Sonntag, 18. Mai 2008

Palas de Rei (4812 Einwohner), 570 m üdM, Provinz Lugo

34. Etappe bis Castañeda, 23,4 km

Ganz schön früh heute! Es ist erst halb sieben. Obwohl das Bett warm und gemütlich ist, zieht mich eine unsichtbare Kraft aus den Kissen. Nach einem guten Frühstück stapfe ich frohgemut los. Den Regenponcho habe ich griffbereit über dem Rucksack liegen. Sollte es anfangen zu regnen, muss ich ihn lediglich noch über den Kopf ziehen. Das funktioniert hervorragend, dauert nur wenige Sekunden - auch wenn es stürmt. Ja, ja! Der Pilger lernt täglich sehr nützliche Dinge hinzu. Der Himmel ist grau, es ist windig und kühl. Ich glaube es selbst kaum, aber das ist mir inzwischen lieber, als wenn es zu heiß ist.

Bereits nach wenigen Kilometern schüttet es wie aus Kübeln. „Hallo! Ihr da oben! So war das nun auch wieder nicht gemeint! Dreht bitte den Hahn wenigstens ein bisschen zurück! Seht Ihr denn nicht, dass ich über Vieh- und Feldwege laufen muss?“ Volle Konzentration ist angesagt: Schuhe schön fest binden, damit sie nicht im Schlamm stecken bleiben. Die großen Steine vorsichtig auf Rutschgefahr überprüfen. Die Pfützen ins Visier nehmen, denn sie könnten tiefer sein, als es scheint. Hinzu kommt, dass es stetig abschüssig und stark ansteigend über Hügel geht.

Durch den starken Wind fühlen sich die Temperaturen fast winterlich an. In Laboreiro trinke ich nicht nur einen heißen Café con leche zum Aufwärmen, sondern zieh mir das dickste Shirt drüber, das ich dabei habe. Seit einiger Zeit rubbel ich Ruddi in den Pausen soweit es geht trocken und decke ihn zu, damit er wieder auf normale Betriebstemperatur kommt.

Bei dem Wetter scheinen die Kurzpilger nicht „on the road“ zu sein. Jedenfalls bin ich relativ alleine unterwegs. Ich will ja nicht meckern, aber die Pfade durch die Wälder gestalten sich zunehmend qualvoll. Nur sehr langsam komme ich voran. Ab und zu überholen mich Radpilger. Nein, nicht in die Pedale tretend! Ich sehe sie ihre Räder schieben. An manchen Stellen müssen sie sogar die Gepäcktaschen runternehmen, getrennt vom Rad über große Strecken tragen, um anschließend ihren eigentlich fahrbaren Untersatz auf der Schulter durch die Matsche zu schleppen. Sie ächzen unter der Last, fluchen ganz böse und sind nicht ansprechbar. Beim Anblick ihres Tuns fühle ich mich, als hätte ich das große Los gezogen.

Der Regen lässt nicht nach, aber nach 15 Kilometern sind die Wege endlich wieder leichter begehbar. Bei schönem Wetter wäre es ganz besonders hier auf diesen verschlungenen Pfaden, die durch eine Reihe gediegener kleiner Weiler führen, märchenhaft. Ich würde mich nicht wundern, wenn ein schöner junger Prinz auf einem stolzen Pferd daher geritten käme, um Dornröschen aus dem Schlaf wach zu küssen.

Mir fallen einige der landestypischen Hórreos (Getreidespeicher) auf. Sie sehen aus wie kleine Kunstwerke. Hórreos haben als Schutz vor Nagetieren Steinplatten auf den hohen Stelzen direkt unter der eigentlichen Kammer. Die Lüftungsöffnungen sind klein genug, um Vögel vom Lagergut fernzuhalten. Sie sind in Galicien oftmals denkmalgeschützt.

