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Mit einundzwanzig hat er ein abgebrochenes Jurastudium hinter sich und hat ein Mädchen. Es ist ein merkwürdiges Verhältnis. Sie heißt Klara Seuberth und stammt aus einer alteingesessenen Anwaltsfamilie in der Stadt. Sie ist von ruhigem, angenehmem Wesen, gehört zu jenen Frauen, die Liebe und Leid schweigsam ertragen. Das Körperliche zwischen ihnen beschränkt sich auf ein paar flüchtig-unbeholfene Küsse, dennoch gehen sie regelmäßig aus, fast drei Jahre lang: Oper, Konzerte, Kino. Sie ist für ihn immer da und stets bereit, er verfügt über ihre Zeit wie ein anspruchsvoller Liebhaber, der schwer zufriedenzustellen ist. Manchmal, von seinem Gewissen geplagt, versucht er, in seine Gefühle Ordnung zu bringen. Er ignoriert die erwartungsvollen Blicke ihrer Eltern, zögert, schiebt die Entscheidung vor sich her.

Im vierten Jahr ihrer Bekanntschaft – er studiert schon sechs Semester Medizin – verlobt sich Klara mit einem jungen Juristen, einem ehemaligen Klassenkameraden von ihm, mit dem er in derselben Fußballmannschaft spielte. Er ist zutiefst getroffen, spielt den gekränkten Liebhaber, obwohl er nie einer war, beantwortet ihren Brief nicht.

Zwei Tage vor ihrer Hochzeit kommt sie überraschend in seine Studentenbude, es ist kurz vor Mitternacht, sie zittert am ganzen Körper. Erst jetzt, als sie sich mit der Hingabe einer Verzweifelten an ihn drückt, ahnt er, welchen Mut sie für diesen Schritt aufbringen mußte. Die Nacht über bleibt sie bei ihm. In seiner Erinnerung ist diese Nacht mit dem herben Thymiangeschmack ihrer Lippen behaftet. Er ist der erste Mann für sie.

Dennoch weigert sie sich nach ihrer Hochzeit, ihn wiederzusehen. Ihre Erziehung und Gläubigkeit und ein Gefühl des Anstandes gegenüber ihrem Mann verbieten ihr, ein Leben in Lüge zu führen.

Er drängt sie, ist verzweifelt und fest überzeugt, daß er sie liebt. Er gibt sich die Schuld, daß er sie verloren hat, und leidet Qualen. Wie durch ein Wunder ist Klara, weil unerreichbar, eine begehrenswerte Frau geworden.

Der Sturm seiner Gefühle legt sich allmählich, dann verliert er sie aus den Augen, vier, fünf Jahre lang. Von gemeinsamen Bekannten hört er, daß ihr Mann in irgendein Provinzstädtchen versetzt worden ist.

Als sie sich wiedertreffen, ist sie Mutter von zwei Kindern und eine Frau in voller Blüte.

Es ist eine Stehparty bei Baronin Rheinbaben und sie unterhalten sich ungestört in einer Ecke.

»Du wolltest herausfinden, was unecht ist«, sagt Klara, »in deiner Verbissenheit wolltest du alles entzaubern, und ich war drauf und dran, in dir meinen Messias zu sehen. Du versuchtest, Gefühle zu Nervenerregungen und Strompotentialen zu verwandeln, die genau meßbar zu sein hatten. Für dich war ich ein Opfer meiner bürgerlichen Moral, dabei habe ich dich wahnsinnig geliebt. Nein, Peter ist nicht dein Kind, obwohl ich in unserer einzigen Liebesnacht Gott darum gebeten habe und versessen war, mein restliches Leben dafür zu sühnen. Geschmacklos, findest du nicht auch? Wir haben zwei Kinder und eine englische Gouvernante, das Geld dafür steuert mein Vater bei. Rudolf ist inzwischen Staatsanwalt geworden, mit seinem Gehalt ist nicht viel los, wir kommen gerade so über die Runden. Ihr kennt euch?«

»Wir waren in derselben Fußballmannschaft, er hätte einen passablen Rechtsaußen abgegeben …«

»Du erinnerst dich, Stephan«, sagt Klara, »ich war eine romantische Gans, ziemlich aufgeplustert, hatte allerhand Romane gelesen, lauter Liebeszeug, und wollte ein Kind von dir haben, obwohl ich einen anderen heiraten sollte. Hinterher habe ich wie ein Schloßhund geheult, nachts, während Rudolf ahnungslos schlief. Ich hab' mich verachtet und dich gehaßt, und gelitten habe ich dabei schön und heldenhaft. Jetzt bin ich gezähmt. Damit ist es ein für allemal vorbei. Peter geht immer noch nicht auf den Topf, dabei ist er schon vier Jahre alt, das macht mich krank. Rudolf ist dick geworden, mit Stirnglatze, und hat seine Kegelrunde. Er ist ein guter Familienvater und sehr anständig zu mir. Mehr verlange ich nicht.«

Sie haben eine kurze Affäre. Es ist eine heftige Erregung, die sich bald verflüchtigt.

