5

»Aber, warum interessieren Sie sich so für mich?« fragte Lisa.

»Nun, Sie sind meine Patientin. Ist das nicht Grund genug?« war Fritschs Antwort. Obwohl er das als nichtssagend empfand, erschien es ihm plötzlich von entscheidender Wichtigkeit, ihr zu helfen. Diese Frau, deren Aussehen ihn beunruhigte, erweckte in ihm ein Gefühl, das sich keinesfalls mit dem üblichen Mitleid des Arztes erklären ließ.

So kam man nicht weiter, sagte sich Fritsch, als er wütend sein wirkliches Empfinden zu entwirren versuchte. Was er jetzt tun mußte, war, mit ihr über ihre Erkrankung zu sprechen und mit der Wahrheit bis an die Grenze des Zumutbaren zu gehen. Eine scheußliche Situation.

Er faßte sich ein Herz. »Ich fürchte, um eine Operation kommen wir nicht herum.«

Erschreckt fragte sie: »Was habe ich wirklich, Herr Doktor? Krebs?«

Er breitete die Arme aus: »So kann man es nicht nennen. Ein Tumor bedeutet nicht immer etwas Bösartiges. Es gibt eine Reihe von gutartigen Tumoren, sie kommen sogar häufiger vor. Doch selbst wenn sich einige entartete Zellen finden sollten, so ist das bei der heutigen Medizin kein Malheur …« Während er auf sie einredete, kam er sich als Fremder vor, den diese Worte anekelten. Lisa gegenüber war es unfair.

Diese ständige Wiederholung verdroß ihn.

Es war immer die gleiche Art, wie man Menschen beibrachte, daß sie Krebs hatten, ohne dieses vernichtende Wort auszusprechen und ihnen gleichzeitig klarzumachen, warum sie sich alles gefallen lassen sollten. Von komplizierten, oft sinnlosen Operationen und Medikamenten, deren Nebenwirkungen das Ende noch schneller herbeiführten, bis zu Röntgenstrahlen, die auch das gesunde Gewebe zerstörten. Allerdings hatten auch die Gegner dieser Methoden dem nur christliche Barmherzigkeit oder orientalischen Fatalismus entgegenzusetzen. Wie immer man sich die Sache besah, es war wie verhext.

Dabei gab es andere Dinge, über die er sie gern befragt hätte. Darüber, daß ihr Blick ihm ein Verständnis entgegenbrachte, an das er nicht gewöhnt war. Mit nichts verriet sie ihr Wissen um seine innere Unruhe, die ihn – den Arzt, der die anderen zu beruhigen hatte – ständig erfüllte. Sie war taktvoll und geduldig.

»Ich denke, eine Zigarette würde mir jetzt guttun«, sagte sie, und er sah, wie sie ihre Schultern aufrichtete. Ihm schien diese kaum merkliche Bewegung Durchstehvermögen und Mut zu verraten. Sie saßen im Arztzimmer der Station, wo er solche Gespräche zu führen pflegte. Er griff zum Päckchen Zigaretten, das vor ihm lag, und bot ihr eine an. »Sie rauchen?«

»Neuerdings. Danke.« Sie lächelte. »Ihre Frage unterstellt, daß Sie mir keine Laster zutrauen.« Aus der Art, wie sie mit der Zigarette umging, wie sie sie hielt und an ihr zog, sah er, daß sie keine Raucherin war.

»Meine Nachbarin hat's mir beigebracht«, erklärte sie. »Noch wird mir nach einer Zigarette etwas schwindlig.«

Daraufhin sagte Fritsch impulsiv: »Rauchen Sie nicht, das schadet der Gesundheit …« Und biß sich auf die Lippe.

»Sogar, wenn man nicht mehr allzulange zu leben hat?«

»Hören Sie …«

»Warum sind Sie nicht aufrichtig zu mir? Die ganze Zeit warte ich auf ein klärendes Wort. Sie finden jeden Tag Ausflüchte, und die anderen …« Die Offenheit in ihrem Blick berührte ihn auf eine besondere Weise. »Sie sind der einzige hier, dem ich voll und ganz vertraue. Und Sie schweigen. Sie scheint meine Verzweiflung nicht zu berühren, vielleicht, weil ich nicht mit verheulten Augen herumlaufe. Am Ende glauben Sie noch, es macht mir nicht viel aus, weil ich so robust wirke. Ich habe das Recht zu wissen, was aus mir wird. Ich möchte mich vorbereiten auf das, was mich erwartet. Ist das so schwer zu verstehen? Diese Geheimnistuerei ist eine Art von Entmündigung Erwachsener. Sie sprechen uns das Recht ab, über unser weiteres Leben selbst zu entscheiden. Warum sagen Sie mir nicht endlich die Wahrheit!« Ihrer sonst ruhigen und besonnenen Art zuwider betrug sich Lisa jetzt, als hätte sie keine Zeit zu schweigen, sich abwartend zu verhalten.

