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Der Stationsarzt der Station 7a beendete seinen Bericht bei Klinikchef Professor Bertram. Als nächster war Fritsch an der Reihe.

Bertram, in beigefarbenem Hemd mit offenem Kragen unter seinem weißen Kittel, stützte sich mit den Ellbogen auf seinen Platz an dem großen Tisch und wirkte insgesamt lässig und unkonzentriert. Der Schein trog. Es war nicht nur die Beweglichkeit seines intelligenten Blicks, der seine schnelle Auffassungsgabe verriet, nach Fritschs Erfahrung besaß Bertram die höchst unangenehme Gabe, Fragen zu stellen, die man vermeiden wollte.

Mit dem Gefühl, daß er sich vor allem Bösen, das auf ihn lauerte, nicht hüten konnte, richtete sich Fritsch ruckartig auf, noch bevor sich sein Kollege gesetzt hatte, und spürte, wie sich die Blicke auf ihn richteten. Mit vor Aufregung heiserer Stimme begann er zu berichten. Diesen Augenblick hatte er gefürchtet und gleichzeitig ersehnt. Seit er in der Klinik tätig war – er befand sich im fünften Jahr seiner Facharztausbildung –, durfte er zum erstenmal selbständig über eine Station Bericht erstatten.

Die Assistentenbesprechung fand zweimal wöchentlich, montags und donnerstags, von vier bis fünf in der Klinikbibliothek statt. Um den langen Lesetisch saß Bertram mit seinen vier Oberärzten und den Stationsärzten. Die Assistenzärzte, Medizinalassistenten und die Famuli blieben stehen, sie lehnten an den Bücherregalen oder an der Wand, manche, denen das zu beschwerlich war, brachten Stühle mit, die sie etwas abseits vom Tisch aufstellten. An diesem Donnerstag, am selben Tag, an dem Lisa Schönhage aufgenommen worden war, durfte Fritsch den lang ersehnten Platz am Tisch einnehmen, weil er gemeinsam mit einem Kollegen die Arbeit auf der Frauenstation 7b, die seit vier Tagen ohne Stationsarzt war, verrichtete. War es nicht ein gutes Zeichen, daß man ihm die Berichterstattung übertragen hatte? Die Entscheidung, wem die Stationsführung anvertraut würde, mußte demnächst fallen.

Diese klinischen Besprechungen, in denen über alle Vorkommnisse berichtet wurde – über Neuzugänge, Entlassungen, Sterbefälle und Schwerkranke, bei denen man mit der Diagnose oder Behandlung nicht vorankam –, in denen oft das Traurige und das Heitere des Klinikalltags in einem Atemzug gesagt wurde, verliefen durch die starke persönliche Ausstrahlung Bertrams sachlich und trocken. Die Stationsärzte erstatteten nach der Reihe ihren Bericht, ab und zu gab auf Bertrams Fragen der für die betreffende Station zuständige Oberarzt einige Erläuterungen.

Für seinen ersten Auftritt hatte sich Fritsch einen Plan zurechtgelegt. Er fing forsch an und berichtete gleich über die Aufnahme einer achtunddreißigjährigen Patientin mit einem Oberbauchtumor. Er beschrieb den Tumor, dessen Größe, Härte, Beweglichkeit und Oberfläche, und verfiel beinahe dem Rausch der gelungenen Diagnose (er hatte bereits vergessen, daß er Hartwig Ohlhaut dazugerufen hatte). Dann, von der sonderbaren Stille um ihn gewarnt, hörte er auf und ging, wie er es sich vorgenommen hatte, schnell zu dem nächsten Fall über. Wie er so dastand, leicht vorgebeugt und innerlich zitternd, war er sich der Ehrerbietung in seiner Stimme und seiner ganzen Haltung durchaus bewußt. Er sah Bertrams Augen dunkel und unheilverkündend auf sich gerichtet.

