Vorspiel

Ein Mann in aller Munde

Im Oktober 1967, zu Semesterbeginn, wurde der kommissarische Leiter der internen Universitätsklinik, Professor Johannes Cornelius Bertram, Jahrgang 1923, katholisch, verheiratet, kinderlos, zum Ordinarius der inneren Medizin berufen. Er war der erste seiner Kommilitonen, der die Spitze erklomm.

Aus dem Rahmen fiel das Alter des Auserwählten – es war weit unter dem Durchschnitt. In diesem Jahr hatte Professor Bertram seinen vierundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Die Studenten, aus den Ferien zurückgekehrt, erfuhren schmunzelnd die Neuigkeit. Die unteren Semester waren zur Zeit dabei, Professor Bertram mit der schwärmerischen Bewunderung der Jugend zu entdecken, genauso wie die Älteren es bereits vor Jahren getan hatten und die diese Jugendschwärmerei jetzt nachsichtig eine ›Phase‹ nannten. Die Wahl des schönen Hannes, der seit der Erkrankung seines Schwiegervaters die Klinik leitete, galt immer schon als Geheimtip.

In dieser Oktoberwoche waren die Ereignisse überraschend in die eintönige Klinikroutine eingebrochen. Das Für und Wider um den neuen Klinikdirektor bewegte die Gemüter, trotz seiner Popularität war Bertram in maßgebenden medizinischen Kreisen umstritten. Von einigen seiner Kollegen wurden ihm eine zu autoritäre Führung und Rücksichtslosigkeit vorgeworfen, es wurde unverblümt von Machtsucht gesprochen. Für diejenigen, die keinen unmittelbaren Kontakt mit ihm hatten, war Bertrams Karriere zu glatt, zu steil verlaufen, ein weiterer Grund zur Zurückhaltung. Eine Einstellung, die von Bertrams Freunden als Neid abqualifiziert wurde.

Dann gab es noch das Gerede über Bertram:

»Als er herkam, war er ein Niemand. Damals wimmelte es in der Klinik von jungen Ärzten, wie er es war, Sie verstehen, wie ich es meine, meine Liebe. Menschen, deren Bedeutung über eine Straße nicht hinausreicht.«

»Der Alte soll ihm nach Ablauf seiner Probezeit den Vertrag verweigert haben, aber die Tochter …«

»Ich sage Ihnen, alles Machenschaften, Intrigen. Seine Freunde schleuste er systematisch in Schlüsselpositionen, den Pathologen Thimm zum Beispiel. Thimm hatte nie das Zeug für einen Hochschullehrer.«

»Bertram war von einer erschreckenden Unruhe besessen.«

An diesem Morgen wachten sie auf zwischen fünf und sieben, die Menschen, deren Alltag mit der internen Klinik verbunden war; für die einen flüchtig und vorübergehend, für die anderen endgültig.

Als erste erwachte Schwester Leopoldine Stein nach einem verworrenen Traum, in dem eine junge, quittegelbe Frau vorkam. Sie forschte in ihrem Gedächtnis nach und dachte betrübt: ›Ich kann von ihrem Gesicht nicht loskommen.‹ Im Bad massierte sie ihre Brüste; sie war deprimiert.

Als zweiter wurde Dr. Fritsch wach, an der Seite seiner Frau, die mit dem Schlaf der Neunzehnjährigen nicht merkte, welche Hölle er durchmachte. Mit nackten Storchenbeinen ging er ins Bad, während sich seine Gedanken nach der kurzen Unterbrechung durch den Schlaf wieder auf ein einziges Wort einstimmten: Mörder, Mörder …

Als der Pathologe Professor Thimm, Bertrams Intimus, an diesem Morgen aufstand, bekam er einen Hustenanfall. Er würgte eine Weile, bevor er einen zähen, schaumigen Schleim ins Waschbecken spie. Wer wußte besser als er, wie die Lunge eines Rauchers aussah. Er hatte an diesem Morgen eine Obduktion durchzuführen, bei der es um Millionen ging. Fände er bei dem Verstorbenen, wie vermutet, einen Hirntumor, würden seine rechtmäßigen Erben das Testament anfechten. Er mußte diese Frau – sie war seine Geliebte – gehaßt haben, weil er ihr so viel Geld hinterlassen hatte.

Beim Frühstück – Montag war sein Herrenabend – bemerkte der Ingenieur Erwin Schönhage zu seiner Frau Lisa: »Heute wird es spät. Macht es dir was aus?«

»Nein«, log Lisa, während sie bemüht war, Erwins Heuchelei als ein unausweichliches Übel zu betrachten. Daraus setzte sich das ganze Leben zusammen, aus einer Unzahl unausweichlicher Übel. ›Ich werde hoffentlich nicht heute meine Tage kriegen‹, ging es ihr durch den Sinn.

Bertram verschlief die frühe Morgenstunde. Endlich aufgewacht, versuchte er vergeblich, sich auf die Finanzierung des Ausbaus der Intensivstation zu konzentrieren. Nach einer durchfeierten Nacht beunruhigte ihn der für einen Klinikchef merkwürdige Gedanke: Auf dem Weg zum Erfolg verliert man die Liebe.

Der Chefarzt
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