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»Schwester Aida?« fragt Gräfin Kerckhoff. Sie blinzelt etwas, eine alte Frau, die Schwierigkeiten beim Aufwachen hat. »Wollten Sie nach mir schauen? Sie sind neu hier.«
»Ja«, sagt Schwester Rosemarie. Sie zittert. »Ich bin neu hier.« Ihre Augen streifen das Gesicht der Gräfin und bleiben an der offenen Schmuckkassette hängen. Vom Bett aus kann die Gräfin die Kassette nicht sehen, nur die Platte des altmodischen Nachtkastens.
»Hab' Sie noch nie gesehen«, sagt die Gräfin. »Wie heißen Sie?«
»Van Dahmen.«
»Welche van Dahmen? Die holländischen? Oder die Belgier?« Die Gräfin zeigt Interesse.
»Wir sind entfernt verwandt. Meine Eltern kommen aus Karl-Marx-Stadt«, stottert Rosemarie. Es wird ihr bewußt, daß sie sich damit verraten hat. Bei der Suche nach der Diebin braucht man nur noch nach einer Schwester zu fahnden, die in Karl-Marx-Stadt geboren ist. Rosemarie sieht das verdutzte Gesicht der Gräfin und beeilt sich zu sagen: »Das ist in der DDR. Früher hieß es Chemnitz.« Die Gräfin nickt nur. Ihr Interesse ist verflogen. »Geben Sie mir Ihre Hand, Schwester van Dahmen.« Sie betastet Rosemaries Hand vorsichtig und sagt überrascht: »Sie haben eine sehr starke Hand für ihre zierliche Figur. Aber Sie zittern ja.«
»Äh … es ist weiter nichts. Ich bin etwas nervös.« Rosemarie spürt, wie sie rot wird.
Mit der Sprunghaftigkeit alter Menschen, deren Konzentration nachläßt, sagt die Gräfin: »Meine Tochter Karen und Hannes Bertram standen kurz vor ihrer Hochzeit, als sie starb. Wußten Sie das? Sie starb an Brustkrebs. Damals war der Hannes noch keine Berühmtheit, ein sauberer Junge mit allerhand verrückten Ideen. Seine Nächte verbrachte er in einem Kellerloch in der Universität und sprach voller Stolz von seinem Labor. Damals gab's noch Idealisten unter den Jungen. Der Hannes verdiente wenig. Er machte sich nichts aus Geld. Ich fand es großartig, weil er und Karen auf meine Hilfe angewiesen waren. Sie kamen zu mir, als sie heiraten wollten. Wußten Sie das, Schwester van Dahmen?«
»Ich hab' davon gehört.«
»Was denn«, sagt die Gräfin gereizt, »Herrgott, es war Liebe. Manchmal denke ich, es war eine Vorsehung, daß sie nicht heirateten. Soviel Gefühl endet nie gut. Meine Karen starb, als sie glücklich war. Wissen Sie, was das ist? Glücklich sein ohne Vorbehalt? Rücken Sie mein Kissen zurecht, nein, andersherum. Stellen Sie sich nicht so dumm an, meine Liebe. Sie sollen das obere Ende weiter raufziehen.« Sie verhält sich jetzt wie eine eigenwillige alte Dame, die keinen Widerspruch duldet.
»Warum ist der Hannes noch nicht da? Die Nachtschwester soll noch mal bei ihm anrufen und ausrichten, ich warte auf ihn.«
»Ich werde gleich nachfragen«, sagt Rosemarie eifrig.
Die Gräfin beruhigt sich schnell. »Lassen Sie mich allein. Ich muß jetzt nachdenken.« Sie fügt hinzu: »Ich danke Ihnen. Schwester van Dahmen. Ich finde es sehr rücksichtsvoll von Ihnen, daß Sie Ihre Schuhe ausgezogen haben. Der Schlaf einer alten Frau ist leicht, das werden Sie noch erfahren. So, und jetzt gehen Sie! Sie dürfen mich morgen besuchen.«