»Weil«, entgegnete Fritsch, »wir diese Wahrheit noch nicht kennen. Wir vermuten sie nur.«

»Was haben Sie noch mit mir vor?«

»Die Röntgenuntersuchung hat ergeben, daß Ihr Magen in Ordnung ist. Demnächst werden wir eine Gefäßdarstellung der Bauchspeicheldrüse durchführen, das hat der Chef bei der Visite angeordnet. Die Gefäßzweige in der Drüse zeigen ein bestimmtes Muster, daraus kann man gewisse Schlüsse ziehen …«

»Und wenn«, sie zögerte etwas, aber dann hielt sie sich zurück, »wenn Sie's erfahren, würden Sie mir alles offen sagen?«

»Wenn Sie Wert darauf legen …«

»Wenn ich Wert darauf lege?«

»Manche wollen's nicht wissen.«

»Ich will es.« Ihre Stimme klang entschlossen. »Wenn ich bald mein Leben beenden soll, dann nicht unwürdig und gedankenlos.«

»Ich werde mich dieser Entscheidung beugen«, murmelte Fritsch. Er sah vor seinem inneren Auge Lisas großen weißen Körper mit Tumormetastasen übersät.

»Sie versprechen's mir also?«

»Ja.«

»Auch wenn er bösartig sein sollte?«

Er legte die Hände aneinander und nickte.

»Auch wenn's nur noch kurz dauert!«

»Auch dann«, sagte er kaum hörbar.

Aber Lisa hörte ihn nicht. Ihr kam der Gedanke, wenn sie keinen Krebs hätte – sie fürchtete sich davor, wollte es nicht glauben und glaubte dennoch daran –, wäre all dies, was passierte, was in ihr vorging und in ihm, schließlich zu ihrem Besten.

Fritsch sah sie an und überlegte, warum sich wohl seine Ernennung zum Stationsarzt verzögerte. Sollte Bertram zum Schluß doch einen anderen vorziehen? Das sähe ihm ähnlich. Die Universität verdarb den Charakter, erzeugte Unbarmherzigkeit, Neid und Heuchelei. Und zum wiederholten Male faßte er den Entschluß: ›Ich muß hier weg. Landarzt – was für eine Gottesgabe.‹

Der Chefarzt
content001.xhtml
content002.xhtml
content003.xhtml
content004.xhtml
content005.xhtml
content006.xhtml
content007.xhtml
content008.xhtml
content009.xhtml
content010.xhtml
content011.xhtml
content012.xhtml
content013.xhtml
content014.xhtml
content015.xhtml
content016.xhtml
content017.xhtml
content018.xhtml
content019.xhtml
content020.xhtml
content021.xhtml
content022.xhtml
content023.xhtml
content024.xhtml
content025.xhtml
content026.xhtml
content027.xhtml
content028.xhtml
content029.xhtml
content030.xhtml
content031.xhtml
content032.xhtml
content033.xhtml
content034.xhtml
content035.xhtml
content036.xhtml
content037.xhtml
content038.xhtml
content039.xhtml
content040.xhtml
content041.xhtml
content042.xhtml
content043.xhtml
content044.xhtml
content045.xhtml
content046.xhtml
content047.xhtml
content048.xhtml
content049.xhtml
content050.xhtml
content051.xhtml
content052.xhtml
content053.xhtml
content054.xhtml
content055.xhtml
content056.xhtml
content057.xhtml
content058.xhtml
content059.xhtml
content060.xhtml
content061.xhtml
content062.xhtml
content063.xhtml
content064.xhtml
content065.xhtml
content066.xhtml
content067.xhtml
content068.xhtml
content069.xhtml
content070.xhtml
content071.xhtml
content072.xhtml
content073.xhtml
content074.xhtml
content075.xhtml
content076.xhtml
content077.xhtml
content078.xhtml
content079.xhtml
content080.xhtml
content081.xhtml
content082.xhtml
content083.xhtml
content084.xhtml
content085.xhtml
content086.xhtml
content087.xhtml
content088.xhtml
content089.xhtml
content090.xhtml
content091.xhtml
content092.xhtml
content093.xhtml
content094.xhtml
content095.xhtml
content096.xhtml
content097.xhtml
content098.xhtml
content099.xhtml