8

An der Universität gab es eine Gruppe Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen, die versuchten, menschliche Tumore auf Tiere zu übertragen, um die Reaktion dieser bösartigen Geschwulste auf Medikamente und auf Strahlenbehandlung zu prüfen. Sie wollten ohne Belastung des Patienten die Empfindlichkeit der individuellen Geschwulst bestimmen. Nach längeren Versuchen gelang das Experiment bei einem besonderen Laborstamm, den sogenannten thymuslosen ›Nacktmäusen‹. Die Versuchstiere verloren ihre Fähigkeit, Fremdgewebe abzustoßen, nach der Übertragung wuchs das Geschwulstgewebe zu einem respektablen Tumor heran.

Der Initiator dieser Arbeitsgruppe, die sich ›Tumortransplantationen‹ nannte, war Stephan Thimm. Am Anfang schlug er Bertram als Mitarbeiter vor, die anderen sprachen sich dagegen aus, man zog einen anderen Internisten hinzu. Dieser Vorgang hatte Bertram zutiefst betroffen, er glaubte, die meiste Erfahrung bei der Tumorbehandlung zu besitzen. Im stillen gab er Stephan die Schuld.

Er selbst gestand sich ungern ein, daß ihm wenig Zeit für wissenschaftliche Arbeit blieb. Den Gedanken, daß er seit Jahren keine einzige Zeile mehr allein schrieb, verdrängte er. Ungeachtet dessen erschien sein Name auf immer mehr wissenschaftlichen Publikationen. Er, der einmal mit Empörung auf einen ähnlichen Vorschlag von Justin Holländer reagiert hatte, tat jetzt das gleiche in großem Rahmen. Es passierte, daß er nicht mehr dazu kam, die fertige Arbeit zu lesen, er gab sich mit einer kurzen Zusammenfassung zufrieden. Oft wußte er nicht einmal genau, an welchen wissenschaftlichen Publikationen er zu gleicher Zeit beteiligt war; immer jedoch stand sein Name oben.

An einem Wochentag, als die Boulevardpresse die Story der Gruppe ›Tumortransplantationen‹ aufgegriffen hatte, suchte Bertram Stephan auf.

Ein Bild von Thimm mit einer thymuslosen Nacktmaus ging durch sämtliche Tageszeitungen, ein großer, hagerer Thimm, der auf das Versuchstier sah. Neun Wochen nach der Übertragung einer menschlichen Brustgeschwulst wies die Maus einen Tumor von fünf Zentimetern Durchmesser auf. Diese Geschichte ließ in Bertram die alte Verbitterung wieder aufkommen, erneut fühlte er sich von Stephan übergangen.

In der Pathologie angelangt, sprach ihn eine Schwester an: »Professor Thimm erwartet Sie in seinem Arbeitszimmer, Herr Professor.« Ihr Gesicht kam ihm bekannt vor. Auf seine Frage lächelte sie freundlich. »Ich habe an drei Abenden Ihre Sekretärin vertreten, zuletzt war ich auf der Intensivstation, als der junge Italiener starb. Mein Name ist Leopoldine Stein.«

»Jetzt erinnere ich mich«, sagte Bertram kühl. Antonios Erwähnung rief jedesmal ein Unbehagen in ihm hervor. Als er bei Stephan anklopfte, hatte seine Stimmung an diesem Tage ihren Tiefpunkt erreicht.

In Stephans Arbeitszimmer herrschte die ihm bekannte Unordnung, er mußte über gestapelte Bücher und Formalingefäße steigen, die Fenster waren zu, es roch abgestanden.

»Setz dich«, brummte Thimm schlecht gelaunt, »die ganze Welt spricht von deinem Detektivspielchen. Willst du in die Zeitung kommen?«

»Wohl kaum, die Nacktmäuse sind gefragter, mehr als mein schwacher Versuch, nach menschlichen Fehlern zu suchen.«

»Wie suchst du danach? Indem du im Operationssaal den Sherlock Holmes spielst? Ich frage mich, ob du dir der Tragweite dessen, was du tust, bewußt bist. Du kannst dir denken, was sich nach deinem Fragespiel ereignet hat. Es kursieren bereits wilde Gerüchte. Es muß was passiert sein, sagen alle, wenn Bertram persönlich … zum Teufel, die Universität ist ein Dorf!«

»Auch in einem Dorf darf man ein paar Fragen stellen.«

»Es kommt darauf an, wer die Fragen stellt und was für Fragen! Niemand spricht von Violet Girstenbrey, alle sprechen von Karen.«