Die dichten Wälder bei Melide mit ihren Eichen, Pinien und Eukalyptusbäumen verströmen einen ganz intensiven, wunderbaren Duft. Ich lade gerade mit tiefen Atemzügen meine Batterien auf, als sie schnaubend die malerische Idylle aufmischen. Es wirkt weiterhin wie eine Hetzjagd. Strammen, aber oft unkontrollierten Schrittes, überholen mich einige der 100-Kilometer-Pilger. Ohne ein Wort ziehen sie stolpernd und kopfschüttelnd an mir vorbei. Ich muss aufpassen, dass sie mich auf den schmalen Pfaden nicht umstoßen. Ich komme mir vor, als wäre ich ein lebloses Hindernis, das sie im nächsten Ort dem Förster als Pilger-Stolperfalle melden müssen, damit es aus dem Weg geräumt wird. Ich rufe ein zwar abgekämpftes, dennoch fröhliches „Buen camino“ hinter ihnen her - möchte sie zur Besinnung bringen - aber sie hören mich nicht oder können nichts mit meinem Gruß anfangen. Vielleicht halten sie das auch für eine Beleidigung. Ich tu es ungern, aber ich gebe zu: Es fällt mir echt schwer, die Ambitionen dieser Pilger zu erkennen.

In Melide mit seinen über 8000 Einwohnern mache ich eine lange Pause in einer Bar. Ich hoffe, wie die vielen anderen Pilgern auch, dass der Regen zumindest ein bisschen nachlässt. Die Stimmung ist explosiv. Es ist sehr laut. Die Gespräche, denen ich lausche, haben nichts mehr mit dem zu tun, wie ich es in den letzten Wochen erlebt habe. Sie erzählen von familiären Problemen, von ihren Schwierigkeiten im Beruf und den neuesten politischen Nachrichten, die sie mitgebrachten Zeitungen entnehmen. Viel zu viele Frauen fühlen sich nicht schick genug, jammern über ihre nassen Haare und ihr durch den Regen verlaufenes Makeup.

Am liebsten würde ich ein „Ist Euch das nicht zu anstrengend?“ beherzt in den Raum werfen. Aber ich bin davon überzeugt, dass keiner dieser Pilger wüsste, wovon ich überhaupt rede. Ich fühle mich einsam. Selbst in den Bars finde ich keine Pilger mehr, mit denen ich mich wirklich austauschen kann.

Richtung Boente geht es weiter durch die dichten, wohl duftenden Wälder. Im Augenblick kommt kein Wasser vom Himmel. Der Wind hat deutlich nachgelassen. Auf einem geländerlosen schmalen Steg über einen kleinen Bach sitzt ein junges Pärchen. Beide halten ihre nackten Füße in das kalte Wasser und genießen es sichtlich. Sie sprechen mich an, fragen, wie es mir geht und ob mir nicht auch die Füße höllisch wehtun, vom anstrengenden, verkrampften Laufen. „Ja, sie schmerzen. Aber ich würde sie auf keinen Fall ins Wasser halten. Die Haut wird weich und die Gefahr, sich Blasen zu laufen, ist dann viel größer.“ Die zwei sind zwar anderer Meinung, entschließen sich aber doch, die Schuhe wieder anzuziehen und ein Stückchen mit mir zusammen zu laufen.

Die beiden hat mir der Himmel geschickt. Sie sind seit 200 Kilometern unterwegs und richtig gut drauf. Wir unterhalten uns angeregt. Jeder interessiert sich für den anderen. Anekdoten kommen zur Sprache, die uns vor Lachen die Tränen in die Augen treiben. Es ist herrlich. Und plötzlich, als wenn einer oben im Baum säße und nur darauf gewartet hat, uns nass zu machen, öffnet Petrus wieder seine Schleusen. Dieses Mal so gewaltig, dass wir uns vor Schreck wie die Kinder an die Hände nehmen und unter einen großen niedrigen Baum flüchten. Ich habe meinen Poncho schnell im Griff, aber die beiden waren völlig arglos und müssen ihren Regenschutz, den sie eben erst weggepackt haben, wieder aus dem Rucksack kramen. Zum Glück ist nicht viel Wind. Obwohl wir bestimmt vor Lachen in die Hosen gemacht hätten, wenn sie den Einstieg in ihre Ponchos nicht gefunden hätten.

Nach ein oder zwei Kilometern geht wieder jeder in seinem eigenen Tempo den Jakobsweg. „Buen camino!“ Diesmal bekomme ich einen herzlichen Gegengruß. In Boente angekommen, läuft mir das Wasser aus der klitschnassen Hose in meine Schuhe. Ich weiß nun, warum ich heute Morgen so früh losgegangen bin. Ich habe nämlich jetzt lediglich noch zweieinhalb Kilometer vor mir und kann den heftigen Regen, gemütlich in einer Bar sitzend, vorüberziehen lassen.

