2

Mit Erwins Besuch im Krankenhaus wurde Lisa Schönhage bewußt, daß sie erst seit vier Tagen hier war. Ihrem Empfinden nach lag ihr bisheriges Leben weit zurück. Erwin mit einem Blumenstrauß an ihrem Bett erschien ihr so verändert, als wäre er nicht derselbe Mann, auf den sie ihr Leben lang tagtäglich gewartet hatte. Fräulein Mörders Blick auf Erwins dunklen Kammgarnanzug und die viel zu langen, breiten Koteletten, die zu seinem Alter nicht paßten, vermittelte ihr ein anderes Bild von ihm. Hier wirkte er farblos, und die Unrast in seinen kleinen, einfältigen Augen verriet sein schlechtes Gewissen – ein Tolpatsch, der seinem billigen Vergnügen nachging und viel zu feig war, um es ihr einzugestehen. Ermutigend lächelte sie ihn an, um ihr Interesse an seinem belanglosen Gespräch zu bekunden. Sie verglich seine stämmige Gestalt mit Dr. Fritschs sensibler Erscheinung, und dieser Gedanke hielt sie eine Weile gefangen. Erst als er weg war, verspürte sie das schlechte Gewissen einer braven Frau, die im Traum einen Ehebruch begangen hatte.

Auch jetzt, nach Erwins Besuch, beschäftigten sich Lisas Gedanken mit dem Tumor, statt mit ihm.

Dieser Tumor, an den sie anfänglich nicht so recht glaubte, war inzwischen zu einem Teil ihrer selbst geworden. Mehrere Ärzte untersuchten sie, unzählige Hände hatten ihren Bauch abgedrückt und ihre Finger hinterließen blaue Flecken, die sich grünlich verfärbten. Sie selbst begann, ihn von Tag zu Tag mehr zu spüren, noch war es nichts Bestimmtes. Sie hatte keine Schmerzen, eher ein Unbehagen, das Wissen, von etwas geheimnisvoll Fremdem, von einer großen, runden Walze, die in ihrem Bauch wuchs. Sie versuchte, den Tumor zu fühlen. Nachts, als sie niemand beobachtete, legte sie wie die Ärzte ihre Hand flach auf den Bauch und atmete tief. Alles, was sie verspürte, war der elastische Widerstand der Bauchdecke. In der kurzen Zeit, seit sie hier war, hatte man bei ihr eine stattliche Zahl von Untersuchungen durchgeführt. Man hatte die Nieren geröntgt und den Dickdarm. Ohne Befund. Wieder spritzte man Kontrastmittel in Lisas Vene und röntgte diesmal die Gallenblase. Wieder ohne Befund. Dr. Fritsch vermochte nicht, seine Enttäuschung zu verbergen, als er ihr dies mitteilte. Nicht aus Hartherzigkeit oder Ehrgeiz, seine Diagnose bestätigt zu wissen. Der Tumor war da. Lisas Laborbefunde, das Blutbild und die Blutsenkung, der Urinbefund und alles weitere waren normal. Was aber, wie Fritsch erklärte, nicht zwangsläufig gegen einen Tumor sprach.

Vorsichtig geworden, fragte sich Fritsch, ob nicht ein Bauchspeicheldrüsenkrebs dahintersteckte. Solche Fälle kannte man hier zur Genüge. Er besprach sich mit Ohlhaut und befragte auf dessen Rat einen der Oberärzte. Um unangenehmen Überraschungen aus dem Weg zu gehen, entschloß man sich, Lisa durch die Mühle zu drehen. Sie geriet in eine diagnostische Maschine, aus der es, einmal in Gang gesetzt, kein Entrinnen mehr gab.

Wenn sie an ihr früheres Leben zurückdachte, empfand Lisa ihre jetzige Situation so: Sie war genau von den Händen geschlagen worden, die sie mehr als alles andere liebte. Weil sie einem Mann vertraute und ihn zur Hauptfigur ihres inhaltlosen Daseins gemacht hatte, ihn zu einer Art Gottheit stilisierte, wurde sie schamlos von ihm betrogen. Vergeblich versuchte sie, einzuschlafen. Nach Mitternacht stand sie auf, um auf dem Korridor umherzulaufen. Sie glaubte, dadurch ihrer Erregung Herr zu werden. In dem matt erleuchteten Flur lief ihr Dr. Fritsch entgegen, der Nachtdienst hatte und vom Stationszimmer kam. Jetzt erschien er ihr nicht mehr so groß – bisher hatte sie ihn nur aus ihrem Bett gesehen –, dennoch überragte er sie fast um Haupteslänge und war sehr schmal. Sein schmaler Kopf hatte ein spitzes Profil, mit schön geformten Ohren unter dem dünnen, braunen Haar. Verwundert blieb er vor ihr stehen. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Langsam und mit halbgeschlossenen Augen antwortete sie: »Welche Frage! Wie kann man sich hier wohl fühlen!«

