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Was zu Lisas weiterer Verwirrung beitrug, war zweifellos dieses unheimliche Krankenzimmer. Zutiefst unglücklich lag sie in ihrem Bett und spürte, wie sie immer niedergeschlagener wurde. Sie war hergekommen, weil sie Zuflucht vor Erwins Verrat suchte – nun sagte man ihr auf den Kopf zu, daß sie einen Bauchtumor hätte. Alles, was sie brauchte, war ein Halt, eine verständnisvolle Geste, ein nettes Wort; statt dessen steckte man sie in dieses Zimmer.
Von ihrem Bett aus sah Lisa in der Reihe des mageren Mädchens und der blaugesichtigen Frau noch zwei weitere Frauen mit breiten, slawischen Gesichtern, die schon eine Weile mucksmäuschenstill in ihren Betten lagen und gleichmütig auf die Bettdecke starrten.
Im schmalen Gang zwischen den Bettreihen ging eine Türkin unentwegt auf und ab. Vor sich trug sie einen Plastikbeutel, der mit einem Katheter an ihre Harnblase angeschlossen war. Vor Lisas verblüfften Augen füllte sich dieser Beutel mit bernsteinfarbenem Urin.
Einmal blieb sie vor Lisas Bett stehen und sagte bedeutungsvoll: »Ich krank, du krank!« Dann ging sie weiter. »Die spinnt«, bemerkte Lisas rothaarige Nachbarin. Trotz ihres hochmütigen Blicks erwies sie sich als äußerst gesprächig. Sie gab sichere Urteile ab, von denen Lisa etliche zu hören bekam. So erfuhr sie, daß ihre Bettnachbarin siebenundzwanzig Jahre war und seit fünf Monaten im Krankenhaus lag. Ihr Name – sie hieß Fräulein Mörder – erschien Lisa seltsam, sie hatte Hemmungen, sie mit ›Fräulein Mörder‹ anzusprechen.
Jetzt fügte sie auf Lisas fragenden Blick hinzu: »Nierenkranke werden oft am Schluß verwirrt, weil die kranke Niere die Giftstoffe nicht ausscheidet.« Ob es stimmte oder nicht, Lisa erschien es einleuchtend.
»Dr. Fritsch ist ein schöner Mann, aber eine Niete«, erklärte Fräulein Mörder. »Von Medizin versteht er nichts.«
»Sie meinen«, Lisa spürte neue Hoffnung in sich aufsteigen, »es wäre möglich, daß er sich geirrt hat?«
»Jede Wette. Er ist für seine Fehldiagnosen berühmt …«
Leider währte Lisas Hoffnung nicht lange. Bald kam Dr. Fritsch in Begleitung eines anderen Arztes wieder, den er anscheinend zu Hilfe gerufen hatte. Es war der Stationsarzt der Männerstation, Dr. Ohlhaut, und nach Fräulein Mörders Meinung, die in eine sonderbare Aufregung geriet, ein irrer Typ.
Dr. Ohlhaut drückte wie sein Kollege Fritsch auf Lisas Bauch, nur war sein Griff sicherer und seine Hände warm. Fritschs Diagnose Bauchtumor bestätigte er. Von Lisas Beteuerungen, sie habe keine Beschwerden, unbeeindruckt, sagte er zu Fritsch: »Zweifelsohne Nieren- oder Dickdarmtumor. Wir fangen am besten schon morgen mit der Röntgenkontrastuntersuchung der Nieren an. Den Breieinlauf verschieben wir auf später, damit wir uns die Nierenuntersuchung nicht verbauen.«
Auf Lisas schüchternen Versuch, um ihre Entlassung zu bitten, antwortete er kurz: »Kommt nicht in Frage.« Als er weggegangen war, hinterließ er eine Atmosphäre von Autorität und Ehrfurcht, die Fräulein Mörder zu der Äußerung veranlaßte: »Der Junge ist ein Frauenhasser.« Jetzt tat sie so, als ob ihre Voraussage über Lisas Erkrankung mit Dr. Ohlhauts Meinung völlig übereinstimme. Sie sprach von Lisas Nierentumor wie von etwas Feststehendem und brillierte mit ihren medizinischen Kenntnissen. Sie behauptete, daß der Mensch mit einer Niere genausogut leben könne, und beschrieb Lisa zwei verschiedene Operationsvorgänge, um die Niere zu entfernen. Die Art, wie sie sprach, ließ den Verdacht aufkommen, Lisas Operation sei für sie eine beschlossene Sache.
Von sich erzählte sie bereitwillig, sie leide an einer seronegativen PCP, äußerst therapieresistent, wie sie stolz bemerkte, die den Ärzten Kopfzerbrechen bereite. Man hätte eine ganze Weile auf der Stelle getreten, dann wäre Professor Bertram nach zweimonatiger Abwesenheit zurückgekehrt und habe ihr Cortison gegeben; seitdem ginge es ihr besser. Toll, wie er das gemacht habe, und als Mann wäre er das Nonplusultra.
Von alldem verstand Lisa nur, daß ihre Bettnachbarin an einer Art Rheuma litt. Wieder fielen ihr die verdickten Finger auf.