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Im Herbst kommen die Studenten aus den Ferien zurück. Die Bäume auf der Universitätsstraße sind noch belaubt, die Natur wirkt schwer und farbenprächtig, die Tage werden kürzer, die Abende sind frisch und mit der leichten Schwermut des vergangenen Sommers behaftet.
»Was willst du, Johannes?« fragt Malvina.
Was er wollte? Da war die bedauerliche Geschichte mit dem Kollegen Osswald, dem ersten Oberarzt der Klinik und Stellvertreter des Alten, der an einem Herzinfarkt während seines Griechenlandurlaubs starb, auf der Akropolis. Ein schöner Tod.
Sein Posten war frei.
›Seine Stelle will ich haben‹, denkt er.
Nach seiner Rückkehr aus Amerika bekleidete er den Posten eines Oberarztes. Ihm unterstand die gastroenterologische Ambulanz.
Eine bescheidene Position.
›Keine schlechte Position‹, denkt er, ›für ihn, den Gesellschaftslöwen, den Liebhaber, für einen Mann, der seine Tage mehr schlecht als recht hinter sich brachte.‹ Wenn er nur nicht von seinem Gewissen geplagt würde. Was war aus seinen Träumen geworden? Er stöhnt im Schlaf, dreht sich heftig um und wird wach. Er schwitzt und spürt sein Herz, dann greift er mit flacher Hand unter seinen rechten Rippenbogen, atmet tief ein, versucht seine Leber abzutasten. Er liegt mit offenen Augen in der Dunkelheit und kann nicht mehr einschlafen. Er denkt: ›Es hat dich erwischt.‹ Es ist nicht nur sein Gewissen, er hat Angst. Er weiß, wohin dieses Leben führt, er kann seine Arbeiten über Alkohol und Leber nicht vergessen.
»Was willst du, Johannes?« fragt Malvina.
»Ich will die Stelle vom alten Osswald haben, koste es, was es wolle«, sagt er wildentschlossen.
»Keine schlechte Idee!« Sie befeuchtet ihre Lippen mit der Zungenspitze. »Er hatte eine ansehnliche Vergütung, der alte Osswald. Wir könnten dann heiraten!«
»Es ist eine Menge Geld«, antwortet Bertram und schämt sich, weil er keine Scham empfindet. »Darüber habe ich nicht nachgedacht. Damit kann man heiraten …«
»Du wirst die Stelle bekommen«, sagt Malvina entschlossen. Schadenfroh denkt er: ›In der Haut Auerbachs möchte ich jetzt nicht stecken.‹
Da ist noch Justin Holländer, sein Rivale. Er hat es inzwischen zum zweiten Oberarzt gebracht und steht auf der Leiter eine Stufe höher als er. Er ist der Liebling des Alten. Ein tüchtiger Mann, dieser Justin Holländer. Er ist immer noch Privatdozent, steht aber kurz vor seiner Professur. In der letzten Zeit erreichten seine wissenschaftlichen Publikationen eine ansehnliche Zahl. Eigentlich müßte Holländer die Stelle des alten Osswald bekommen. »Du wirst die Stelle haben, dann heiraten wir. Die Leute sollen sich den Mund zerreißen.«
»Ich will sie haben«, sagt er entschlossen, »die Leute kümmern mich nicht!«
Am Abend, an dem die Entscheidung fiel, saßen sie in Malvinas Wohnung und warteten auf Stephans Anruf. Stephan Thimm hatte inzwischen die kommissarische Leitung der Pathologie bekommen.
Zunächst schwiegen sie, dann, um die Spannung zu lösen, tranken sie Whisky miteinander. Er ertappte sich, wie er lustig-dumme Streiche aus seiner Kindheit zum besten gab, von ihrem tiefen Lachen ermutigt.
Dann hatten sie die halbe Flasche geleert, das Telefon läutete, es war Stephan.
»Es tut mir leid«, sagte er, »wir haben knapp verloren. Es war Auerbachs Entscheidung, er stimmte gegen dich.«
»Dieser gottverdammte alte Narr!« sagte Malvina schrill, und in einem Wutanfall fing sie an zu schreien. Als er versuchte, ihr den Mund zuzuhalten, zerkratzte sie ihm das Gesicht.
