Was für eine Frau!

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Bertrams Arbeitszimmer in der medizinischen Klinik war mit einem antiken Prachtstück ausstaffiert, einem rotbraunen englischen Schreibtisch. In einer Schublade dieses Schreibtisches bewahrte er gebundene Hefte auf, seine Tagebücher.

Diese Bezeichnung traf nicht ganz zu. Bertram machte keine chronologischen Eintragungen. Es waren festgehaltene Gedanken, manchmal völlig unzusammenhängend und ohne Datum. Die Notizen betrafen nicht nur sein Privatleben, den Gedanken des Arztes blieb genug Platz vorbehalten.

Nach der Erkrankung seines Schwiegervaters, Professor Auerbachs, übernahm Bertram die kommissarische Leitung der Klinik. Er sah sich einer Lawine von Verpflichtungen gegenüber. Bald war seine Angewohnheit, Gedanken zu Papier zu bringen, durch einen unversöhnlichen Terminkalender erschwert, oft vergingen Monate, bevor er einen hastigen Satz hineinkritzelte.

Ende Oktober 1967, dreizehn Jahre nach Karens Tod, schrieb Bertram folgendes auf:

»Ich glaube jetzt fest daran, daß meine Bindung zu Malvina stärker ist, als es mir jemals bewußt geworden ist. Sie verkörpert nicht nur die Routine meines Lebens, sondern auch das Unbewußte.«

Einige Tage später fügte er hinzu: »Ein ehrliches Leben lebt man erst von einem gewissen Alter ab. Unter ehrlich meine ich, daß man aufhört, sich etwas vorzumachen.«

Damals, nach Karens Tod, versuchte er, sich etwas vorzumachen. Er hielt sich für kalt und gefühllos, weil er nach der ersten Bestürzung ihren Tod nicht übermäßig bedauerte. Er wurde von seinem Gewissen geplagt. Zunächst war er tief betroffen, später kam die Einsamkeit hinzu. Er, der viele Menschen sterben sah, wurde zum erstenmal vom Tode beraubt; er brauchte Zeit, um zu erkennen, daß es Angst war.

Nach ihrem Tod belastete ihn die Erleichterung, die er verspürte. Zunächst verleugnete er sie, er wollte sich nicht eingestehen, daß es eine tief verborgene Erleichterung war. Nur zu gut wußte er, daß sie recht hatte, als sie ihm das gemeinsame Leben mit einer Krebskranken schilderte. Sie hatte ihre Beherrschung verloren, dennoch war jedes Wort wahr. Einmal, sie liebten sich, flüsterte sie mit der Hingabe der Verzweifelten: »Leg deine Hand auf meine Brust.« Innerlich hatte er gezuckt. Wer hatte diesen Widerwillen verspürt, der Arzt oder der Mann? Nach außen hin hatte sich ihre Brust nicht verändert, dennoch war sie für ihn nicht mehr die gleiche, aber auch nicht nur ein krankes Organ. So ungefähr.

Zwei Monate nach Karens Tod machte Bertram folgende Eintragung: »Ein Gespräch mit Malvina Auerbach. Sie: ›Ich kann mir endlich leisten, meinen Vater so wenig zu lieben wie er mich!‹

Ich muß ziemlich sprachlos ausgesehen haben, denn sie fragte mich mit einem mitleidigen Lächeln: ›Du mußt mich jetzt für herzlos halten.‹ Wir sind inzwischen per du. Meine Antwort: ›Ich habe nie darüber nachgedacht. Für mich ist die Liebe zu den Eltern nie ein Grund zum überlegen gewesen. Aber ich komme ja aus der Provinz.‹

›Auch dort spielt sich das gleiche ab. Vielleicht nicht so kraß wie in der Großstadt, weil der Sohn nach dem Hof seines Vaters trachtet und nicht weglaufen kann. Wie ist deine Familie?‹

›Äh … kleinbürgerlich. So ziemlich das übliche. Mein Vater ist von Beruf Lehrer. Solange ich zurückdenken kann, war er Bürgermeister. Er wurde immer wieder gewählt. Und Mama ist … Mama.‹

›Ach so, ich verstehe.‹

›Warum bist du auf deinen Vater wütend?‹

›Ich bin nicht wütend auf ihn.‹

›Aber deine Worte vorher …‹

›Vergiß es. Vielleicht sage ich es nur, weil ich zur Zeit mit meiner eigenen Bedeutungslosigkeit ringe.‹

Ein merkwürdiges Mädchen, die kleine Auerbach. Sie könnte alles haben, was sie sich wünscht. Sie ist reich, zieht sich geschmackvoll an und gehört zu den bedeutendsten Familien in der Stadt. Ihr Vater ist Ordinarius, sie sieht gut aus, ich kann es von den Männerblicken ablesen, wenn wir zufällig irgendwo zusammen sind. Es heißt, sie sei verschlossen und abweisend und schätze diese Art Leben, das die Prominententöchterchen hier führen, nicht. Ich frage mich, womit ihr Leben ausgefüllt ist, welches Ziel sie hat? Denn eine gute Ärztin ist sie nicht, sie wird nie eine werden. Das stört sie nicht weiter. Sie betrachtet ihren Beruf als Notwendigkeit, nicht als Erfüllung. Andererseits gehört sie nicht zu jener Sorte pseudointellektueller Frauen, die durch das Medizinstudium zur Exklusivität gelangen wollen. Sie müßte etwas anstreben. Aber was?«

Der Chefarzt
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