Mittwoch, 21. Mai 2008

Busreise nach Fisterra, (5132 Einw.), 8 m üdM

zirka 100 km

So werde ich also in Santiago de Compostela wach. Irgendetwas fehlt mir. Nein, ich meine nicht die Etappen, die unwiderruflich hinter mir liegen. Ich bin einfach immer noch nicht wirklich angekommen. Hängt es damit zusammen, dass das Kap in früher Zeit der Anlaufpunkt der Pilger war? Mir wird bewusst, dass mein persönliches absolutes Ziel Cabo Finisterre sein muss. Ich bin gespannt, welche Wirkung das Ende der Welt auf mich hat. Wie wird es sein, alleine auf diesem 143 Meter hohen Felsen zu sitzen und bis zum Horizont auf den Atlantik zu schauen?

Ich beschließe, meinen Rucksack, so bepackt wie jeden Morgen, mit auf die Reise zu nehmen und die allerletzten drei, vier Kilometer von Fisterre hinauf zum Kap zu pilgern. Ruddi darf übrigens gar nicht im Bus mitfahren. Das ist streng verboten. “No perro!” Na, das kennen wir doch! Dafür haben wir schließlich die tolle Tarntasche. Sobald er draußen seine Geschäfte erledigt hat, darf er in seinem “Bett” weiterschlafen.

Die Haltestelle befindet sich in einer Art Kreisverkehr, in dessen Mitte ein kleiner Park angelegt ist. Es ist ein riesiger Busbahnhof. Wie aufgereiht stehen die Reisebusse bereit, um die Menschenmassen aufzunehmen. Ich drängel mich durch die aufgewühlte Menge, suche die richtige Haltestelle. Oh je, jetzt hätte ich beinah vergessen, meinen Hund zu verstecken. Auf einem klitzekleinen Stück Bürgersteig, zwischen Taschen, Rucksäcken und Füßen, versuche ich ein bisschen ungeschickt, Perritos Tasche zu öffnen.

Ich höre nur noch wie eine Frau ganz aufgeregt den Namen meines Hundes ruft, bevor sich jemand von hinten an mich ranmacht, hochzieht, rumdreht, umarmt und küsst. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was gerade passiert.

Sie stottert weinend zwischen meinem Hals und meiner Schulter: “I only saw Ruddi and suddenly I knew, that you are here. I cannot believe it. It’s amazing to see you. I hoped it all the time, that it will happen (ich sah nur Ruddi und plötzlich wusste ich, dass DU hier bist. Ich kann es nicht glauben. Es ist so wunderbar, Dich hier zu sehen. Ich hoffte die ganze Zeit, dass das passiert)!” Diese kurzen Sätze genügen. Ich heule sofort mit. Es ist Edit aus Ungarn, die in Lorca mit ihrem Popo nach einem gemütlichen Abend mit Hermann, mir und viel Wein die Spanische Wand umgehauen und mich in Villamayor de Monjardin getröstet hat, weil ich im stinkigen Eingangsbereich schlafen musste; die Edit, die mir - ein wenig beschwipst - in Navarrete ihr Herbergsbett überlassen wollte, um mit Hermann in unserer schicken Wohnung zu übernachten; die Edit, die in Azofra nachts in den Pilgerboxen so schön für alle gesungen hat. Meine Pilgerfreundin, mit der ich die aufregende Autofahrt in die Jugendherberge fern ab von Grañón gemacht habe. Das letzte Mal haben wir uns in Belorado gesehen und mit Achim, Oliver, Sabrina, Edit und Sören ein Riesenfass aufgemacht. Ein unvergesslicher Abend.

Wir wollen uns gar nicht mehr einkriegen vor lauter Freude. Für einen Moment darf ich die Hoffnung haben, dass sie ebenfalls nach Fisterre fährt. Aber ich höre etwas ganz anderes: “This is my bus to the airport. I’ll go home now, after two days in Santiago. You have to go to Cabo Finisterra. It’s the most wunderful place I’ve ever seen (Dies ist mein Bus zum Flughafen. Ich fahre jetzt nach zwei Tagen in Santiago nach Hause. Du musst unbedingt nach Cabo Finisterra. Das ist der schönste Platz, den ich je gesehen habe).”

Der Busfahrer klopft bereits ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad und spricht die letzte Aufforderung nur für Edit aus. Rückwärts steigt sie ein und zieht gerade noch rechtzeitig ihre Hand zurück, bevor die Tür sich schließt. Atemlos - angesichts höchstens zweiminütiger tief empfundener Wiedersehensfreude und überstürztem wortlosem Abschiednehmen - winke ich dem sich ganz langsam in Bewegung setzenden Bus hinterher. Eine weitere Überraschung - die in der viel zu kurzen Zeit nicht intensiver hätte sein können - die Santiago de Compostela für mich bereit gehalten hat. Diese Begegnung hat mich regelrecht beflügelt. Edit ist mir ganz besonders ans Herz gewachsen.

