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Zwölf Jahre ist eine lange Zeit. Es dauert eine Weile, bis man Herrn Girstenbreys Adresse ausfindig gemacht hat. Er ist ausgezogen und hat inzwischen eine neue Stellung. Er wohnt jetzt in einem Vorort. Es ist eine dieser Trabantenstädte, die wie Pilze aus dem Boden schießen und aus häßlichen, gleichförmigen Hochhäusern bestehen, mit hellhörigen Wohnungen.

Auf eine freundliche Vorladung, die ihm Bertrams Sekretärin in seinem Auftrag schickt, reagiert Herr Girstenbrey nicht. Der Chauffeur kommt unverrichteterdinge zurück. Bertram entschließt sich, selbst hinzufahren.

Es ist an einem Sonntag, als er um drei Uhr nachmittags ankommt. Außer ein paar Kindern, die gleich zu seinem auffälligen Wagen laufen, sind die Hochhäuser still. Nach einem üppigen Mahl hat man sich aufs Ohr gelegt.

Bertram findet Nr. 15 sofort. Unten ist ein Schild: Eckstein, Hausmeister.

Herr Alois Girstenbrey wohnt im vierten Stock. Im Treppenhaus riecht es nach Sauerkraut und einem süßlichen Gewürz. Er läutet und wartet. In der Wohnung rührt sich nichts. Er läutet noch mal. Lautlos geht die Türe auf, und er kann seine Überraschung nicht verbergen. Vor ihm steht ein Mann in weichen Hauspantoffeln, mittelgroß, mit einem vorstehenden Bauch. Dieser Mann ist eine Karikatur jenes Herrn Girstenbrey, den Bertram gekannt hatte – älter und aufgedunsen. Die Leidenschaft in seinen Augen ist verschwunden, jetzt sind sie nur noch feucht.

»Ich hätte es mir denken können«, sagt Herr Girstenbrey, »Sie geben nie auf.« Seine Stimme klingt weder liebenswürdig noch abweisend.

»Es tut mir leid. Ich muß Sie sprechen.«

»Wozu? Was vorbei ist, ist vorbei. Treten Sie ein!«

Im Wohnzimmer Polstermöbel, geblümte Gardinen, Teppichboden. Ein Schaukelstuhl. Der Fernseher läuft; wild galoppierende Reiter verursachen einen Höllenlärm. »Eine Westernserie.« Herr Girstenbrey heftet seine Augen auf den Bildschirm. »Ich sehe mir alle Fortsetzungen an.« Er zögert etwas, bevor er den Fernseher ausschaltet. »Meine Frau hat sich hingelegt, die Kinder spielen unten. Möchten Sie ein Bier?«

»Nein. Ich möchte Ihnen gleich sagen … damals habe ich von Ihrer Frau nichts gewußt!«

»Was vorbei ist, ist vorbei.« Wieder klingt Herrn Girstenbreys Stimme gleichgültig. »Setzen Sie sich. Der Sessel hier ist mein Platz. Wie es so heißt, ist der Mensch ein Gewohnheitstier. Möchten Sie wirklich kein Bier?«

»Nein. Gräfin Kerckhoff ist gestorben.«

»Ich hab' davon gelesen. Sie war nicht mehr ganz jung.«

»Nein«, sagt Bertram, »das war sie nicht.«

Er fügt hinzu: »Ich möchte wissen, was sich damals zugetragen hat. Ich nehme an, Karen ist wegen ihres Brustknotens zum Arzt gegangen und Violet hat sie begleitet?«

»Es war umgekehrt. Karen ging mit.«

Der füllige Mann trinkt aus seinem Bierglas. »Violet hatte Angst, sie wollte nicht zum Arzt. Sie hatte einen Knoten in der Brust, schon länger als fünf Monate, und ihre Angst wurde von Tag zu Tag größer. Sie weinte heimlich, nachts wachte ich auf und sah sie im Bett sitzen. Sie grübelte stundenlang. Dann wurde der Knoten größer. Sie hat ihn mir gezeigt. Ich hab' sie bekniet, zum Arzt zu gehen. Sie versprach es und ging nicht. Die Vorstellung, man würde ihr die Brust abnehmen … sie geriet in Panik.«

»Sie haben sie schließlich überredet?«

»In solchen Dingen sind Frauen merkwürdig. Ich fragte mich, woher sie die Kraft zum Widerstand nahm, sie war sonst so sanft. Ich erzählte es Karen. Ich bat sie, mit Ihnen darüber zu reden, Herr Professor.«

