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»… und Sie dürfen die Rose nicht vergessen.«

»Was für eine Rose?«

»Zur Feier des Tages!« Bertrams Sekretärin zog ihren Notizblock zu Rate. Es stimmte, heute war sein Hochzeitstag. »Der siebte«, fügte sie sicherheitshalber hinzu.

Er nickte. Gewohnheitsmäßig sah er auf die sachlichen Bewegungen ihrer Finger und konnte sich nicht vorstellen, wie sie eine Rose entgegennahmen. Sein Stimmungswechsel an diesem Tage – von der Gereiztheit am Vormittag zu einer ungewohnten Ruhe – erweckte in ihm den Verdacht ungerechtfertigter Resignation. Eine Weile überfiel ihn das Gefühl, auf Widerruf zu leben, und argwöhnisch schaute er auf die Haut seines Handrückens. Sie begann, fleckig zu werden. Es war sinnlos, sich in der Hektik eines noch lange nicht beendeten Tages Gemütsregungen hinzugeben, während die Welt um ihn voller ungelöster Aufgaben war. Frauen und Männer lagen im Sterben, eine Zugehfrau hatte ihren Mann verloren, Stationsärzte warteten auf ihn, die Zeit für die Sprechstunde war wieder zu knapp oder die Patienten zu viel, die Sitzung des Fakultätskollegiums.

»Heute nicht«, befahl er seiner Sekretärin, die fortfuhr, die restlichen Termine mit ihm abzustimmen. Nach ihrer Berechnung wäre eine Verspätung von drei Stunden – es war fünf Uhr – noch einzuholen.

»Eine Stunde Fakultätskollegium kommt uns zugute«, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr. »Wenn Sie auch noch auf die Assistentenbesprechung verzichten …« Sie überflog nochmals die Termine. »Dr. Fritsch ist zu einer Unterredung um achtzehn Uhr vierzig eingetragen, etwas Persönliches. Das hat Zeit. Um neunzehn Uhr kommt Staatssekretär Klose, er hält Sie immer lange auf, der Mann hat kein Zeitgefühl.«

»Kein Zeitgefühl«, wiederholte Bertram mechanisch. »Er will an keinem Augenblick des Tages auf seine eigene Bedeutung verzichten. Was kommt noch?«

»Feierabend«, sagte die Sekretärin. Eigenmächtig hatte sie zwei wichtige Termine auf den nächsten Tag verschoben. Sie erwähnte es mit keinem Wort. Er sollte nur, was sie bezweifelte, rechtzeitig zu seiner Feier kommen. Sie nahm sich vor, dem Chauffeur einzuschärfen, ihm die Rose in die Hand zu drücken.

Kurz vor sechs fiel das ganze Überwachungssystem der Intensivstation durch einen Computerschaden aus. Man holte Bertram. Um sechs Uhr zwanzig war er immer noch nicht zurück, und die Sekretärin entschloß sich, weiter hierzubleiben. Durch den Zwischenfall kam eine neue Verspätung hinzu, neue vierzig Minuten. Bekümmert dachte sie an die drei Patienten, die seit zwei Uhr im Wartezimmer saßen. Vielleicht ließ sich jemand überreden, morgen wiederzukommen. Wenigstens einer, dachte sie, als sie sich vor der Tür ein Lächeln zurechtlegte.

Um halb acht saß immer noch Staatssekretär Klose Bertram gegenüber, er hatte sich festgeredet. Es half nicht, daß sie mit der Unterschriftenmappe beharrlich zu stören versuchte. Sooft sie auch hineinging, er weigerte sich, ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.

Obwohl sie immer wütender wurde, war ihr erstes, instinktives Gefühl, als sie Fritschs Gesicht in der Tür sah, Mitleid.

Wie sie ihn kannte, hatte er geklopft, sich nicht hereingetraut und war froh gewesen, diesen Augenblick hinauszuschieben.