»Ich hab's nicht so gemeint«, begann er zögernd, und sie sah, wie sich die mädchenhaft zarte Haut seines Gesichtes rötete. Seine Unsicherheit erweckte in ihr ein unerklärbares, schmerzliches Mitleid. Von ihrer rothaarigen Nachbarin wußte Lisa, daß er es hier nicht leicht hatte, und mit der Intuition einer Frau begriff sie, daß das Leben in der Klinik sich für ihn aus einer Vielzahl alltäglicher Übel zusammensetzte. Er verriet eine Verlassenheit, über die sein weißer Kittel nicht hinwegtäuschte, und er klammerte sich daran, indem er – aus welchen Gründen auch immer – seinen Kontakt zu den Patienten auf das Notwendigste reduzierte. Zum zweitenmal spürte Lisa eine unpersönliche Zärtlichkeit, die man Menschen entgegenbringt, denen das Schicksal zwar ein anderes, aber gleichermaßen unglückliches Los zugedacht hatte, und sie sagte mit leiser Wehmut: »Wir sind beide nicht zum Vergnügen hier, nicht wahr?«

Er sah sie zweifelnd an, weil er aus dieser Bemerkung mehr als eine Belanglosigkeit zu hören glaubte. Es schien ihr, daß die Art, wie er sich hinter seiner Manneswürde verschanzte, eine Bereitschaft zu glauben und das Mißtrauen der Enttäuschung verriet; jetzt hätte er ein Junge sein können, der sich sein Leben lang nach Zärtlichkeit sehnte, und statt dessen Prügel bezog.

»Nein«, gab er widerwillig zu, »obwohl …«

»Obwohl was?« Und weil er nichts sagte, fuhr sie fort: »Sie sind hier, weil es Ihr Beruf ist, und ich … weil es mein Schicksal so will, das wollten Sie doch damit sagen! Aber vielleicht sind die Wege nicht so verschieden, wie es einem erscheint. Sie glauben wohl nicht, daß ich hier rauskomme, zumindest nicht für lange …«

»Unsinn! Wie kommen Sie darauf?«

»Ihre Gedanken sieht man Ihnen an, Sie sind sicherlich ein schlechter Lügner. Wieso glauben die Ärzte, daß nur sie die Patienten durchschauen. Haben Sie niemals daran gedacht, daß es auch umgekehrt sein könnte?«

Jetzt konnte er ein bitteres Interesse nicht mehr verbergen. »So? Sogar Geheimnisse?«

»Wir alle haben unsere Geheimnisse«, sagte sie. Zum erstenmal war sie von einer inneren Bereitschaft überwältigt, einem anderen die Verwirrung ihres Lebens anzuvertrauen.

Was immer ich tue, schwor sie sich, ihm erzähle ich nichts.

Der Chefarzt
content001.xhtml
content002.xhtml
content003.xhtml
content004.xhtml
content005.xhtml
content006.xhtml
content007.xhtml
content008.xhtml
content009.xhtml
content010.xhtml
content011.xhtml
content012.xhtml
content013.xhtml
content014.xhtml
content015.xhtml
content016.xhtml
content017.xhtml
content018.xhtml
content019.xhtml
content020.xhtml
content021.xhtml
content022.xhtml
content023.xhtml
content024.xhtml
content025.xhtml
content026.xhtml
content027.xhtml
content028.xhtml
content029.xhtml
content030.xhtml
content031.xhtml
content032.xhtml
content033.xhtml
content034.xhtml
content035.xhtml
content036.xhtml
content037.xhtml
content038.xhtml
content039.xhtml
content040.xhtml
content041.xhtml
content042.xhtml
content043.xhtml
content044.xhtml
content045.xhtml
content046.xhtml
content047.xhtml
content048.xhtml
content049.xhtml
content050.xhtml
content051.xhtml
content052.xhtml
content053.xhtml
content054.xhtml
content055.xhtml
content056.xhtml
content057.xhtml
content058.xhtml
content059.xhtml
content060.xhtml
content061.xhtml
content062.xhtml
content063.xhtml
content064.xhtml
content065.xhtml
content066.xhtml
content067.xhtml
content068.xhtml
content069.xhtml
content070.xhtml
content071.xhtml
content072.xhtml
content073.xhtml
content074.xhtml
content075.xhtml
content076.xhtml
content077.xhtml
content078.xhtml
content079.xhtml
content080.xhtml
content081.xhtml
content082.xhtml
content083.xhtml
content084.xhtml
content085.xhtml
content086.xhtml
content087.xhtml
content088.xhtml
content089.xhtml
content090.xhtml
content091.xhtml
content092.xhtml
content093.xhtml
content094.xhtml
content095.xhtml
content096.xhtml
content097.xhtml
content098.xhtml
content099.xhtml