»Karen hat mir nichts davon erzählt.«

»Damals waren Sie gerade verreist. Karen sagte, Sie befänden sich auf einer Studienreise in Amerika.«

»In Japan …«

»Es kam alles anders. Karen erzählte Violet, sie müsse selber zum Arzt, weil sie einen Knoten in der Brust hätte, auf der linken Seite …« Hier schweigt Herr Girstenbrey nachdenklich und steht auf. »Ich hol' mir noch ein Bier. Sie möchten immer noch keins?« Mit schleppendem Gang verschwindet er in die Küche, und gleich darauf hört Bertram, wie der Kühlschrank geöffnet wird.

Vom Wohnzimmerfenster aus sieht Bertram auf ein steingraues Haus mit blaßgrün gestrichenen Balkons. Auf dem Fenstersims hüpft eine Amsel. Herr Girstenbrey kommt zurück. »Karen kannte die Sekretärin Ihres jetzigen Schwiegervaters. So wurden sie von Professor Auerbach selbst untersucht.«

»Erzählen Sie weiter.«

»Es ist nicht viel zu erzählen. Die Dinger müßten raus, hatte der Professor gesagt, und sie lachten laut, weil er diesen Ausdruck gebraucht hatte. Am Abend nach der Untersuchung waren sie übermütig, lachten über Sachen, die ich nicht komisch fand. Sie tollten herum, veranstalteten eine Kissenschlacht und stellten die Wohnung auf den Kopf. Zum Schluß haben beide geweint.«

Herr Girstenbrey zögert. »Später … man hatte Violet als gesund entlassen und Karen weiter in der Klinik behalten, hat Violet wie ein Schloßhund geheult. Sie machte sich Vorwürfe, glaubte, sie hätte Karen in diese Geschichte hineingezogen. – Als sie dann erfuhr, daß Karen die Operation verweigerte.«

»Was geschah mit Violet weiter?«

»Die Sache mit Karen ging ihr nahe, aber sie aß besser und ihre Erleichterung war spürbar. Ich kam nie dahinter, was sie in Wirklichkeit empfand. Nach Karens Tod ging es mit ihr endgültig bergab. Sie hat sich nie mehr erholt.«

»Wer veranlaßte Violets Aufnahme in die Klinik zum zweitenmal?«

»Sie suchte Professor Auerbach auf … als ihre Schmerzen unerträglich wurden. Der Arzt, der sie vorher behandelt hatte, meinte, sie bilde sich die Schmerzen nur ein. Er glaubte, Violet käme über den Tod ihrer Freundin nicht hinweg. Er berief sich auf den negativen Befund der Universitätsklinik.«

»Sagt Ihnen der Name Thimm etwas? Doktor Stephan Thimm?«

»Wir haben ihm viel zu verdanken. Er hat sich rührend um sie bemüht. Er sagte, er würde auch in Ihrem Auftrag handeln. Sie waren damals in Amerika?«

»Ja. Hat Doktor Thimm erzählt, ich hätte ihn darum gebeten?«

»Genau das. Er besuchte Violet jeden Tag. Er sprach ihr Mut zu und sorgte dafür, daß sie genügend Schmerzmittel bekam. Ich nahm an, er würde zu ihrer Beerdigung kommen. – Sie wollen schon gehen?«

»Ich habe noch Dringendes zu erledigen.« Bertram fühlt sich plötzlich in diesem Zimmer beengt. Sie sind an der Wohnungstüre angelangt, als eine füllige Frau mittleren Alters erscheint. Ihr Hauskleid ist zerknittert und die Haare in Unordnung; ihre kleinen Augen verraten, daß sie gerade geschlafen hat.

»Meine Frau«, stellt Herr Girstenbrey vor. »Sophie, das ist Herr Professor Bertram.«

»Ach, mein Mann hat viel von Ihnen erzählt. Wollen Sie schon gehen?« fragt Frau Girstenbrey mit einer überraschend melodischen Stimme. »Alois, hast du deinen Gast gut bewirtet?«

Herr Girstenbrey zögert. »Ich hörte, Doktor Thimm ist inzwischen Professor geworden. Das freut mich. Wir verdanken ihm viel …«

Der Geruch im Treppenhaus, der Aufzug schaukelt. Unten stehen immer noch Kinder um seinen Wagen herum. Bertram hat es eilig, wegzukommen.

Der Chefarzt
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