Johannes Bertram und
die Macht über den Tod

1

Er hat keine Geschwister. Seine Kindheit ist behütet, er selbst – ein zurückhaltendes Kind, das altklug wirkt – flüchtet sich in Träume. Seine Phantasie ist unerschöpflich, die Geschichten, die er sich ausdenkt, haben unausweichlich einen strahlenden Helden: Johannes Bertram.

Die Familie ist fromm. Das Gepränge der Sonntagsmesse, Kerzengeruch, die Provinzhonoratioren, Sonntag für Sonntag. Die Apothekersfrau ist jung und hat ein vorspringendes Gebiß mit starken, weißen Zähnen, er muß sie immerzu anschauen; der Pfarrer, der dem Wein zugetan ist und leidenschaftlich Schafkopf spielt, wirkt jetzt erhaben.

In der Predigt hört er die Geschichte der zwei Blinden von Jericho: »Und als sie aus Jericho hinauszogen, folgte ihm eine Volksschar. Und siehe, zwei Blinde saßen am Weg. Als sie hörten, daß Jesus vorüberkomme, schrien sie: ›Herr, erbarme dich unser, Sohn Davids!‹ Die Leute aber fuhren sie an, sie sollten schweigen. Sie aber schrien noch lauter: ›Herr, erbarme dich unser, Sohn Davids!‹ Da blieb Jesus stehen, rief sie herbei und sprach: ›Was wollt ihr, das ich euch tun soll?‹ Sie antworteten ihm: ›Herr, daß unsere Augen aufgetan werden.‹ Da berührte Jesus, von Mitleid ergriffen, ihre Augen, und gleich sahen sie wieder und folgten ihm nach.«

»Eine schöne Predigt, Johannes!« sagt seine Mutter.

»Ja. Ist Gott stärker als der Tod, Papa?«

»Stärker als der Tod? Ja, gewiß …«

»Aber dann …«, hier zögert er etwas, »warum hat er seinen Sohn sterben lassen?«

»Nun …«

»Du sollst deinen Vater nicht ständig fragen«, sagt die Mutter streng.

»Ist ein Zauberer stärker als der Tod?«

»Unsinn. Niemand ist stärker, wir alle sind sterblich!«

»Und ein Arzt? Hat er Macht über den Tod?«

»Ein Arzt hat Macht über die Krankheit. Nur Gott hat Macht über den Tod.«

»Eine wunderbare Predigt«, sagt die Mutter.

»Ja, Mama.«

Es folgt die Pubertät und die Melancholie später Frühlingsabende; die Frage nach der Unsterblichkeit der Gefühle. Die Liebe avanciert zur Königin. Es ist eine Stimmung, die bald von unerklärlichen Widersprüchen abgelöst wird, eine fortwährende Unzufriedenheit.

Die Mutter ist beunruhigt. »Cornelius«, sagt sie zu ihrem Mann, »ich mache mir Sorgen um Hannes. Der Junge ist seltsam, ganze Tage steht er tatenlos herum, spricht kein Wort. Es ist zum Fürchten, du solltest dich mit Dr. Clausewitz aussprechen.«

»Was der Hannes jetzt braucht, ist nicht der alte Clausewitz, Rosa. Er ist ein Junge mit ausgeprägter Gefühlswelt, manchmal heftig, gebe ich zu. Bis jetzt hat er sich tapfer geschlagen. Laß nur, er wird allein mit sich fertig.«

Er verändert sich schnell.

Er liest viel und diskutiert leidenschaftlich, wenn sich die Möglichkeit dazu ergibt. In seiner kleinstädtischen Provinzwelt ist das nicht so selbstverständlich.

»Das Schlimme mit uns Deutschen ist«, sagt zu ihm ein zugereister Journalist, den er bei einer Abendgesellschaft anspricht, »wir sind zu vertrauensselig, wir machen jede fremde Weisheit bereitwillig zu unserer eigenen. Wir lassen uns Komplexe einreden, statt sie mit einem Körnchen Vorsicht aufzunehmen.«

Diese Ausführungen kommen Hannes Bertram zu glatt und leicht vor, anscheinend ist es ein geläufiger Gesprächsstoff für den Journalisten.

Er selbst bleibt eine Antwort schuldig, das Thema ist ihm fremd. In seinen Gedanken ist er noch nicht so weit vorgedrungen.

Zu dieser Zeit nehmen ihn zwei Wahrheiten völlig in Anspruch.

Wahrheit Nummer eins: »Wir sind alle mäßig genug.« Die Vorstellung, daß dieses ›wir‹ auch seine eigene Person beinhaltet, raubt ihm die Ruhe. Er ist fest entschlossen, wie sein Vater ein einfaches Leben zu führen, in Genügsamkeit und Würde, dennoch, mäßig möchte er nicht sein.

Die zweite Wahrheit ist: »Wir sind alle unecht.«

Um herauszufinden, was falsch ist, braucht er Wissen. Er sagt sich: ›Seit Jahrhunderten tun die Menschen immer dieselben Dinge, die sie schlecht und unrecht finden und über die sie sich beklagen. Die bürgerliche Moral ist falsch, die Kirche hat ihre Schuldigkeit getan. Die Ideologen bezeichnen die Religion als Opium für das Volk. Das hindert sie nicht daran, im selben Atemzug ihre eigene Lehre wie eine Religion zu verehren.‹

Er sagt sich: ›Es kommt nicht darauf an, was man will oder nicht will, zumindest nicht nur. Zwar ist es mir von meiner Kindheit an so eingebleut worden, steckt in mir, ich werde es nicht mehr los. Was ich will, ist … ach, zum Teufel mit dieser unerklärlichen Sprunghaftigkeit.‹

Eines Tages kommt er mit sich ins reine.

Er will Arzt werden.

Der Chefarzt
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