»Sie kommen zu spät«, sagte sie mit schlechtem Gewissen.

»Ich hab' die ganze Zeit draußen gewartet.«

»Das hätte ich wissen müssen.«

»Sie haben es mir fest versprochen«, erinnerte er sie.

In diesem Augenblick läutete das Telefon, und eine aufgeregte Schwesternstimme sagte: »Der Chef wird auf der Privatstation dringend gebraucht …«

»Also gut«, sagte sie zu Fritsch, »wenn wir heute abend nicht vom Fleck kommen, bestimmt nicht Ihretwegen. Warten Sie.«

Fritsch stieß die Türe zu einem fensterreichen Zimmer auf, dessen Einrichtung so erlesen und dessen Farben so vollkommen abgestimmt waren, daß er in einer unwiderstehlichen und törichten Erwartung nach einem Konzertflügel suchte. Natürlich war keiner da.

In Bertrams Zimmer gab es keine dunklen Ecken und keine Zuflucht vor dem weichen, sanften Licht, das aus mehreren Stehlampen und einer indirekten Deckenleuchte alles überflutete. Er versuchte, den Sessel von dem Schreibtisch etwas wegzurücken, während er sich des Blicks des Klinikchefs durchaus bewußt war. Schließlich setzte er sich mit der übertriebenen Demut eines Menschen, der jederzeit bereit war, in den Hintergrund zu treten.

»Wie Sie wissen, führe ich die Frauenstation schon eine Weile in eigener Regie«, begann Fritsch, und sein Herz schlug schneller. Das ›in eigener Regie‹ war falsch und nun nicht wiedergutzumachen.

Er wagte einen Sprung ins Wasser: »Ich bitte Sie um die Ernennung zum Stationsarzt.« Sehr zu seinem Erstaunen löste diese Bitte bei Bertram keinen Unwillen aus.

»Warum nicht«, war seine Antwort, »ein durchaus legitimer Wunsch.« Er behandelte ihn jetzt nicht mit der arroganten Höflichkeit, die er seinen Mitarbeitern bei den Visiten entgegenbrachte. Fritsch begann zu begreifen, daß er den anderen Bertram vor sich hatte: aufgelockert, kollegial und großzügig.

Ein Gefühl von seltsamer, nervöser Intensität vibrierte in seiner Brust. Er merkte nicht, daß es das Gefühl des Erfolges war, und versäumte den Augenblick, süchtig danach zu werden. Er beschied sich mit dem einfacheren Gefühl der Erleichterung, als Bertram sagte: »Sie verstehen, daß ich mir in so einem Fall etwas Bedenkzeit genommen habe. Meine Entscheidung entspricht Ihrem Wunsch.«

Um seine Überschwenglichkeit zu unterdrücken, begann Fritsch zu lächeln und erwiderte förmlich: »Um Ihrem Vertrauen gerecht zu werden …« Er wußte nicht einmal, ob er diesen Satz beendet hatte. ›Wie recht sie haben‹, dachte er und meinte die, die Bertram als menschlich und verständnisvoll bezeichneten. Fritsch befand sich in einer Verfassung, in der er nur Gutes von ihm glaubte. Auch wenn man beharrlich erzählte, dann und wann würde Bertram trinken, bis er die Sinne verlor.

»Halt, die Rose«, sagte die Sekretärin im Vorzimmer. Es war viertel elf. Sie hatte Handschuhe an und hörte das Geräusch des abfahrenden Wagens.

Im weichen Autositz spürte Bertram seine verspannten Muskeln, wieder meldete sich sein schmerzendes Kreuz. Er war mit Malvina in einem kleinen Restaurant verabredet, einem Ort, der einmal eine Bedeutung hatte, als sie noch frisch verliebt waren. Inzwischen war Malvina daran gewöhnt, auf ihn zu warten. Er versuchte sich vorzustellen, wieviel Martinis sie bereits getrunken hatte.

Der Chefarzt
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