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Erst bei seiner Vorlesung im überfüllten Auditorium – Thema: Frühkrebs des Magens – fiel ihm ein, daß er Malvina nicht angerufen hatte. Sein Entschluß, mit ihr über Elisabeth zu sprechen, schwankte erneut. Wollte er ein Begräbnis im Sinne von Malvinas pompösen Feiern haben? Elisabeth hätte sich ein stilles Begräbnis gewünscht, mit Blumen und ein paar alten Freunden, ihm selbst und Stephan Thimm, dem Pathologen. Jetzt hätte Karen hergehört, hinter den Sarg ihrer Mutter. Er stellte fest, daß er an diesem Morgen wiederholt an Karen dachte, was seit Jahren nicht mehr vorgekommen war.
Immer noch mit seinen Gedanken beschäftigt, wandte Bertram dem Auditorium sein angegriffenes Gesicht zu und sagte im Plauderton: »Wenn Ihnen der Nachweis eines Frühkarzinoms bei der ersten Magenspiegelung nicht gelingen sollte, so ist die Verdachtsdiagnose schon lebensrettend.« Bertram hatte die Angewohnheit, während seiner Vorlesungen umherzugehen. Auch jetzt verließ er sein Rednerpult, ging langsam auf die erste Reihe der Sitzenden zu und fuhr fort: »Übrigens ist das die einzige Krebserkrankung, bei der die Zeit zwischen Beobachtung und endgültiger Diagnosestellung fast immer ausreicht.«
Er war ein guter Redner, der die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer fesselte. Er sprach weiter, entwarf das Bild der Rettung eines Kranken; seine Stimme verlor ihre Gleichmäßigkeit und wurde leidenschaftlicher. Er lächelte eine brünette Studentin in der ersten Reihe an und ging langsamen Schrittes zu seinem Pult zurück.
Elisabeth sollte ein stilles Begräbnis haben. Er, Stephan Thimm und Malvina … vielleicht gab's noch jemand, den Elisabeth gern dabeigehabt hätte. In der letzten Zeit wußte er wenig von ihrem Leben. Für den Gottesdienst würde er den Prälaten Clausewitz bemühen, er würde das vollkommene Gefühl eines würdigen Abschieds vermitteln.
Eine leichte Unruhe, die im Auditorium entstand, erinnerte Bertram daran, daß seine Stunde zu Ende war. Gefolgt von seinem Vorlesungsassistenten verließ er den Saal.