gemeint hatte. Von Malvina.

Sie war nicht mehr da, sie befand sich auf der Flucht. Er hatte sie vertrieben und zur Verzweiflung gebracht. Er trank viel und verfiel in eine zunehmende Gleichgültigkeit. Das Telefon blieb stumm. Immer noch kein Anruf von ihr, keine Anschrift.

›Ich sollte mir lieber klarmachen, daß dies wahrscheinlich das Ende bedeutet, daß Malvina nicht mehr zurückkommt‹, sagte sich Bertram. ›Ich weiß es nicht einmal selbst, ob ich es will.‹

Der Chefarzt
content001.xhtml
content002.xhtml
content003.xhtml
content004.xhtml
content005.xhtml
content006.xhtml
content007.xhtml
content008.xhtml
content009.xhtml
content010.xhtml
content011.xhtml
content012.xhtml
content013.xhtml
content014.xhtml
content015.xhtml
content016.xhtml
content017.xhtml
content018.xhtml
content019.xhtml
content020.xhtml
content021.xhtml
content022.xhtml
content023.xhtml
content024.xhtml
content025.xhtml
content026.xhtml
content027.xhtml
content028.xhtml
content029.xhtml
content030.xhtml
content031.xhtml
content032.xhtml
content033.xhtml
content034.xhtml
content035.xhtml
content036.xhtml
content037.xhtml
content038.xhtml
content039.xhtml
content040.xhtml
content041.xhtml
content042.xhtml
content043.xhtml
content044.xhtml
content045.xhtml
content046.xhtml
content047.xhtml
content048.xhtml
content049.xhtml
content050.xhtml
content051.xhtml
content052.xhtml
content053.xhtml
content054.xhtml
content055.xhtml
content056.xhtml
content057.xhtml
content058.xhtml
content059.xhtml
content060.xhtml
content061.xhtml
content062.xhtml
content063.xhtml
content064.xhtml
content065.xhtml
content066.xhtml
content067.xhtml
content068.xhtml
content069.xhtml
content070.xhtml
content071.xhtml
content072.xhtml
content073.xhtml
content074.xhtml
content075.xhtml
content076.xhtml
content077.xhtml
content078.xhtml
content079.xhtml
content080.xhtml
content081.xhtml
content082.xhtml
content083.xhtml
content084.xhtml
content085.xhtml
content086.xhtml
content087.xhtml
content088.xhtml
content089.xhtml
content090.xhtml
content091.xhtml
content092.xhtml
content093.xhtml
content094.xhtml
content095.xhtml
content096.xhtml
content097.xhtml
content098.xhtml
content099.xhtml