9

Am nächsten Tag sprach Bertram mit Thimms Cheflaborantin. »Wie heißen Sie?«

»Beate Twarz.« Sie ließ sich nicht anmerken, ob Stephan ihr seinen Besuch angekündigt hatte.

»Wie lange sind Sie schon an der Universität, Frau Twarz?«

»Seit vierzehn Jahren, Herr Professor.«

»In welchem Laboratorium?«

»Immer hier, in der Histologie.«

Sie waren allein im histologischen Labor der Pathologie. Er sah hinter ihren Schultern den hellen Fensterrahmen und durch das Gittermuster die Silhouette eines Baumes. Es war sieben Uhr abends, ihr Arbeitstag war vorüber, sie hatte auf ihn gewartet.

»Sie wissen, warum ich hier bin? Hat Professor Thimm mit Ihnen darüber gesprochen?«

»Ich werde Ihre Fragen beantworten, soweit ich kann.« Ihre Antwort ließ offen, ob Stephan mit ihr gesprochen hatte.

Bertram sah sie aufmerksam an, ihre kantigen Gesichtszüge wirkten wachsam, ihre zusammengekniffenen blauen Augen blitzten, als ob sie nach einem Gegner suchte, die schmalen Lippen lächelten schwach. Sie hatte die derbe Art einer berufstätigen Frau, die gewohnt war, ihre Ellbogen zu gebrauchen.

»Was geschieht, wenn Sie Material vom Operationssaal für Schnellschnitte bekommen?«

»Möchten Sie die einzelnen Vorgänge in der genauen Reihenfolge wissen?«

»Ja.«

»Das Gewebe bekommen wir in einer Flasche mit Formalinlösung …«

»Geschieht das in diesem Raum hier? Und wie lange schon?«

»Seit vierzehn Jahren.«

»Nehmen wir an, in dieser Flasche befände sich das Material, schildern Sie mir, was weiter geschieht.«

»Auf den Tisch mit den Mikroskopen stellen wir zusätzlich noch eine Petrischale, zu jedem Mikroskop zwei Petrischalen …«

»Tun Sie es!«

»Wie Sie wollen.« Mit nichtssagendem Gesicht stellte sie eine zweite Glasschale zum Mikroskop.

»Was haben Sie draufgeschrieben?«

»Den Namen des Patienten. Wir schreiben ihn drauf, noch bevor wir das Material aus dem Operationssaal bekommen.«

»Woher kennen Sie den Namen?«

»Vom Operationsprogramm. Dadurch können wir uns auf die Zahl der Untersuchungen einstellen.«

»Welche Namen haben Sie jetzt auf diese zwei Petrischalen geschrieben?«

»Kluge und Braun.«

»Woher kennen Sie sie?«

»Kennen? Nein, die Namen sind mir gerade eingefallen.«

»Wird die Übereinstimmung der Namen nicht vorher geprüft?«

Sie sah ihn überrascht an. »Gewiß.«

»Was geschieht weiter?«

»Das Material aus der Einsendeflasche kommt in die Petrischale neben dem Mikroskop, das Gewebestück wird nach verdächtigen Bezirken untersucht und sie werden rausgeschnitten. Davon und von den Randzonen werden Schnellschnitte angefertigt.«

»Wird das vom selben Arzt vorgenommen, der anschließend die fertigen Schnellschnitte unter dem Mikroskop untersucht?«

»Kann sein. Normalerweise ist der Pathologe mit der Beurteilung beschäftigt, manchmal mikroskopiert er den ganzen Vormittag …«

»Wer bestimmt, aus welchen Bezirken die Schnellschnitte gemacht werden, wer schneidet sie raus?«

»Derjenige, der an diesem Tag Saaldienst hat. Meistens sind es jüngere Ärzte, die sich noch in der Ausbildung befinden.«

Sie überlegte kurz: »Vor Jahren haben wir als erste angefangen, die Schnellschnitte unfixiert zu bearbeiten, es ist das Verdienst von Professor Thimm, aber das gehört nicht hierher.«

»Was geschieht mit dem restlichen Material, nachdem das Gewebe für die Schnellschnitte abgetrennt worden ist?«

»Es wird in Paraffin eingebettet und daraus Paraffinschnitte gemacht.«

»Welche werden zur Dokumentation aufbewahrt?«

»Alle, die Schnellschnitte und Paraffinschnitte, sie bekommen eine laufende Nummer.«

»Wie lange?«

»Zehn Jahre.«

»Was geschieht mit den schriftlichen Befunden?«

»Sie werden aufbewahrt, ebenso die Bücher.«

»Die Bücher?«

»Wir führen Eingangsbücher, es wird vermerkt, was täglich reinkommt.«

Bertram zögerte. »Vor kurzem habe ich nach einigen Präparaten verlangt …«

»Ja. Von Frau Girstenbrey …«

»Sie wissen es?«

»Die Ausgabe von Präparaten wird von mir genehmigt.«

»Wäre es möglich, Einsicht in das damalige Eingangsbuch zu nehmen?«

»Ich dachte mir, daß Sie danach fragen.« Sie fischte einen Schlüsselbund aus ihrer Kitteltasche und schloß eine weiße Schreibtischschublade auf. »Ich habe es für Sie vorbereitet.«

»Die Präparate und dieses Buch hier … es sind mehr als zehn Jahre her.«

Sie sagte kühl: »Was hier vernichtet wird, bestimmt Professor Thimm. Möchten Sie, daß ich Sie allein lasse?« An der Türe vernahm sie das Geräusch von hastig umgeblätterten Seiten.

Das Papier war vergilbt, das Buch sauber geführt.

Er fand schnell, was er suchte. 17. Oktober 1954, 9.40 Uhr: Liselotte Gall, Violet Girstenbrey, Karen von Kerckhoff. Er sah eine bekannte Handschrift, las: Saaldienst Dr. Malvina Auerbach.

Der Chefarzt
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