Nachlaß einer Adligen

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Elisabeth Kerckhoff war eine geborene Kerckhoff. Vor gut vierzig Jahren hatte sie ihren zweiten Mann mit einem silbernen Kerzenleuchter aus ihrem Haus gejagt, ihm folgte, nur halb angezogen, die blonde Zofe der Gräfin. Die Zornesausbrüche begleiteten die Gräfin bis ins hohe Alter. Mit achtunddreißig, zwei Jahre nach ihrer Scheidung, gebar sie ein Mädchen, das sie Karen taufte, und fortan widmete sie ihm die ganze aufgestaute Liebe einer noch jungen, leidenschaftlichen Frau. Karen bekam bald die Zornesausbrüche und Mutters eisernen Willen zu spüren; in allen Fragen der Erziehung war die Gräfin eine konsequente Frau.

Mit siebenundsechzig Jahren, zwei Jahre nach Karens Tod, hatte Johannes einen Magenkrebs bei ihr diagnostiziert und ihr reinen Wein eingeschenkt. Die Operation befreite sie vom Tumor, die Beobachtungszeit von fünf Jahren verlief ohne Komplikationen. Mit vierundsiebzig bekam sie eine chronische Leukämie, auch diesmal erfuhr die Gräfin von ihm die Wahrheit. Der Verlauf der Erkrankung war ausgesprochen milde, sie litt nicht sehr darunter. Als sie an dem Schlaganfall starb, war Elisabeth Kerckhoff gerade achtundsiebzig geworden. Mit Bertram verband sie sechzehn Jahre lang ein inniges Verhältnis.

In seinem Arbeitszimmer im ersten Stock der Klinik klingelte Professor Bertram nach einem Kaffee. Er hatte Elisabeths Augen selbst geschlossen, ihr eine Weile die Hand gehalten, dann sich still von ihr verabschiedet. Bertram saß an seinem Schreibtisch und betrachtete Elisabeths geöffnete Schmuckkassette, die ihm von der aufgeregten Nachtschwester gebracht worden war. Die Schmuckkassette war leer. Er fand nur ein paar alte Briefe. Drei davon waren von Karen – leicht vergilbtes, cremefarbenes Papier, schmerzlich-bekannte Handschrift –, er las sie nicht. Bertram glaubte sich an den Absender des vierten Briefes zu erinnern: ein schmächtiger Mann mit abstehenden Ohren und schlecht sitzenden Anzügen. Er war mit Karens Freundin Violet verheiratet. Verwundert fragte sich Bertram, was aus Violet geworden war. Nach Karens Tod hatte sie ihre Verbindung zu ihm jäh abgebrochen. Jetzt, zwölf Jahre später, stellte er überrascht fest, daß Karens beste Freundin bei ihrer Beerdigung nicht anwesend war.

Warum hatte Elisabeth den Brief dieses Mannes in ihrer Schmuckkassette aufbewahrt?

Bertram holte den Brief aus dem Umschlag.

Der Chefarzt
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