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Im Schock wird die Haut blaß, die Atmung flach und beschleunigt, es schalten sich allerlei reflektorische Mechanismen ein. Das Herz rast, der Puls ist kaum spürbar, es kommt zu einem lebensbedrohenden Blutdruckabfall. Der Kranke schwitzt kalt, er übergibt sich und wird von einem Schwächegefühl und zunehmender Teilnahmslosigkeit übermannt.
Schwester Rosemarie Schwarz kam noch zur rechten Zeit, um den Gastarbeiter Antonio Dellonga aus der Rumpelkammer zu befreien. Ihre kurze Abwesenheit war unentdeckt geblieben. Sie fuhr Dellonga in die Unfallambulanz zurück, wo endlich seine Wunden genäht wurden, dann fuhr man ihn auf die Station. Auf dem Weg dorthin bekam Antonio Dellonga einen Schock. Weil die chirurgische Intensivstation belegt war, wurde er auf die interne Intensivstation umdirigiert.
Auf der internen Intensivstation verständigte die Nachtwache, Schwester Leopoldine Stein, die diensthabende Internistin, die gleich darauf erschien. Und da Antonios Venen durch den Blutdruckabfall nicht mehr auffindbar waren, entschloß sie sich zu einer Punktion der Schlüsselbeinvene.
Es war eine richtige Entscheidung. Die Internistin – eine derbe rotblonde junge Frau mit großen Händen – betastete mit Zeige- und Mittelfinger Antonios Schlüsselbeinvene und führte mit einer kurzen, gekonnten Bewegung die Punktionskanüle ein. Durch die Kanüle schob sie den Venenkatheter langsam vor bis zur angebrachten Markierung, dann schloß sie das freie Katheterende an eine Infusionsflasche an, während Schwester Leopoldine Stein vergeblich nach Heftpflaster suchte. Sie fand schließlich eine Leukoplastrolle, die vergessen auf dem Heizungssims lag. Leopoldine Stein schnitt vier zweieinhalb Zentimeter lange Streifen ab, mit ihnen fixierte die Internistin den Katheter auf der Haut. Die ganze Angelegenheit nahm kaum einige Minuten in Anspruch. In Antonios Adern lief die lebensrettende Flüssigkeit, bald bekam sein Gesicht etwas Farbe, ein Zeichen, daß der Blutdruck sich besserte. Später überzeugte sich die Ärztin von der richtigen Lage des Katheters, sie zog ihn etwas zurück, um zu prüfen, ob das Heftpflaster fest hielt. Dann ging sie schlafen.
In der Nacht löste sich der Katheter von den Klebestreifen – das Leukoplast hatte durch die Wärmeeinwirkung auf dem Heizungssims seine Klebefestigkeit verloren.
Einmal freigeworden, rutschte der Katheter in die Vene, vom Blutstrom hineingezogen; die Katheterspitze gelangte durch die obere Hohlvene in den Vorhof des Herzens und von dort in die Herzkammer. Bald schlug das Herz der Katheterspitze entgegen, bei jedem Herzschlag mit voller Kraft. Langsam begann die Herzhaut an dieser Stelle ihren Glanz zu verlieren, sie wurde rauh, dann bohrte sich die Katheterspitze durch sie hindurch, jetzt schlug ihr der ungeschützte Herzmuskel entgegen, hundertdreißigmal in der Minute. Wann die Katheterspitze das Herz durchbohrte, war nur noch eine Frage der Zeit.