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Gleich nach seinem Mittagsbrei bekommt der Patient Nr. 8 Antonio Dellonga lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen. Der Monitor über seinem Kopf löst Alarm aus.
»Es ist schon wieder Nr. 8«, sagt Schwester Leopoldine Stein zu ihrer Kollegin, Schwester Ernestine. »Mit dem ist ständig was los!«
Sie klopft ungeduldig auf die Wählscheibe des Telefons und lauscht angespannt auf das Freizeichen. »Heiliger Strohsack, die Doktorin meldet sich schon wieder nicht. Aber wem sag' ich es?«
»Ich kann mir den Namen nicht merken«, sagt Schwester Ernestine. Sie blättert in den Unterlagen und beschwert sich: »Die Ausländer haben die unmöglichsten Namen.«
»Antonio Dellonga! Was für ein hübscher Name«, widerspricht Schwester Leopoldine, »seine Mutter hat ihn sicherlich Tonio gerufen.«
»Schon möglich. Für mich sind ausländische Namen eine Plage.«
»Wenn man nur dahinterkäme, was er hat!« Schwester Stein dreht immer noch die Wählscheibe. »Mir behagt es nicht. Hätten sie bloß Professor Bertram zugezogen!«
»Gar so große Erfahrung in der Intensivmedizin hat er nicht. An Professor Holländer kommt er jedenfalls nicht heran!« Die Geringschätzung in Schwester Ernestines Stimme ist unüberhörbar. Schadenfroh fügt sie hinzu: »Dafür lassen ihm seine vielen Verpflichtungen nicht die Zeit. Und seine anspruchsvolle Frau.«
Schwester Ernestine ist eine erbitterte Gegnerin von Bertram. Sie gehört zur Anhängerschaft von Professor Holländer, dem die Intensivstation untersteht, und ist seine glühende Verehrerin.
»Mag schon sein. Warum weiß man immer noch nicht, was er hat?«
»Ich persönlich halte Professor Holländer für einen weitaus besseren Kardiologen. Er hat unzählige Bücher über Herzerkrankungen geschrieben. Und wie steht's mit Ihrem Bertram?«
»Es ist nicht meiner«, wehrt Leopoldine ab. Jetzt sagt sie ins Telefon: »Nr. 8 hat wieder einen Herzanfall … gerade eben.«
Sie legt auf. »Mir ist es völlig gleich, wer darauf kommt. Er braucht Hilfe.« Sie sieht auf Antonios bebende Nasenflügel. »Allmächtiger, der Mann ist kaum vierundzwanzig.«
»Es ist wie verhext«, sagt Schwester Ernestine, sie hat sich in das Giftjournal vertieft, »ein Verschleiß an Schmerzmitteln hier. Ausgerechnet seit Sie auf der Station sind.«
»Mir ist nichts bekannt.« Leopoldines Stimme klingt vorsichtig. »Was meinen Sie damit: Seit ich hier bin?«
»Es ist nicht persönlich gemeint. Die zeitliche Übereinstimmung. Ich habe nachgezählt. Laut Eintragungen müßten wir einen Vorrat von achtunddreißig Ampullen haben, im Giftschrank sind nur noch vier. Was sagen Sie jetzt?«
»Man soll aufpassen. Man soll jede verbrauchte Ampulle gleich eintragen, sonst vergißt man's.«
»Ich nicht!« Schwester Ernestines Gesicht hat einen schwer zu deutenden Ausdruck.
»Wo liegt Nr. 8?« fragt die Stimme der diensthabenden Internistin, die einen Augenblick an der Türschwelle stehenbleibt. Sie ist außer Atem. Dann hört sie das Alarmsummen des Monitors, sieht beunruhigt zu den beiden Schwestern und fragt erschrocken: »Was hat er?« Einen Augenblick starren sie alle drei wie gebannt auf den Bildschirm, auf die bizarren Figuren der flimmernden Herzkurve, die mit einer Papiergeschwindigkeit von 50 mm pro Sekunde Antonios Todeskampf registriert.