Der Herbst war freudlos.
Nach außenhin hatte sich wenig geändert. Sie gehörten immer noch zusammen, sie gingen aus, sie liebten sich. Nur war es nicht mehr das gleiche. Die Unbekümmertheit der vergangenen Jahre war verflogen, zwischen ihnen entstand eine Gezwungenheit, die, sosehr sie sich bemühten, immer unüberwindbarer wurde.
Sie gingen jetzt selten aus. Es war Malvina, die alle Einladungen zurückwies. Eine Weile schien es ihr Spaß zu bereiten, das Hausmütterchen zu spielen. Sie versuchte gelegentlich, obwohl sie kaum mit einer Pfanne umgehen konnte, für ihn abends zu kochen.
Sie aßen in einem kleinen italienischen Restaurant um die Ecke, tranken jeder einen Schoppen Landwein. Dann saßen sie im Wohnzimmer und tranken Elsässer Wein. Sie bevorzugten beide die trockenen französischen Weine.
Um über die Enttäuschung der Niederlage hinwegzukommen, versuchte er, an einem Buch zu schreiben, eine Abhandlung über die Frühdiagnose des Magenkrebses. Die Arbeit ging nicht voran, er saß reglos da und starrte auf das weiße Blatt Papier, sein Kopf war leer. Wieder stand er auf und holte eine neue Flasche Wein.
Lange Pausen des Schweigens.
Malvinas Blick, der eine Frage stellte.
Gab es wirklich diese unbeschwerte Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, oder war es Einbildung? Er sah, wie Malvinas Profil auf den Schirm der Stehlampe einen weichen Schatten warf, er sah ihr dunkles Blondhaar im Nacken hell aufleuchten.
Der Winter kam.
»Was willst du, Johannes?«
»Wenn ich es nur wüßte.«
»Du kannst immer noch eine Privatpraxis eröffnen. Dein Name ist in dieser Stadt ein Begriff.«
Auch darüber hatten sie schon gesprochen. Privatpraxis. Bald würde er sich vor Patienten nicht mehr retten können und ein Vermögen verdienen, sein Arbeitspensum würde vierzehn Stunden betragen und von Jahr zu Jahr würde er immer mehr schuften. Wozu? Für ein Haus mit Swimmingpool und Hausangestellten, für einen Wagenpark, für ein Jagdrevier, das er sich zulegen würde (die Jagd, nicht die Zeit, um jagen zu gehen), für das Recht, mit Noldens zu verkehren und mit Schulzens.
Er würde bedeutungslose Fälle behandeln, den Tennisarm von Staatssekretär Klose und den Hexenschuß von der Baronin Rheinbaben.
Er würde dicke Rechnungen schreiben und sein ganzes Wissen vergessen, langsam und unmerklich, wie es im Alltag geschieht. Eines Tages würde er die medizinischen Zeitschriften, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, wegräumen lassen, ungelesen. Das würde der Anfang vom Ende sein.
Auch seine klinische Erfahrung, in Jahren mühevoller Kleinarbeit gesammelt, würde bald beim Teufel sein. Er würde aufhören, ein bedeutender Arzt zu sein, nur ein kleinstädtischer Quacksalber, ein Modearzt, der ein Vermögen verdient.
»Du fürchtest dich vor einer Privatpraxis, nicht wahr, Johannes?«
Er fürchtete sich vor vielen Dingen. Auch vor ihr.
Am Ende dieses Winters kündigte Bertram überraschend seine Stelle an der internen Klinik und beanspruchte gleichzeitig den ihm noch zustehenden Urlaub. Er hatte die Stelle des ersten Oberarztes an der medizinischen Klinik einer kleinen Universitätsstadt am Neckar angenommen. Es war eine Flucht nach vorne.
Sein Abschied von Malvina war kurz und viel zu förmlich, um gleichgültig zu sein.
Vor acht Jahren war Bertram hierhergekommen, um die Universität zu erobern. An einem schönen Frühlingsmorgen verließ er diese Stätte.