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Als Bertram nach Professor Auerbachs Erkrankung wieder an die Klinik zurückkehrte, gab es einen jungen Stationsarzt, den er besonders bevorzugte. Der Junge mußte einen Träumer als Vater gehabt haben, er hieß Pegasus Schöndorfer und erinnerte Bertram auf eine seltsame Weise an sich selbst vor zehn Jahren. Er war arbeitsam, den Patienten gegenüber vorsorglich und opferte ihnen seine freie Zeit. Er zeigte sich stolz und unnachgiebig, wenn es darum ging, seine Überzeugung zu vertreten. Wie jeder gute Kliniker war er besessen und – noch eine Ähnlichkeit mehr – arm wie eine Kirchenmaus. Er fuhr einen uralten VW, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war, trug stets ein und dieselbe, an den Knien ausgebeulte Hose, seine Schuhabsätze waren schief. Dieses Bild seiner eigenen Jugend rief in Bertram jedesmal ein melancholisches Empfinden hervor.
Bertrams Schwäche für den jungen Arzt wurde von vielen mit Neid registriert; ihm gegenüber zeigte Pegasus Schöndorfer die selbstbewußte Zurückhaltung der Jugend. So verging ein Jahr, und niemand zweifelte mehr an Schöndorfers Karriere, als Professor Bertram zugetragen wurde, daß sein Schützling zu jener Gruppe von Assistenten gehörte, die Professor Holländer heimlich unterstützte.
Was darauf folgte, war peinlich und qualvoll: Die Chefvisiten wurden zu einer Tortur, die Arbeit für den jungen Arzt zu einem Alptraum. Bertram trieb ihn mit Ausdauer zur Verzweiflung, er führte ihm systematisch den Beweis vor, daß er für den ärztlichen Beruf ungeeignet war, bis Schöndorfer bei einer Visite die Kontrolle über sich verlor. Es kam zu einem unbeherrschten Ausbruch, er beschimpfte Bertram und endete in kindlich unbeholfenem Schluchzen. Er hatte eine Alkoholfahne.
Der Vertrag Dr. Schöndorfers wurde von der Universität nicht verlängert, er verschwand. Bald erinnerte sich niemand mehr an ihn.
Von seinem weiteren Schicksal erfuhr Bertram durch einen Zufall einige Jahre später. Im Schlichtungsausschuß der Ärztekammer, dessen Vorsitz er innehatte, wurde der Fall eines gewissen Dr. Pegasus Schöndorfer verhandelt. Er war als niedergelassener Arzt in einer benachbarten Kleinstadt tätig und die Bürgerbeschwerden über ihn häuften sich. Seine Trunkenheit war zu einem öffentlichen Ärgernis geworden. Seine Frau hatte ihn verlassen.
Daß er verheiratet gewesen war und zwei Kinder hatte, erfuhr Bertram zum erstenmal.
Inzwischen wurden Bertrams Anhänger in der Universität immer zahlreicher und Justin Holländer verlor an Einfluß. Bertram nutzte die Verbindungen Lothar Hessels, um seine eigenen Leute unterzubringen. Es passierte immer öfter, daß die Kandidaten seiner Gunst die öffentlich ausgeschriebenen Chefarztstellen in den Krankenhäusern bekamen. Bald wurde keine bedeutende Position mehr vergeben, ohne daß er auf irgendeine Weise damit in Verbindung gebracht wurde. Kein Weg führte an ihm vorbei. Das sprach sich herum. Die Tatsache, daß er seine Anhänger nicht im Stich ließ, brachte ihm weitere Freundschaften.
Bertram machte die Erfahrung, daß von allen Arten, Macht auszuüben, die heimliche Ausübung die stärkste war.
Zwei Tage nach der Treibjagd suchte Stephan Thimm Bertram in der Klinik auf. Es war spät am Abend. Stephan zeigte offen seine gute Stimmung und Bertram, der mit seiner Sprechstunde gerade fertig geworden war, wunderte sich; Stephans Mitteilsamkeit erschöpfte sich sonst in einem Kopfnicken. Er erinnerte sich nicht mehr, wann er ihn das letzte Mal lachen sah.
