3

Im Laufe seines Lebens hatte sich Bertram – welche Veränderung – immer mehr in einen naturverbundenen Menschen verwandelt. Der strengen und etwas kargen Landschaft der Oberpfalz hatte er in seiner Jugend wenig Beachtung geschenkt, sie gehörte dazu.

Das erste Mal zeigte er sich für die Natur empfänglich in der kurzen Zeit vor Karens Tod, die sie im Gebirge verbrachten. Seine damalige Stimmung hatte eine vollkommene Entsprechung in der Natur gefunden.

Dagegen zeugten Malvinas Blumenarrangements für einen anerzogenen Geschmack. Für sie waren Blumen eine Frage der Ästhetik, nicht des Gefühls. Sie war eine typische Großstädterin, die die Erfüllung der Natur bestenfalls in gepflegten Rasenflächen und Hecken sah und sie als Requisit eines bestimmten Lebensstandards betrachtete. Als erster Oberarzt der Klinik war Bertram an Rufbereitschaften gebunden. Wenn er einmal nachts geholt wurde, ging er hinterher zu Fuß durch die schlafende Stadt bis zum Hügel hinauf, in dessen Nähe er wohnte. Gelegentlich erlebte er den Sonnenaufgang.

Wenn es ihm seine Zeit erlaubte, machte er einen größeren Umweg und ging durch einen nahe gelegenen Wald. Er genoß das morgendliche Lichtspiel.

Er verfiel dabei in eine grüblerische Stimmung, die vom Schmerz der eigenen Bedeutungslosigkeit nicht frei war und ihm zu neuen Gedanken verhalf. Bertram erlebte den Wechsel der Jahreszeiten, die Zeit des frischen Laubes und die Zeit der Beeren; er erlebte das goldene Herbstlaub, das von den Bäumen herabgefallen war, er ging auf einem Blätterteppich, der bei jedem Schritt rauschte. Wenn er zu den hohen Baumkronen hinaufschaute, bedeckte ein Gewirr von Sonnenflecken sein Gesicht.

In solchen Augenblicken bewegte sich Bertram nicht mehr im gewohnten Kreis seiner Gedanken, er lauschte auf seine innere Stimme. Er dachte über die Frage nach, wie es nur möglich war, daß ein Mann wie er, bald in seinem vierzigsten Lebensjahr, immer noch vergebens nach dem Sinn des Lebens forschte. Voller Unruhe fragte er sich: ›Wie steht es in Wirklichkeit mit einem Mann um die Vierzig?‹

Zu dieser Zeit griff Bertram noch einmal zu seinen Notizen:

»Die Wandlungen im Leben eines Menschen gehen mir nicht aus dem Kopf. Warum sollte es nicht im menschlichen Leben, dem Muster der Natur folgend, ähnlich festumrissene Perioden geben wie die Jahreszeiten?

Ich denke dabei nicht nur an das Äußere, hier ist von inhaltlichen Veränderungen die Rede, nach dem Sommer kommt der Herbst usw. Die Einfachheit der Vergleiche bürgt für ihre Glaubwürdigkeit.

Wenn dem so ist, dann kommt die erste große Übergangsphase um die Dreißig, es ist die Zeit der Verwirrungen und Krisen, der Zweifel und der Selbstbefragung.

Der nächste große Umschwung tritt etwa zehn Jahre später ein, um die Vierzig. Das Gefühl, daß die Zeit verstreicht, vermischt sich mit dem ersten, echten Bewußtsein des eigenen Todes und einer stillen Verzweiflung (wie zutreffend für meinen jetzigen Zustand).«

Jahre später beendete Bertram mit einem Satz diesen Gedanken. Er schrieb: »Erst zu Beginn der Fünfzigerjahre wird der Mensch reif.«

Der Chefarzt
content001.xhtml
content002.xhtml
content003.xhtml
content004.xhtml
content005.xhtml
content006.xhtml
content007.xhtml
content008.xhtml
content009.xhtml
content010.xhtml
content011.xhtml
content012.xhtml
content013.xhtml
content014.xhtml
content015.xhtml
content016.xhtml
content017.xhtml
content018.xhtml
content019.xhtml
content020.xhtml
content021.xhtml
content022.xhtml
content023.xhtml
content024.xhtml
content025.xhtml
content026.xhtml
content027.xhtml
content028.xhtml
content029.xhtml
content030.xhtml
content031.xhtml
content032.xhtml
content033.xhtml
content034.xhtml
content035.xhtml
content036.xhtml
content037.xhtml
content038.xhtml
content039.xhtml
content040.xhtml
content041.xhtml
content042.xhtml
content043.xhtml
content044.xhtml
content045.xhtml
content046.xhtml
content047.xhtml
content048.xhtml
content049.xhtml
content050.xhtml
content051.xhtml
content052.xhtml
content053.xhtml
content054.xhtml
content055.xhtml
content056.xhtml
content057.xhtml
content058.xhtml
content059.xhtml
content060.xhtml
content061.xhtml
content062.xhtml
content063.xhtml
content064.xhtml
content065.xhtml
content066.xhtml
content067.xhtml
content068.xhtml
content069.xhtml
content070.xhtml
content071.xhtml
content072.xhtml
content073.xhtml
content074.xhtml
content075.xhtml
content076.xhtml
content077.xhtml
content078.xhtml
content079.xhtml
content080.xhtml
content081.xhtml
content082.xhtml
content083.xhtml
content084.xhtml
content085.xhtml
content086.xhtml
content087.xhtml
content088.xhtml
content089.xhtml
content090.xhtml
content091.xhtml
content092.xhtml
content093.xhtml
content094.xhtml
content095.xhtml
content096.xhtml
content097.xhtml
content098.xhtml
content099.xhtml