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Mit Erwins Besuch im Krankenhaus wurde Lisa Schönhage bewußt, daß sie erst seit vier Tagen hier war. Ihrem Empfinden nach lag ihr bisheriges Leben weit zurück. Erwin mit einem Blumenstrauß an ihrem Bett erschien ihr so verändert, als wäre er nicht derselbe Mann, auf den sie ihr Leben lang tagtäglich gewartet hatte. Fräulein Mörders Blick auf Erwins dunklen Kammgarnanzug und die viel zu langen, breiten Koteletten, die zu seinem Alter nicht paßten, vermittelte ihr ein anderes Bild von ihm. Hier wirkte er farblos, und die Unrast in seinen kleinen, einfältigen Augen verriet sein schlechtes Gewissen – ein Tolpatsch, der seinem billigen Vergnügen nachging und viel zu feig war, um es ihr einzugestehen. Ermutigend lächelte sie ihn an, um ihr Interesse an seinem belanglosen Gespräch zu bekunden. Sie verglich seine stämmige Gestalt mit Dr. Fritschs sensibler Erscheinung, und dieser Gedanke hielt sie eine Weile gefangen. Erst als er weg war, verspürte sie das schlechte Gewissen einer braven Frau, die im Traum einen Ehebruch begangen hatte.
Auch jetzt, nach Erwins Besuch, beschäftigten sich Lisas Gedanken mit dem Tumor, statt mit ihm.
Dieser Tumor, an den sie anfänglich nicht so recht glaubte, war inzwischen zu einem Teil ihrer selbst geworden. Mehrere Ärzte untersuchten sie, unzählige Hände hatten ihren Bauch abgedrückt und ihre Finger hinterließen blaue Flecken, die sich grünlich verfärbten. Sie selbst begann, ihn von Tag zu Tag mehr zu spüren, noch war es nichts Bestimmtes. Sie hatte keine Schmerzen, eher ein Unbehagen, das Wissen, von etwas geheimnisvoll Fremdem, von einer großen, runden Walze, die in ihrem Bauch wuchs. Sie versuchte, den Tumor zu fühlen. Nachts, als sie niemand beobachtete, legte sie wie die Ärzte ihre Hand flach auf den Bauch und atmete tief. Alles, was sie verspürte, war der elastische Widerstand der Bauchdecke. In der kurzen Zeit, seit sie hier war, hatte man bei ihr eine stattliche Zahl von Untersuchungen durchgeführt. Man hatte die Nieren geröntgt und den Dickdarm. Ohne Befund. Wieder spritzte man Kontrastmittel in Lisas Vene und röntgte diesmal die Gallenblase. Wieder ohne Befund. Dr. Fritsch vermochte nicht, seine Enttäuschung zu verbergen, als er ihr dies mitteilte. Nicht aus Hartherzigkeit oder Ehrgeiz, seine Diagnose bestätigt zu wissen. Der Tumor war da. Lisas Laborbefunde, das Blutbild und die Blutsenkung, der Urinbefund und alles weitere waren normal. Was aber, wie Fritsch erklärte, nicht zwangsläufig gegen einen Tumor sprach.
Vorsichtig geworden, fragte sich Fritsch, ob nicht ein Bauchspeicheldrüsenkrebs dahintersteckte. Solche Fälle kannte man hier zur Genüge. Er besprach sich mit Ohlhaut und befragte auf dessen Rat einen der Oberärzte. Um unangenehmen Überraschungen aus dem Weg zu gehen, entschloß man sich, Lisa durch die Mühle zu drehen. Sie geriet in eine diagnostische Maschine, aus der es, einmal in Gang gesetzt, kein Entrinnen mehr gab.
Wenn sie an ihr früheres Leben zurückdachte, empfand Lisa ihre jetzige Situation so: Sie war genau von den Händen geschlagen worden, die sie mehr als alles andere liebte. Weil sie einem Mann vertraute und ihn zur Hauptfigur ihres inhaltlosen Daseins gemacht hatte, ihn zu einer Art Gottheit stilisierte, wurde sie schamlos von ihm betrogen. Vergeblich versuchte sie, einzuschlafen. Nach Mitternacht stand sie auf, um auf dem Korridor umherzulaufen. Sie glaubte, dadurch ihrer Erregung Herr zu werden. In dem matt erleuchteten Flur lief ihr Dr. Fritsch entgegen, der Nachtdienst hatte und vom Stationszimmer kam. Jetzt erschien er ihr nicht mehr so groß – bisher hatte sie ihn nur aus ihrem Bett gesehen –, dennoch überragte er sie fast um Haupteslänge und war sehr schmal. Sein schmaler Kopf hatte ein spitzes Profil, mit schön geformten Ohren unter dem dünnen, braunen Haar. Verwundert blieb er vor ihr stehen. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Langsam und mit halbgeschlossenen Augen antwortete sie: »Welche Frage! Wie kann man sich hier wohl fühlen!«
»Ich hab's nicht so gemeint«, begann er zögernd, und sie sah, wie sich die mädchenhaft zarte Haut seines Gesichtes rötete. Seine Unsicherheit erweckte in ihr ein unerklärbares, schmerzliches Mitleid. Von ihrer rothaarigen Nachbarin wußte Lisa, daß er es hier nicht leicht hatte, und mit der Intuition einer Frau begriff sie, daß das Leben in der Klinik sich für ihn aus einer Vielzahl alltäglicher Übel zusammensetzte. Er verriet eine Verlassenheit, über die sein weißer Kittel nicht hinwegtäuschte, und er klammerte sich daran, indem er – aus welchen Gründen auch immer – seinen Kontakt zu den Patienten auf das Notwendigste reduzierte. Zum zweitenmal spürte Lisa eine unpersönliche Zärtlichkeit, die man Menschen entgegenbringt, denen das Schicksal zwar ein anderes, aber gleichermaßen unglückliches Los zugedacht hatte, und sie sagte mit leiser Wehmut: »Wir sind beide nicht zum Vergnügen hier, nicht wahr?«
Er sah sie zweifelnd an, weil er aus dieser Bemerkung mehr als eine Belanglosigkeit zu hören glaubte. Es schien ihr, daß die Art, wie er sich hinter seiner Manneswürde verschanzte, eine Bereitschaft zu glauben und das Mißtrauen der Enttäuschung verriet; jetzt hätte er ein Junge sein können, der sich sein Leben lang nach Zärtlichkeit sehnte, und statt dessen Prügel bezog.
»Nein«, gab er widerwillig zu, »obwohl …«
»Obwohl was?« Und weil er nichts sagte, fuhr sie fort: »Sie sind hier, weil es Ihr Beruf ist, und ich … weil es mein Schicksal so will, das wollten Sie doch damit sagen! Aber vielleicht sind die Wege nicht so verschieden, wie es einem erscheint. Sie glauben wohl nicht, daß ich hier rauskomme, zumindest nicht für lange …«
»Unsinn! Wie kommen Sie darauf?«
»Ihre Gedanken sieht man Ihnen an, Sie sind sicherlich ein schlechter Lügner. Wieso glauben die Ärzte, daß nur sie die Patienten durchschauen. Haben Sie niemals daran gedacht, daß es auch umgekehrt sein könnte?«
Jetzt konnte er ein bitteres Interesse nicht mehr verbergen. »So? Sogar Geheimnisse?«
»Wir alle haben unsere Geheimnisse«, sagte sie. Zum erstenmal war sie von einer inneren Bereitschaft überwältigt, einem anderen die Verwirrung ihres Lebens anzuvertrauen.
Was immer ich tue, schwor sie sich, ihm erzähle ich nichts.