Mit Ruddi in der Tasche suche ich ganz weit hinten einen ruhigen Platz im Reisebus und stelle ihn gleich auf den Sitz neben mir, damit sich da keiner mehr hinsetzt. Wohlgemerkt: “No perro!” Er ist Busfahren nicht gewöhnt und ich hoffe inständig, dass alles gutgeht und wir nicht auf halber Strecke rausfliegen. Gott sei Dank habe ich keine Zeit mehr, weiter darüber nachzudenken. Als ich meine Sachen alle gut für die zweistündige Fahrt verstaut habe, interessieren mich die Leute, die um mich herum Platz genommen haben.

Ich träume doch, oder? Vor mir sitzen Luigi, Heinz, Karoline und Monika aus Klagenfurt. Das ist ja ein Ding! “Hola, qué tal, amigos?” Halbherzig drehen sie ihre Köpfe ein wenig nach hinten, um formell zurückzugrüßen. Als sie mich erkennen, reißt es sie aus den Sitzen. “Servus! Das ist ja ein Ding, dass wir im gleichen Bus sitzen! Alles klar bei Dir? Wo ist Ruddi?” Gut dass mein Hund einen ganz normalen Männernamen hat, sonst wüsste jetzt der ganze Bus samt Fahrer, dass ein Hund an Bord ist. “Pssst, der darf gar nicht hier sein - schläft in seiner Tasche hier!” Sie staunen über meine Nervenstärke, so ein Risiko einzugehen. Mir fällt der verlorene Wassernapf ein, aber leider haben sie ihn nicht gesehen, als sie die überfüllte Bar bei Santa Irene verlassen haben.

Es fühlt sich vollkommen fremd, ja sogar falsch an, als sich der Bus in Bewegung setzt. Einen fahrbaren Untersatz zu nutzen, muss ich erst wieder schätzen lernen. Nach der kurvigen Stop-and-Go-Fahrt durch die Stadt, rauschen wir ganz sanft und gemütlich über eine sehr gute Straße in Richtung Atlantikküste. Endlich kann ich die Reise durch die wunderschöne Landschaft genießen.

Gegen Mittag erreichen wir Fisterra. Es riecht so gut nach Meer. Am Hafen setze ich mich auf die Außenterrasse eines Lokals, um einen Café con leche zu trinken. Es hält mich aber nicht lange auf dem Stuhl. Ich habe Hummeln im Hintern. Normalerweise liegen um die Uhrzeit mindestens acht Kilometer hinter mir. Ich verdränge die Busfahrt hierher und mache mich an den drei bis vier Kilometer langen Anstieg nach Cabo Finisterre. Es geht von 8 auf 143 Meter über dem Meeresspiegel über eine Serpentine. Nur ab und zu kommt ein Auto vorbei. Der Atlantische Ozean ist fast die ganze Zeit zu sehen.

Teilweise ist es megasteil. Aber als erfahrene Pilgerin weiß ich ja, wie ich das locker bewältigen kann. „Kleine Schritte, Birgit, mach ganz kleine Schritte“ beruhige ich mich - wie so oft in den letzten 5 ½ Wochen - selbst. Der Himmel wird immer bedrohlicher. Ein Unwetter ist im Anmarsch. Ich hoffe doch, dass es mir nicht meine Ankunft vermasselt. Ich will - nein! - ich muss auf dem berühmten Felsen sitzen, um mit dem Pilgern abschließen zu können. Wie ein Magnet zieht mich dieser Ort an. Ich nehme nichts anderes wahr, außer diesen Felsen und steuere direkt darauf zu.

Eine deutsche Familie spricht mich an. Es sind Tochter und Eltern. Sie strahlen Glück und Zufriedenheit aus. An meinem Rucksack haben sie mich als Pilger entlarvt und wollen wissen, wie weit ich gelaufen bin. Ich unterhalte mich eine Weile mit ihnen. Das Kap läuft mir ja wohl nicht weg. Sie sind besonders daran interessiert, ob mir der Jakobsweg Erkenntnisse über mich selbst und mein Leben gebracht hat. Sie hören mir aufmerksam und gespannt zu. Sie danken mir sogar für meine Bereitschaft, mich ihnen mitzuteilen.