Bertram war für ihn beängstigend, weil er einen nicht beschuldigte. Er hörte sich keine Rechtfertigung an, nur seine Augen verengten sich, er fällte im Innern sein Urteil, ohne daß der Betreffende davon wußte. Fritsch hatte eine Reihe von wissenschaftlichen Assistenten kommen und gehen sehen, ihre Universitätskarriere fand ein jähes Ende. Wenn Bertram aus der Haut fuhr, war das kein endgültiger Zorn, das ging vorüber. Das wußte Fritsch, der, selbst vom Zorn des Klinikchefs einige Male getroffen, jetzt begriff, daß er in seinem Eifer zu weit gegangen war.

An diesem großen Tisch mit achtundzwanzig Sitzplätzen wirkte seine schmale Gestalt verloren, er machte gegenüber seinem Vorredner Ohlhaut keine gute Figur. Ohlhaut stand kerzengerade und bekundete keine besondere Ehrerbietung, sein breites Gesicht und die große Nase erweckten den Eindruck der Offenheit. Dieser Bursche Ohlhaut ging mit einem unbekümmerten Charme durchs Leben und gehörte zu jenen Menschen, die spielend ihre Ziele erreichten. Er erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Keinen einzigen Tag in seiner ärztlichen Laufbahn hätte Fritsch, sosehr er es sich wünschte, wie er sein können. Es gab Menschen, denen Unbekümmertheit nicht lag. Ohlhaut war Junggeselle. Hier dachte Fritsch an Elena, sorgfältig vermied er den Gedanken an seine tödliche Anordnung.

Sein Bild von Bertram mußte Fritsch immer wieder korrigieren. Seiner Ansicht nach gab es zwei verschiedene Bertrams, der zweite war ein Antipode des ersten, der in bester Tradition konservativer Steifheit morgens seine Visiten machte. Das morgendliche Bild Bertrams stand gewissermaßen im Gegensatz zum Nachmittags-Bertram, der charmant, zugänglich und leger war, ein großzügiger Mann, kollegial und verständnisvoll. Sogar seine Kleidung änderte sich, statt im dunklen Anzug kam er in sportlicher Aufmachung, in der sein Körper durch jugendliche Geschmeidigkeit überraschte. Er trug mit Vorliebe Lederjacken und fuhr leidenschaftlich gern schnelle Autos. Dies war eine Vermenschlichung des Chefs, die Fritsch jedesmal von neuem irritierte. Merkwürdigerweise kam er mit diesem zweiten Bertram viel weniger zurecht als mit dem autoritären, der nach Unzulänglichkeiten suchte und in der Lage war, die berufliche Laufbahn eines Menschen zu vernichten.

Fritschs Plan ging auf. Ohne Zwischenfragen war er bei seinem letzten Fall angelangt, und Bertram, von einem seiner Oberärzte leise angesprochen, schien seinen Ausführungen nicht zuzuhören. Bertrams Gesicht war nicht schön, aber kraftvoll. Überraschend seine Hände, schmal und feingliedrig. Um sein Handgelenk trug er, im Gegensatz zu seiner sportlichen Erscheinung, eine elegante goldene Armbanduhr. Gerüchten zufolge verdankte Bertram seinen Posten seiner Frau, einer geborenen Auerbach und Tochter seines Vorgängers. Andere Sprachen von Bertrams politischen Beziehungen, bekanntlich stand er der Spitze einer Partei sehr nahe. Seine Feinde gaben zu, daß er ein überragender Kliniker und ein schlechter Organisator war. Sein autoritärer Führungsstil gehörte einer Vergangenheit an, die an den Universitäten noch nicht überwunden war.

Fritsch wollte sich gerade hinsetzen, als Bertram – er hatte eine leise Stimme, die die anderen zwang, aufmerksam zuzuhören – fragte: »Ist der Oberbauchtumor, von dem Sie sprachen, atemverschieblich?«

»Nein«, log Fritsch auf gut Glück und nahm sich vor, Lisa Schönhage nochmals daraufhin zu untersuchen.

Der Chefarzt
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