Ich habe gerade meinen heißen Café con leche vor mir stehen, als ganz aufgeregt eine junge Japanerin den Raum betritt. Sie hält ihre Hände zu einer Kugel geformt schützend über ein winziges Kohlmeisen-Baby. Auf Englisch flüstert sie fassungslos: „Es kann nicht mehr fliegen. Ich habe es im Wald aufgesammelt. Was soll ich denn jetzt machen? Jemand muss dem Vogel helfen! Bitte!“ Der holländische Wirt antwortet darauf viel zu lässig: „Setz ihn draußen vor die Tür. Der ist gerade einfach nur völlig geschockt, weil er in Deiner Hand gefangen ist. Du hättest ihn gar nicht aufheben dürfen. Glaub mir, dem fehlt nichts!“ Entsetzt über so viel Herzlosigkeit wendet sich die junge Frau an mich. Sie lehnt sich über den Tisch und öffnet ihre Hand. Ich bin tief berührt. So ein kleines Häufchen Elend habe ich noch nie gesehen. Sie hat es fürsorglich auf ein weiches Taschentuch gelegt. Das Vögelchen guckt ganz aufgeregt von einem zum anderen, gibt leise Töne von sich und rappelt sich nach ein paar Minuten sogar auf, steht zitternd auf seinen zerbrechlichen Beinchen.

Wenn ich nicht wüsste, dass der Vogel flugunfähig ist, hätte ich vor Panik hysterisch schreiend den Raum verlassen und jemand müsste mich draußen einfangen, damit ich nicht bis Santiago durchrenne. Das ist eine echte Phobie bei mir, die mir schon oft überaus peinlich war. Das ist so unlogisch: Ich finde Vögel so wunderschön und beobachte sie sehr gerne bei der Futtersuche und ein bisschen neidisch, wenn sie durch die Lüfte gleiten. Ich höre ihnen fasziniert zu, wenn sie ihre Lieder trällern und frage mich, wie es möglich ist, dass ein kleiner Singvogel so einen Riesen-Klangkörper haben kann. Im Grunde meines Herzens liebe ich alle Vögel, große und kleine. Sie dürfen nur nicht auf mich zugeflattert kommen. Dann knallen mir die Sicherungen durch. So heftig, wie es sich niemand vorstellen kann. Ich gerate dann völlig außer Kontrolle.

Vor der Bar auf der überdachten Terrasse finden sich ein paar Bekannte der Vogelretterin ein. Sie verabschiedet sich von mir und bittet draußen um Hilfe. Sie öffnet ihre Hand und bevor die anderen genau wissen, worum es überhaupt geht, sehe ich, wie die junge Frau lachend ihren Kopf einzieht. Ihre Hände sind leer. Das Taschentuch liegt auf dem Tisch. Der Vogel hat sich in ihren langen Haaren verfangen und zappelt wild mit den Flügeln schlagend darin rum. Ein junger Mann kann das Baby schnell befreien und es flattert ohne einen Piep des Dankes fröhlich davon. Naja, wofür sollte sich das Vogelkind auch bedanken. Es wollte auf dem Waldweg, wo es entführt wurde, wahrscheinlich nur ein kurzes Nickerchen halten. Mir wird jedenfalls im Nachhinein noch ganz anders und ich bekomme einen Schweißausbruch. Wenn das Tierchen drinnen losgeflogen wäre, hätte ich ohrenbetäubend schrill gekreischt, der Vogel wäre einem Herzinfarkt erlegen und die hiesige Zeitung hätte für Morgen ihre Schlagzeile für das Titelblatt.

Auf den Schreck brauche ich noch einen Café con leche. Ich muss mich alleine wieder beruhigen. Meine Phobie bleibt mein Geheimnis, zumindest in dieser Bar in Boente. Gegen fünf mache ich mich an die letzten nassen zweieinhalb Kilometer dieser Etappe. Ich überlege, mir ein Paddelboot zu kaufen.

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