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Zu den Dingen, die unabänderlich erscheinen, gehört die Gefühlswelt eines alternden Junggesellen. Stephan Thimm hatte die üblichen sieben oder acht Verhältnisse im Leben eines Durchschnitts-Mannes. Einige Nächte verbrachte er mit Frauen, die ihm nichts bedeuteten. Seine Liebe zu Karen, die unerwidert blieb, hatte sein weiteres Verhalten geprägt.

Nach seinem Streit mit Bertram fing er, der sein Leben lang gesund gewesen war, zu kränkeln an. Die ungeheuerliche Beschuldigung seines Freundes und seine extreme Erregung hatten zu einem Kreislaufkollaps geführt mit einer vorübergehenden kurzen Bewußtlosigkeit, die für Bertram unerklärlich blieb.

Er verfiel zusehends, und Bertram, der ihn bei einer Sitzung zufällig traf, erschrak.

Es gab noch jemand, dem diese Veränderung nicht entging. Schwester Leopoldine Stein verfolgte Professor Thimm mit besorgten Blicken.

Sie hatte inzwischen ihre Furcht vor dem Tod abgelegt und vertrat die Einstellung jener, die mit dem Sterben tagtäglich konfrontiert werden – ihr erschien der Tod als eine sinnvolle Notwendigkeit. Die Pathologie war nicht nur Sterben, sie bedeutete auch Leben und Helfen. Professor Thimm hörte sich ihre Verbesserungsvorschläge aufmerksam und, wie es ihr schien, wohlwollend an. Ihr Eifer war ihm nicht entgangen.

Das Gefühl der Verlegenheit und des Gehemmtseins, das sie in Thimms Gegenwart empfand – obgleich es ihr sonst fremd war –, hielt Leopoldine Stein von allen Annäherungsversuchen ab. Dennoch ertappte sie sich bei der Arbeit immer wieder, wie sie an ihn dachte.

Sie beobachtete ihn genau und fand ihre Beobachtungen bestätigt. Sie dachte: ›Er legt keinen Wert darauf, anderen Menschen zu gefallen. Er verachtet diese Seite des menschlichen Wesens und bestraft sich gleichzeitig dafür. Diese Feindseligkeit gegen sich selbst verrät seine Einsamkeit.‹

Sie beobachtete ihn bei seiner vielseitigen Arbeit und sagte sich: ›Wie sicher er alles tut. Was für ein ungeheures Wissen muß er besitzen! Und wie er diese höchst komplizierte Tätigkeit ausübt, so einfach und selbstverständlich, als würde er ein Klavierstück zum eigenen Vergnügen spielen.‹

Obwohl noch unbewußt, war Leopoldine zu dieser Zeit dabei, nach einem langen, beschwerlichen Weg ihr eigenes Ich zu finden. Sie war glücklich auf die Art, wie Erfüllung glücklich macht: ausgeglichen, gut gelaunt, entgegenkommend und nett zu ihren Mitmenschen. Das Gefühl, gebraucht zu werden, stärkte ihr Selbstvertrauen. Die Veränderung, die sich mit ihr vollzog, ließ ihr Äußeres nicht unbeeinflußt. Sie war inzwischen fünfunddreißig geworden und eine Frau in voller Reife. Ihr Gesicht, vorher unauffällig, wirkte jetzt durch eine innere Ausstrahlung weich und weiblich.

Eines Tages, als sie Professor Thimm beobachtete, machte sie eine überraschende Entdeckung. Hinter der Fassade des Erfolges verbargen sich oft Erfolglose. Dieser Gedanke war neu und aufregend, das erste Mal in ihrem jungen, widersprüchlichen Leben hatte sie sich dem Grund der Dinge genähert. Der sichtbare Erfolg war nichts anderes als die Rechtfertigung dieser Menschen vor sich selbst und der Welt.

Der erfolgreiche Thimm ein Versager? Ein einsamer, alternder Mann, der sich an seinen Beruf klammerte, weil er nichts anderes besaß? Er war fest von seiner Unersetzlichkeit überzeugt. Was das betraf, kannte sich Leopoldine Stein gut aus. Alle Gescheiterten glauben gern an ihre Einmaligkeit.

Bei dem Gedanken an Stephan Thimm verspürte sie eine große Zärtlichkeit.

Der Chefarzt
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