»Ich habe keinen Namen genannt.«

»Das ist es ja. Hier gibt es immer einen, der sich noch an Karen erinnert und daran, daß du mit ihr verlobt warst. Die Story ist wieder perfekt.«

»Was meinst du mit ›wieder‹?«

»Himmelherrgott, hast du vergessen, was damals los war? Die Zeitungen und das ganze Drumherum, die Briefe von den Hausfrauen, die Welt hatte plötzlich ihr zerbrochenes Herz entdeckt. Du warst der Held und Karen bekam eine Statistenrolle …«

»Du mußt sie sehr geliebt haben«, sagte Bertram. Er war über seine Äußerung selbst überrascht.

»Was kümmert dich das?« sagte Stephan grob. »Du hast dich auch früher nicht darum gekümmert.«

»Du hast sie geliebt«, wiederholte Bertram, von einem inneren Zwang getrieben, »gib es zu. Du warst die ganze Zeit in sie verliebt, und als ich dich neulich fragte, warum du nicht geheiratet hast …«

»Halt den Mund.« Drohend hob Stephan seine Fäuste und wollte aufspringen.

»Du wirst heftig, daran bin ich nicht gewöhnt«, sagte Bertram mit seltsam gespielter Ruhe, die so wenig zu diesem Augenblick paßte, und wieder trieb es ihn zu sagen: »Du hast Karen über alles geliebt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto größer werden die Ungereimtheiten. Die Girstenbrey-Geschichte geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Um nur ein Beispiel zu nennen: Violets Tumor hatte einen Durchmesser von einem Zentimeter, von ihm wurden dreizehn Schnitte angefertigt, von Karens Knoten, der kaum einen halben Zentimeter hatte, viel mehr. Laß mich ausreden. Ich weiß, du wirst dafür eine Erklärung haben, wir sind in diesem Spiel von Argumenten und Gegenargumenten geübt. Ich sprach von Ungereimtheiten. Vielleicht war es auch gar kein Fehler!«

»Du wagst …«

»Ich frage mich, ob du nicht nachgeholfen hast. Vielleicht hatte Karen gar keinen Krebs, nur Violet, und du hast die Präparate vertauscht. Nicht, um sie zum Selbstmord zu treiben, vielleicht wolltest du nur unsere Hochzeit verhindern …«

Thimm war aufgesprungen und wollte sich auf ihn stürzen, als er plötzlich stehenblieb und an sein Herz griff. Er schwankte, stützte sich auf den Schreibtisch und sank zu Boden.

Der Chefarzt
content001.xhtml
content002.xhtml
content003.xhtml
content004.xhtml
content005.xhtml
content006.xhtml
content007.xhtml
content008.xhtml
content009.xhtml
content010.xhtml
content011.xhtml
content012.xhtml
content013.xhtml
content014.xhtml
content015.xhtml
content016.xhtml
content017.xhtml
content018.xhtml
content019.xhtml
content020.xhtml
content021.xhtml
content022.xhtml
content023.xhtml
content024.xhtml
content025.xhtml
content026.xhtml
content027.xhtml
content028.xhtml
content029.xhtml
content030.xhtml
content031.xhtml
content032.xhtml
content033.xhtml
content034.xhtml
content035.xhtml
content036.xhtml
content037.xhtml
content038.xhtml
content039.xhtml
content040.xhtml
content041.xhtml
content042.xhtml
content043.xhtml
content044.xhtml
content045.xhtml
content046.xhtml
content047.xhtml
content048.xhtml
content049.xhtml
content050.xhtml
content051.xhtml
content052.xhtml
content053.xhtml
content054.xhtml
content055.xhtml
content056.xhtml
content057.xhtml
content058.xhtml
content059.xhtml
content060.xhtml
content061.xhtml
content062.xhtml
content063.xhtml
content064.xhtml
content065.xhtml
content066.xhtml
content067.xhtml
content068.xhtml
content069.xhtml
content070.xhtml
content071.xhtml
content072.xhtml
content073.xhtml
content074.xhtml
content075.xhtml
content076.xhtml
content077.xhtml
content078.xhtml
content079.xhtml
content080.xhtml
content081.xhtml
content082.xhtml
content083.xhtml
content084.xhtml
content085.xhtml
content086.xhtml
content087.xhtml
content088.xhtml
content089.xhtml
content090.xhtml
content091.xhtml
content092.xhtml
content093.xhtml
content094.xhtml
content095.xhtml
content096.xhtml
content097.xhtml
content098.xhtml
content099.xhtml