Antonio Dellonga:
Ein deutscher Herr werden.

1

Der Patient Nr. 8 der internen Intensivstation, Antonio Dellonga, ist nicht tot. Am zweiten Tag bessert sich sein Zustand, er nimmt etwas Griesbrei zu sich und lächelt Schwester Leopoldine Stein, die ihm den Löffel in den Mund führt, dankbar an.

Sein Zustand bereitet jedoch den für die Intensivstation zuständigen Ärzten Kopfzerbrechen. Der Patient, der längst seinen Schock überwunden hat, leidet ständig unter einer überhöhten Herzfrequenz, die allen Medikamenten zum Trotz unbeeinflußbar bleibt. Hin und wieder bekommt er Herzrhythmusstörungen, für die sich keine plausible Ursache findet. Weil diese Rhythmusstörungen in immer kürzer werdenden Abständen auftreten, läßt man, um sich den Weg zu Antonios Blutbahn offen zu halten, den Venenkatheter weiter liegen.

So vergehen die Stunden. Ereignislos. Die flimmernde Herzkurve auf dem Bildschirm des Monitors über seinem Kopf zeigt ermüdend dieselben Schwingungen. Der Kranke stöhnt etwas, dann wird er still. Er schläft, wacht auf, öffnet die Augen und starrt auf die Decke mit einem strengen, abwesenden Blick. Dann lächelt er etwas, als ob er in die Vergangenheit lauschen würde – ein kleiner, schmächtiger Italiener mit flinken Olivenaugen und dem spröden Charme mehrerer Generationen von Hafenarbeitern.

Mit sieben Jahren schwimmt Antonio Dellonga im Hafen von Neapel.

»Tonio«, schreien die großen Buben, »dich frißt ein Fisch.«

»Ich hab' keine Angst. Ich werde Kapitän.«

Das Wasser ist ölig-grau, schwer und liegt ihm im Magen wie Blei. Aber er schluckt es, weil es seinen Hunger stillt. Die ganz großen Passagierschiffe laufen in Neapel ein. Es gibt Musik und Konfetti, Matrosen in ihren adretten Uniformen und Offiziere, die diese Matrosen kommandieren. Es gibt schöne Frauen, dunkle Frauen, blonde Frauen, deutsche Frauen. Es gibt einen Kapitän, der alle kommandiert: die Matrosen und die Offiziere. Das Schiff gehört ihm. Und die Frauen – große blonde Ragazze mit runden Busen und schamlosen, neugierigen Augen.

Ich will viele Frauen haben, deutsche Frauen. Wenn ich einmal groß bin.

»Tonio kann Koffer tragen, Signora! Tonio sehr stark.« (Er versucht, bei einem rührend dünnen Kinderarm den Bizeps anzuspannen.)

Die Koffer sind schwer. Er keucht. Hat die Ragazza Steine da drinnen? »Grazie, Signora, mille grazie!« Fünfzig Lire, Madonna. Daraus wird eine Eisorgie.

Tonio ist ein guter Sohn. Mit neun arbeitet er in der Bäckerei von Giancarlo Mantovani. Signor Mantovani ist ein gemütlicher Dickwanst, und Tonio darf sich den ewig hungrigen Bauch mit Brot vollschlagen. Jede Nacht steht er um zwei Uhr auf. Seine Muskeln schwellen an vom ewigen Teigkneten, nach zwei Jahren hat er die Oberarme eines Boxers. Tonio spielt mit seinen Muskeln und kneift Franca, der elfjährigen Tochter Giancarlos, bei jeder passenden Gelegenheit in den Hintern. Er ist satt und kann sich etwas Taschengeld ersparen; so ein Leben läßt sich aushalten. Mit sechzehn läuft er von zu Hause weg. Tonio ist ein guter Sohn, aber er will kein Hafenarbeiter werden. Der Vater stößt wilde Beschimpfungen aus, die Mutter weint.

›Ich will kein Hafenarbeiter werden‹ (längst aufgegeben, den Kapitänstraum). Er findet eine Stelle als Aushilfskellner in einer Bar.

Tagsüber geht er mit seinen Freunden am Strand spazieren. Schöne Frauen, blonde Frauen. Tonio und seine Freunde sind wie ein Rudel junger Wölfe. Papagalli, sagen die Frauen, deutsche Frauen, schwedische Frauen. Mit seinen Landsmänninnen kann er nicht viel anfangen. Die italienischen Mädchen sind zu katholisch, sie nehmen die Pille nicht.

Papagallo gut, sagen die blonden Frauen.

Nachts ist es am Strand stockdunkel. Tonio drückt zwei glatte, kühle Schenkel um sich, das Meer rauscht, pssst … pssst.

»Tonio sehr stark, Signora.«

Pssst … Pssst.

Mit einundzwanzig betreibt er eine Pizzeria in einer mittelgroßen westdeutschen Universitätsstadt. Die Studentinnen essen gerne Pizza. Schöne Frauen.

Damit ist ein für allemal Schluß. Hinter der Registrierkasse sitzt hochschwanger mit Adleraugen Sigrid Dellonga, Antonios deutsche Frau. Es ist ihre dritte Schwangerschaft. Der Schwiegervater hat das Betriebskapital für die Pizzeria beigesteuert.

»Tonio«, sagt Frau Sigrid, »was hast du im ›Goldenen Hirsch‹ verloren? Es ist nur ausländisches Gesindel, was da zusammenkommt, schmutzige Makkaronifresser.« Antonio trägt zur Sonntagsmesse weiße Hemden. Er fährt einen Ford.

»Pizza Napolitana? Ja, Herr.«

»Piccata Milanese! Bitte sehr.«

»Tonio«, sagt Frau Sigrid, »wir müssen in diesem Monat etwas mehr beiseite legen. Für die Hochzeit.«

»Si.« (Sie wollen noch kirchlich heiraten. Als sie standesamtlich getraut wurden, war Egon, der erste Bambino – nach dem Schwiegervater getauft –, schon acht Monate unterwegs). Hinterher wird die Frau wieder schwanger, es schlägt bei ihr gleich ein. Inzwischen haben sie genug gespart, um standesgemäß zu heiraten. Er möchte sich eine große Hochzeit leisten. In Neapel. Seine Leute werden Augen machen.

»Schmatz nicht«, sagt Frau Sigrid. »Nimm deine Ellenbogen vom Tisch! Hattest du mir nicht versprochen, die Makkaronifresser nicht mehr hierher einzuladen?«

»Si.« (Er lädt sie nicht mehr ein.)

Er möchte ein deutscher Herr werden.

Der Chefarzt
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