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Eines Tages unternahm Bertram einen Wochenendausflug mit einer auffallend hübschen tschechischen Ärztin, die seit einem Jahr in der Klinik ihre Facharztausbildung absolvierte.
Sie fuhren einen steilen, serpentinenreichen Weg hinauf; er mußte sich auf die Straße konzentrieren.
Er war in bester Stimmung und fühlte sich unbeschwert wie seit langem nicht mehr. Obwohl er sich vorgenommen hatte, das Thema zu vermeiden, glaubte er zu wissen, daß Menschen wie sie, zumindest in den ersten Jahren nach ihrer Flucht, ihre Heimat mit sich trugen. Manche kamen ihr Leben lang nicht davon los.
Er bat sie: »Erzählen Sie mir mehr von sich. Was ich von Ihnen weiß, erinnert mich an einen Satz von Tolstoi: ›Im Hause Oblonskijs war alles aus den Fugen geraten.‹«
»Wo steht das?«
»In ›Anna Karenina‹.«
»Für einen Medizinprofessor sind Sie erstaunlich belesen. Aber Sie haben auf seltsame Weise recht. Zu Hause bin ich in Prag. Zumindest war ich es … bis vor drei Jahren.«
»Ich werde Sie nicht fragen, warum Sie geflüchtet sind. Auch nicht, ob es Ihnen im Westen gefällt.«
»Zwei Fragen, die mir viel zu oft gestellt werden. Zum Teil aus purer Liebenswürdigkeit, vermute ich. Sie sind nicht einfach zu beantworten. Dennoch, wenn Sie es möchten.«
»Nein. Lieber würde ich Ihnen eine belanglose Frage stellen. Reden wir zum Beispiel über die Landschaft. Das wird Sie auf andere Gedanken bringen.«
Sie hieß Hana Komarova. Sie hatte dunkle Mandelaugen, die exotisch aussahen. Am Anfang hatte er sie für eine Asiatin gehalten. Dieser Irrtum unterlief vielen Menschen, die sie zum erstenmal sahen, klärte sie ihn später auf. Tatsächlich stammten ihre Eltern aus der Slowakei.
Sie besaß einen etwas verhaltenen Charme, den er irrtümlicherweise für slawisches Temperament hielt. Darunter stellte er sich ein stilles Wasser vor, in dessen Tiefe es brodelte.
Eines Abends hatte er, ohne ersichtlichen Grund, an sie gedacht. Er erinnerte sich an ihre Augen und an den Blick, mit dem sie ihm begegnete, hei einem Zufallstreffen im Flur, in einem Krankenzimmer oder bei einer Visite. Jedesmal hatte es eine Weile gedauert, bis er sich von diesem Blick löste. Er dachte darüber nach und wunderte sich, daß dieser Vorgang so lange nur sein Unbewußtes angesprochen hatte.
Er lud sie zu einem Ausflug ein.
Hinter ihnen blieben Wolken von weißem Staub zurück. Der Weg war nur zum Teil asphaltiert, die Bäume zu beiden Seiten mehrere Kilometer weit abgeholzt. Sie sahen, von Erdbeerpflanzen überwuchert, Baumstümpfe und halb verfallene Holzhütten, früher wohl von Waldarbeitern benutzt.
»Ihr Schweigen ist wenig mitteilsam«, versuchte er zu scherzen. »Ich wage mir kaum auszumalen, was in Ihrem Kopf vorgeht.« Er versuchte, die Unsicherheit zu unterdrücken, die ein beunruhigender Gedanke verursachte. ›Was will ich von ihr?‹ fragte er sich. ›Doch nicht etwa eine Liebelei anfangen?‹
Er sah, wie sie unter seinem fragenden Blick unruhig wurde.
»Geben Sie mir etwas Zeit«, bat sie, »alles ist so schnell und überraschend gekommen, Sie und diese völlig unerwartete Fahrt … Diese Stapel liegengebliebenen Holzes und der Rest dieses wunderschönen Tages …«
Sie verbrachten den Abend in einem überfüllten Berghotel, wo er mit Mühe zwei Zimmer reserviert hatte. Das Hotel war gepflegt, die Küche vorwiegend schwäbisch.
Das Restaurant war um diese Zeit voll, für sie wurde ein Tisch am Fenster freigehalten. Sie unterhielten sich angeregt und fast ohne Unterbrechung. Ihr glückliches Gesicht zeigte ihm, daß sie nicht nur die Speisen genoß. Ihm erging es ähnlich. Sie war nicht nur hübsch, fand er, ihre Intelligenz war erstaunlich, sie hatte Einfühlungsvermögen.
Jetzt hatte Bertram endlich, was er sich ein Leben lang wünschte: eine reizvoll aussehende Frau, deren Intelligenz ihren Charme nicht schmälerte, ihn sogar noch verstärkte. An diesem Abend ließ er ihr Gesicht nicht aus den Augen. Sie tranken zwei Flaschen von einem guten, herben Wein und verließen als letzte das Restaurant.
Er begleitete sie bis zur Türe ihres Zimmers und verabschiedete sich etwas förmlich. Später, er lag schon im Bett, mit geschlossenen Augen und etwas benebeltem Kopf, kam ihm der Gedanke: ›Möglicherweise ist sie jetzt von mir enttäuscht.‹
Hätte er nicht mit ihr aufs Zimmer gehen sollen, wie die jungen Frauen es heute gleich erwarten? War nicht dieses etwas eingemottete Gefühl, Kavalier zu sein, in Wirklichkeit Angst vor einer Enttäuschung? Obwohl er aufgrund seiner eigenen begrenzten Erfahrung kein generelles Urteil zu fällen wagte, sagte er sich: ›Schließlich ist es immer eine Enttäuschung, das erste Mal mit einer Frau zu schlafen.‹ Es war keine. In der Nacht darauf vergrub Hana ihr von Tränen nasses Gesicht unter seinem nackten Arm, und ihre Stimme klang in der Dunkelheit unerwartet klar: »Ich habe mich unsterblich, besinnungslos verliebt.« Es war eine Feststellung.
Nach zwei Tagen fuhren sie zurück in die Klinik und während der Fahrt sagte er sich: ›Jetzt hast du alles erreicht, was sich ein Mann erträumen kann, vor allem diese wunderbare Frau neben dir, die das überschäumende Glück auf ihrem Gesicht nicht zu verbergen sucht. Vielleicht meint es das Schicksal diesmal gut mit mir. Es ist an der Zeit. Ich bin viel zu lange allein gewesen. Jetzt ist Schluß damit. Hier findet meine Flucht vor der Vergangenheit ein Ende. Das neue Leben kann beginnen.‹