Am sechsten Tag nach seiner Aufnahme verlangte der Patient Nr. 8 der internen Intensivstation, Antonio Dellonga, nach einem Priester.
Sein Zustand hatte sich gebessert.
Schwester Leopoldine Stein leitete seinen Wunsch an die Fürsorgeschwester weiter, die Verbindung mit dem Kapuzinerpater Hildebrand aufnahm. Bald nach dem Anruf eilte Pater Hildebrand mit wehender Kutte durch das Universitätsgelände an der Kinderklinik vorbei und winkte den Kindern zu. Etwas außer Atem betrat er die Intensivstation, sein geflochtener Kapuzinergürtel war verrutscht und schleifte auf dem Boden.
Er räusperte sich, nahm Platz auf dem Stuhl, den Schwester Leopoldine Stein ihm anbot, und rückte den Paravent zum benachbarten Bett zurecht. Erst dann richtete er seine blauen Augen auf den jungen Mann im Bett.
»Ich möchte heiraten, Reverendo«, flüsterte der Kranke. In seiner Schwäche merkte er nicht, daß Pater Hildebrand ein Ordensgeistlicher war, und sagte zu ihm statt Padre Reverendo, wie das Volk die Priester nennt. Pater Hildebrand lächelte verständnisvoll. »Warum nicht, mein Sohn, wenn du wieder gesund bist.«
»Nein«, sagte der Kranke ungeduldig. Die Angst verdunkelte seine Augen. »Ich habe eine Frau und zwei Kinder – ein Baby wird bald kommen.«
»Ah«, sagte Pater Hildebrand, »ihr seid nicht kirchlich getraut …« Er wußte über die Ängste dieses Mannes Bescheid: Den nicht kirchlich Getrauten wurde das kirchliche Begräbnis verweigert. Das Ärgernis mit der Kirche war, sie blieb nicht konservativ dort, wo sie es wirklich sein müßte – man denke nur an manche Konzessionen der letzten Jahrzehnte –, sondern sie beharrte auf völlig sinnlosen Dingen. Wie viele andere Priester drückte er in diesem Falle die Augen zu und verweigerte das Begräbnis nicht. Dieser arme Mensch konnte es nicht wissen.
Um sein Gewissen zu beschwichtigen, fragte Pater Hildebrand: »Warum habt ihr so lange gewartet?«
»Wir sparten das Geld zusammen … für eine große Hochzeit. Ich wollte zu Hause … in Neapel zeigen, zu was ich's gebracht habe. Ich habe ein Geschäft und eine deutsche Frau, eine blonde Frau.«
»Hast du mit deiner Frau darüber gesprochen?«
»Sie wollte warten, bis ich gesund bin. Die Ärzte sagen, es sei nicht gefährlich …«
»Du glaubst ihnen nicht?«
»Ich habe Angst, Reverendo. Es kommen immer mehr Ärzte, alle sagen gut, keiner schaut mir in die Augen.«
»Du sollst Gott vertrauen!«
»Ich möchte nicht verbrannt werden … wie ein Christ begraben … Wirst du uns trauen?«
»Wenn deine Frau und du es willst.«
»Sie kommt morgen«, sagte der Kranke, zum erstenmal verlor sein Gesicht etwas von der Strenge des Schwerkranken, »eine gute Frau, deutsche Frau …«
›Was tun die Ärzte bloß hier?‹ fragte sich Pater Hildebrand, als er die Intensivstation verließ, von einer merkwürdigen Unruhe erfüllt. Noch eine Weile sah er das Flimmern des Monitors vor sich. Erst spät am Abend kam ihm ein höchst beunruhigender Gedanke: ›Wird nicht auf dieser Station das menschliche Leben in bloße Funktionen zerlegt und degradiert?‹
Die kirchliche Trauung zwischen dem Gastarbeiter Antonio Dellonga und seiner Frau Sigrid, geborene Stolz, wurde am darauffolgenden Tag vom Kapuzinerpater Hildebrand vollzogen. In der kahlen Sachlichkeit der Intensivstation wirkte diese Handlung überhastet und trist.