Stephan beobachtete, wie Bertram zwei Gläser Whisky einschenkte, und sage scherzhaft: »Kann ich es meinem Magen zumuten? Manchmal, wenn ich gerade Innereien abmontiere, denke ich mir: Das hier ist ein Magen deines Jahrgangs. Kein sehr lustiger Gedanke.«
Bertram blickte auf. Stephan, der nonchalant seine Gedanken preisgab? Dahinter steckte etwas.
Jetzt wußte er, warum Stephan zu ihm gekommen war. Er erschrak.
Bertram, dem das Schicksal von Violet Girstenbrey, Karens Freundin, Rätsel aufgab, hatte vor kurzem die Schnitte der damals von Stephan durchgeführten histologischen Untersuchung verlangt.
Seit Violets Tod waren zwölf Jahre vergangen und er bezweifelte, ob diese Schnitte noch aufbewahrt wurden. Das Pathologiearchiv beschränkte sich auf zehn Jahre. Er war angenehm überrascht, als er sie bekam, ebenso Karens Schnitte, die er, einem Impuls folgend, noch einmal sehen wollte. Deswegen war Stephan gekommen, seine gute Laune war schlechtes Theater.
»Du hast nach Girstenbreys Präparaten verlangt?« sagte er.
Bertram nickte.
»Überraschend, dieses plötzliche Interesse. Warum hast du mir nichts davon gesagt?« Wieder dieser beiläufige Ton. Es war durchaus nicht üblich, mit ihm darüber zu sprechen, wenn man Präparate aus der Pathologie benötigte. Man bekam sie gegen Unterschrift aus dem Archiv, es war ein alltäglicher Vorgang.
Um so bemerkenswerter war Stephans Erscheinen hier. Wozu das Ganze, fragte sich Bertram. War es Stephans gekränkte Eitelkeit, weil er seine Diagnose anzweifelte, oder versuchte er, ihm etwas vorzumachen?
Bertram hatte die Präparate von Violet Girstenbrey unter dem Mikroskop untersucht und auch nochmals Karens Schnitte. Violets Präparate zeigten keine bösartigen Zellen. Die Sache war völlig in Ordnung, seine Diagnose stimmte mit Stephans damaliger Aussage überein.
Bertram zögerte: »Ich habe dir schon mal von dem Brief in Elisabeths Schmuckkassette erzählt, erinnerst du dich?«
Stephan nickte.
»Dieser Brief stammt von Violets Mann. Der Kerl liebte sie abgöttisch. Ich habe ihn aufgesucht und mit ihm gesprochen.«
»Du hast es getan, weil du erfahren hast, daß die erste Untersuchung keine Tumorzellen ergeben hat. Das sieht dir ähnlich.«
»Du mußt schon zugeben, die Sache ist ungewöhnlich. Eine junge Frau wird von erstklassigen Fachleuten untersucht und für gesund erklärt. Ein Jahr später stirbt sie an den Folgen eines Brustkrebses, und zwar auf derselben Seite.«
»Du hast die Präparate selbst gesehen?«
»Ja.«
»Was hast du gefunden?«
»Nichts. Das weißt du genauso wie ich. Im Probeschnitt von Violet Girstenbrey bei ihrem ersten Krankenhausaufenthalt sind keine Tumorzellen nachweisbar, dennoch …«
»Ich bin Pathologe und kein Wahrsager«, sagte Stephan milde, »ich kann die Diagnose dessen, was ich unter dem Mikroskop sehe, stellen. Wir können gemeinsam den Chirurgen beschuldigen, wir können unterstellen, er hätte sich verschnitten und nicht den richtigen Knoten erwischt. Das wäre eine gute Idee. Es sind nur Spekulationen, bewiesen ist damit noch nichts.«
»Sie ist ja tot!« Bertram trank sein Glas aus. Nachdenklich schwieg Stephan, dann sagte er behutsam: »Warum hast du Karens Präparate noch einmal haben wollen? Du hast sie damals selbst gesehen. Zweifelst du neuerdings auch daran?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Bertram hilflos. »Etwas verwirrt mich an dieser Geschichte, es spukt in meinem Kopf. Ich glaube, ich habe was übersehen. Aber was?«