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»Dem Pech begegnet man mit Glück«, rief Glücklich aus bei dem Gedanken, auf welch groteske Weise er zu den Juwelen kommen würde. Seine Erregung wuchs. Er eilte zur Pathologie, direkt von Rosemaries Zimmer, nachdem er eine symbolische Handlung vollzogen hatte. Er sperrte sie ein, obwohl sie jederzeit durchs Fenster hinaus konnte. Das Miststück würde schon stillhalten, seine Menschenkenntnis bürgte dafür. Im Park war es stockdunkel, er war kein Freund des Lichts. Er kannte sich bestens aus, ging an der internen Klinik vorbei und an der chirurgischen Unfallambulanz. Gleich nebenan war das vierstöckige Gebäude der Pathologie. Das Foyer war schwach beleuchtet, es irritierte ihn nicht, hier ließ man die ganze Nacht Licht brennen. Wider Erwarten fand er die gläserne Eingangstür unverschlossen. Beim Anblick des Schlüsselkastens aus Kunststoff wurde sein Grinsen breiter, auch der war unverschlossen. Auf Rosemaries Beschreibung war Verlaß. Er holte den Universalschlüssel und war im Begriff, in den Keller zu gehen, als er Schritte hörte und eine Schwester sah. Es war Leopoldine Stein. Sie blieb unvermittelt stehen und sah ihn mit ungläubigen Augen an, wie er vor dem offenen Schlüsselkasten stand. Aber statt zu fragen, was er hier zu suchen hätte, sagte sie: »Ich kenn' Sie doch.«

Mit einem Sprung war er bei ihr, umklammerte ihren Arm und sagte drohend: »Keinen Laut …« Doch schien ihm das Glück nicht günstig, und seine Situation wurde kritisch, weil Professor Thimm in dunklem Mantel und Hut, als wäre er mit Leopoldine Stein verabredet, auf der Treppe erschien. Verschreckt sah Glücklich den langen Lulatsch, der gleich die Situation erfaßte und die Treppen runterlief. Außer Atem sagte Thimm das gleiche wie Leopoldine: »Ich kenn' Sie doch …«

Glücklich zeigte ein sinnloses Lächeln. »Garibaldi. Zauber…«

»Lassen Sie sie los«, befahl Thimm. »Verschwinden Sie!« Zu Leopoldine sagte er förmlich: »Sie sollten Ihre Privatangelegenheiten mit Ihrem Freund woanders regeln.«

»Er ist nicht …«, begann Leopoldine und sah Glücklichs Blick. So einfach ist das, dachte er: ›Ein Körnchen Glück auf der Waage.‹ Die Blicke, mit denen die beiden sich maßen, galten ganz anderem, bei dem seine Anwesenheit überflüssig schien.

Leise schloß Glücklich die Türe hinter sich. Seine Überlegung war, jetzt vom Keller der chirurgischen Unfallambulanz in den Pathologiekeller zu gelangen. Sein Vorsprung würde gerade noch ausreichen, denn sie wußten nicht, wohin er mit dem Schlüssel wollte. Aber er.

Im Präparateraum angelangt, blieb er stehen. Was für ein jämmerliches Loch.

Der Anblick der bedeckten Zementwanne erweckte sein Mißtrauen. Sollte das Zeug wirklich da drin sein? Er näherte sich der Wanne und hob den Deckel, der aus seiner zitternden Hand krachend nach hinten fiel. Ein Knäuel braun verfärbter Gliedmaßen schwamm in Formalin.

»Jesus«, sagte Glücklich erschrocken. Er bekam eine Gänsehaut. Sollte er mit der nackten Hand hineingreifen? Für nichts auf der Welt. Es sei denn, er fände einen Haken, um den Juwelenbeutel herauszufischen. Er fand keinen, er suchte überall, nur nicht unter dem zurückgefallenen Deckel.

Während er das tat, wurde er immer stiller und seine Bewegungen unkonzentriert. Dann setzte er sich auf eine Holzkiste und starrte wie gebannt in die Wanne. Er begann am ganzen Körper zu zittern.

Glücklich überkam die große Heulerei. Er hätte sich die Qualen seiner Geburt aus der Seele schreien können. Doch er weinte um nichts Bestimmtes, es war nur die Nervenanspannung.

Dann hörte er auf. Die Tränen versiegten so plötzlich, wie sie gekommen waren, und er sagte sich: ›Wenn du hineingreifst, brauchst du dein Leben lang nicht mehr zu arbeiten.‹

Drei Stunden später, als die herbeigeholte Polizei die Durchsuchung des Universitätskellers ergebnislos beendet hatte, saß Glücklich mit den Juwelen bereits im Zug. Den Schlüssel hatte er durch das Gitter in einen Kanalschacht in der Bahnhofstraße geworfen.

Der Chefarzt
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