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Als die Visite Lisas Zimmer erreichte, war die Stille auf einmal vollkommen und die Augen der Kranken wie gebannt auf Bertram gerichtet, so daß sie sich nicht ohne die Neugierde einer Frau fragte, was für ein Mensch er sei. Nur wurde dieser Gedanke durch ein Zischen aus Fräulein Mörders Bett: »Jesus, der kommt nicht gerade aus den Federn« in eine andere Richtung gelenkt. Bertram sah fahl und müde aus. Die beiden tiefen Falten von der Nase zu den Mundwinkeln traten heute stärker hervor, sein Gesicht schien älter und ausgezehrt, als hätte es an Vitalität verloren. Doch vor Lisas Augen änderte sich dieses Gesicht. Im nächsten Augenblick verrieten die harten Züge Energie und Entschlossenheit, die Müdigkeit war verschwunden. Es schien, als ob er von seinen verschiedenen Gesichtern dies milde, menschliche, das seine Schwächen verriet, zu verbannen suchte. Er hielt sich am Bett des mageren Mädchens mit der Magensonde auf und sah sich lange und nachdenklich ihre Röntgenbilder an. Das Mädchen litt, wie Lisa inzwischen wußte, an einer Nervenerkrankung, wodurch sie eine völlige Abneigung gegen jegliche Speisen hatte. In zwei Monaten magerte sie so stark ab, daß man sie durch eine Sonde künstlich ernähren mußte. Trotzdem nahm sie weiter ab und hatte inzwischen ihr kritisches Untergewicht erreicht. Sie wog 49 Pfund. Bertram untersuchte sie lange, es war ihm deutlich anzumerken, daß er alles, was ihm von Fritsch vorgelegt worden war, anzweifelte. Fritschs Unsicherheit verspürte Lisa auf eine unerträglich schmerzliche Weise, als sie Bertrams kalten Blick verfolgte. Zum Glück und zu ihrer Erleichterung drängte sich in diesem Augenblick eine brünette schlanke Frau durch die schweigende Menge von weißen Kitteln hindurch. Leise flüsterte sie Bertram einige Worte zu, er sah auf den Zettel, den sie ihm gab, und nickte. Als sich die junge Frau entfernte, erriet Lisa, daß sie seine Sekretärin war. Der Klinikchef umgab sich mit gutaussehenden Menschen. Gleich darauf schob Bertram die Röntgenbilder beiseite und beendete seine Untersuchung des mageren Mädchens, indem er gereizt eine Magenspiegelung anordnete. Bei den nächsten zwei Patientinnen und bei Fräulein Mörder, sehr zu ihrer Enttäuschung, hielt er sich kaum auf, zu Fritschs Ausführungen nickte er nur. Auf seine Hände, die er jetzt in der Kitteltasche hielt, war Lisa neugierig. Sie hatte inzwischen gelernt, die Hände, die sie untersuchten, zu unterscheiden. Es gab unerfahrene und geschulte, mit einem professionell unpersönlichen Griff, und es gab solche, die das Wesen des Arztes widerspiegelten – zuvorkommend und einfühlsam. Nur blieben Bertrams Hände weiter in den Taschen, sein dunkler Blick war auf sie gerichtet, während Fritsch eifrig sagte: »Das ist die Patientin mit dem Oberbauchtumor, von der ich Ihnen schon berichtet habe. Leider läßt sich seine Organzugehörigkeit bis jetzt nicht sicher einordnen …« ›Er hört ihm gar nicht zu‹, ging es Lisa durch den Kopf, ›er ist von etwas anderem völlig in Anspruch genommen.‹ Und wie zur Bestätigung dieses Gedankens hörte sie Bertram zu Fritsch sagen: »Führen Sie die noch ausstehende röntgenologische Untersuchung des Magens durch. Wenn sich nichts ergeben sollte, veranlassen Sie eine Pankreasangiographie …«
Zu Lisas maßloser Enttäuschung ging er, ohne sie zu untersuchen.