Der Schein trügt. Klara ist kein Geschöpf in seiner Blütezeit. Sie ist eine von Ängsten geplagte Frau, die ihre Probleme mit ins Bett nimmt. Sie vertraut ihm an, daß Rudolf – wer hätte es ihm zugetraut – eine Freundin hat, die er aushält. Er teilt seine Freizeit zwischen ihr und der Familie. »Es ist eine vernünftige Regelung«, sagt Klara, »ein Staatsanwalt kann sich keine Scheidung leisten.«

›Sie plappert diesem Rudolf nach‹, denkt er verstimmt. ›Was sie braucht, ist ein Psychiater und keinen Liebhaber.‹ Um diese Zeit fängt für ihn ein neuer Lebensabschnitt an. Es ist seine Schaffensperiode. Er ist als Pathologe an der Universität tätig und wissenschaftlich engagiert. Seine wissenschaftliche Arbeit kommt erst richtig voran, als er einen jungen Internisten, Johannes Bertram, kennenlernt. In ihm findet er einen Gesinnungsgenossen und sie arbeiten bis spät in die Nacht hinein. Zu diesem Zweck hat man ihnen ein Kellerzimmer zugewiesen, das sie notdürftig einrichten und Labor nennen.

›Klara hat recht. Du hast aus zweiter Hand gelebt‹, sagt er sich, ›Zufallserregungen und Liebeleien. Nichts war dir heilig. Du hast alle Gefühle seziert, als wären sie lieblose Körper im Sektionssaal. Einige deiner Erkenntnisse hast du den anderen mitgeteilt, zu guter Letzt aber bist du mit deinem Wissen allein geblieben. Du redest dir ein, jede Bindung sei nichts wert und nur die Freiheit zählt, ein Mann muß frei sein für seinen Beruf. Du bemühst dich nicht, solche Neurotiker zu verstehen, die aus unerfindlichen Gründen eine Ehe eingehen, wie Klara mit ihren Frustrationen und ihrer sexuellen Verklemmtheit und Rudolf, der die gleichen Zärtlichkeiten für Frau und Freundin hat und sie beide Herzi nennt. Du stehst darüber und fragst dich nicht, oh sie nicht früher anders gewesen sind, vielleicht hat die Ehe sie erst zu Neurotikern gemacht.‹

Das Leben geht weiter. Das eigentliche Ich wird verleugnet, die begeisterten Pläne verblassen im Alltag, der Weg zum Erfolg zieht sich fad und endlos hin. Kraftlosigkeit übermannt beide, Bertram und ihn. Sie spritzen weiße Mäuse mit Alkohol, um Leberkrankheiten zu erzeugen, dann töten sie sie, und er untersucht die Leber unterm Mikroskop. Bertram, der Freund, ist der einzige Mensch, den er an sich heranläßt, er kämpft gegen seine überlegene Verachtung, die er allem Lebendigen entgegenbringt und seine Kollegen vor den Kopf stößt. Es ist um die Zeit, wo Thimm fest daran glaubt, die Fähigkeit zu leiden und zu lieben verloren zu haben. Bertram rettet ihn vor der absoluten Vereinsamung der Sektionssäle. In jedem Menschen gibt es einen Traum, auch in ihm. Nur nimmt er erst Gestalt an, als Karen von Kerckhoff in sein Leben einbricht.

Es ist ein Einbruch, keine Begegnung, alle für ihn geltenden Normen sind gesprengt. Thimm verliebt sich kopflos, schrecklich, wie ein Gymnasiast.

Nach altbewährtem Rezept versucht er dagegen anzukämpfen. Er sagt sich: ›Es ist jene Art von Liebe, der du mißtraust und die du geleugnet hast, diese Sehnsucht nach einer Frau, von der man nicht loskommen soll, lebenslänglich, für die es keinen Ersatz geben soll.‹ Es gibt keinen, er bleibt dabei. Zu dieser Zeit weiß er noch nicht, daß die Menschen, die von einem geliebt werden, nicht zwangsläufig dieselben sind, die einen lieben. Eine Erfahrung, die ihm noch bevorsteht.

Der Chefarzt
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