Eine Frage der Masse
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Am Montagvormittag findet die große Chefvisite statt. Schon um halb sieben fangen die Stationsschwestern der internen Stationen 7a und 7b an, ihre Fieberkurven zu prüfen. Sie vergleichen die Eintragungen mit den Verordnungen von der letzten Visite, kontrollieren die Laborzettel mit den neuen Blutbildern und die Urinbefunde. Dabei werden halblaut die Schwesternschülerinnen zur Ordnung gerufen, die Kurven in Mappen eingeordnet und anschließend auf den Visitewagen gelegt. In einem Fach des Wagens wird ein Stapel weißer Handtücher bereitgestellt. Während der Visite wäscht sich Professor Bertram zwischendurch die Hände.
Dann geht die Stationsschwester durch die Krankenzimmer, inspiziert die Bettwäsche und die Kissenbezüge, hin und wieder hebt sie bei älteren Patienten die Decke und schaut nach den Zehennägeln. Sie sucht in den Schubladen der Nachtkästen nach nicht eingenommenen Tabletten und nach Süßigkeiten bei Zuckerkranken. Nachdem sie fertig ist, verscheucht sie zwei Schülerinnen, die sich im Flur angeregt über den vergangenen Abend unterhalten. Inzwischen wird der Boden auf Hochglanz gebracht.
Währenddessen geht der Stationsarzt die Unterlagen der Neuzugänge nochmals durch und versucht, sich die wichtigsten Daten aus den Krankengeschichten einzuprägen. Der Klinikchef schätzt es nicht, wenn man die Unterlagen oft zu Rate zieht. Er reagiert gereizt und stellt überflüssige Fragen. Im letzten Augenblick merkt der Stationsarzt, daß noch schriftliche Befunde fehlen, er hetzt die Assistenzärzte, die ihrerseits die Aufgabe den Medizinalassistenten delegieren. Dann ist es soweit.
Der Klinikchef erscheint in Begleitung des Oberarztes, der für diese Station zuständig ist, einer Reihe von Assistenzärzten, Gastärzten, Medizinalassistenten und Schwestern. Bertram hielt sich an jedem Bett auf. Er untersuchte, unterhielt sich mit den Kranken und gab Anweisungen. Aufmerksam hörte er sich die Ausführungen des Stationsarztes an und begnügte sich nicht mit einem Händedruck oder Kopfnicken. Er stellte eine Reihe zusätzlicher Fragen, während er die Patienten untersuchte. Seine Entscheidungen, die er meist ohne Zögern traf, zeugten von Sicherheit und großer Routine. Er besaß den Ruf eines Allroundklinikers. Er gehörte zu jenen Internisten, die auf allen Gebieten der Innenmedizin zu Hause waren und bei der zunehmenden Spezialisierung der Ärzte von Jahr zu Jahr weniger wurden. Es war ein Generationsproblem. Als Bertram von Bett zu Bett ging, spürten die Patienten seine Besorgnis und Anteilnahme. Er vermittelte ihnen die Gewißheit, daß alles Notwendige unternommen würde. An solchen Tagen waren manche Patienten wie ausgewechselt – vom Zweifel befreit, wirkten sie ruhig und zuversichtlich. Hier war Bertram die letzte Instanz.