Die Tochter ist wohl Mitte dreißig. Sie kann nicht richtig laufen, seit sie eine ernste Krankheit hatte. Eine Zeitlang war sie sogar an den Rollstuhl gefesselt. Von Woche zu Woche geht es ihr immer besser, worüber sich die Ärzte sehr wundern. Das Geheimnis ihrer stetigen Heilung ist ein inniger Wunsch der jungen Frau. Seit vielen Jahren schon fasziniert sie die Vorstellung, den Jakobsweg zu gehen. Als sie kurz davor war, diese Reise anzutreten, hielt die Krankheit sie ab. Heute ist ihr klar, dass es damals noch nicht der richtige Zeitpunkt war. Denn um ihren Traum des Pilgerns zu erfüllen, muss sie jetzt gesund werden. Sie macht Riesenfortschritte allein dadurch, dass sie sich ständig vorstellt, regelrecht fühlt, bereits auf dem Camino unterwegs zu sein, schaut sich Filme an, liest Bücher darüber, versetzt sich während regelmäßigen Meditationen mit voller Vorstellungskraft in die Situation des Pilgerns und genießt es bereits heute so, als wäre es real. Hierhin „an das Ende der Welt“ ist sie nun gereist, um das Gefühl des Angekommenseins in ihrer Imagination stärken zu können. Sie sagt: „Alles was Du in Gedanken mit viel Gefühl tust, kommt zwangsläufig in Dein Leben. Es kann nicht anders sein. Ich bin ganz sicher, dass ich bald auch real auf dem Weg bin.“ Diese Begegnung werde ich so schnell nicht vergessen. Ich wünsche dieser jungen Frau, dass alle ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Ich weiß, dass es möglich ist, wenn sie weiterhin fest daran glaubt.

Der Felsen müsste wegen Überfüllung gesperrt werden. Zig Pilger sitzen und klettern hier oben rum. Von Ruhe keine Spur. Manche Pilger picknicken oder genehmigen sich ausgelassen ein oder mehr Bierchen. Urlauber klettern mit ihren Kindern auf dem Felsen herum. Es ist ein Kommen und Gehen. Das habe ich mir aber ganz anders vorgestellt. Ich bin nicht in der Lage, auch nur einen Moment zur Besinnung zu kommen.

In der Sekunde, wo ich beschließe, im Restaurant einen Kaffee trinken zu gehen und es später noch einmal zu versuchen, bricht das Unwetter los, das sich schon seit zwei Stunden angekündigt hat. Es stürmt gewaltig, Hagel prasselt auf den Felsen nieder und alle, wirklich alle, flüchten innerhalb kürzester Zeit ins Trockene. Ich bin die Einzige, die es sich genau jetzt hier draußen „gemütlich“ macht. Den Poncho hatte ich schon über dem Rucksack auf meinem Rücken liegen. Ich setze mich auf einen großen Felsblock, nehme Ruddi unter meinem Poncho auf den Schoß, klemm den Saum unter die Oberschenkel und den Hintern und lasse mich von dem Orkan regelrecht durchschütteln. Den Hagel spüre ich gar nicht.

Ich bin eins mit dem Fels. Nichts könnte mich hier wegholen, geschweige denn, wegpusten. Ich genieße regelrecht die tobende Natur. Monatelang habe ich davon geträumt und es gefühlt, ganz alleine auf diesem Felsen zu sitzen. Ich schau mich um, kann es kaum glauben. Es ist wirklich niemand da. Nur ich - und Ruddi. Endlich bin ich angekommen. Ich hatte keine Ahnung, wie macht- und wertvoll ein Orkan auf einem ungeschützten 143 Meter hohen Felsen sein kann.

Er rupft und rüttelt ohne Unterlass an mir rum. Ich erlebe diese Naturgewalten als unbezahlbares Geschenk. Sie schütteln mich aus, wie einen Sack, den man von alten Krümeln befreien will. Ich bin vollkommen leer. Es ist eine höchst angenehme, nie erfahrene Leere, die mir sagen möchte: „Nun kannst Du Dich mit allem auffüllen, das Dir guttut: Frieden, Freude, Glück, Harmonie, Gesundheit, Erfolg, Liebe, Zufriedenheit, Gelassenheit, Zuversicht, Mut und Hoffnung.“

Wenn ich mich mal wieder zu beladen fühle, will ich mich an diese Erfahrung erinnern. Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon sitze. Das Unwetter ist weitergezogen und ganz langsam öffnet sich die Wolkendecke. Es wird heller - genau wie in mir drin. Als die Sonne rauskommt, hab ich sie im Herzen. Während ich auf den Ozean blicke, wird mir klar, wie großartig und weit meine Möglichkeiten sind. Erst auf diesem Felsen kann ich aus voller Überzeugung rufen:

5 1/2 Wochen
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