Dienstag, 20. Mai 2008
Rúa (ca. 50 Einwohner), ca. 400 m ÜdM, Provinz La Coruña
36. Etappe bis Santiago de Compostela, 21,4 km
Fast alle Pilger - und es sind viele - die ich beim Frühstück erlebe, kommen heute noch in Santiago an. Die meisten sind aufgeregt, voller Vorfreude - einfach völlig aus dem Häuschen. Ich wäre so gerne mit ihnen ausgelassen und überglücklich, das heißersehnte und schwer erkämpfte Ziel endlich zu erreichen. Aber ich bin im Moment nicht Fisch und nicht Fleisch, weiß nicht, was ich davon halten soll. Alleine trinke ich in all dem Trubel meinen Café con leche ganz langsam aus. Ob Ruddi schon ahnt, dass es die letzte Etappe zu laufen gilt? Findet er das gut? Achim hat in Belorado gescherzt: „Wenn Ruddi erst wieder zuhause auf der Couch liegt, wird er nie wieder Gassi gehen wollen. Mit Dir weiß er ja nie, wie und wo das enden wird.“
Aus meiner Sicht ist das so: Nach 5 ½ Wochen ohne Couch, freue ich mich unbändig darauf, mich auf ihr zu lümmeln. Bei Regen einfach nicht vor die Tür zu gehen, ist mehr als verlockend. Es wird toll sein, die Sonne dösend oder mit einem Buch im Liegestuhl zu genießen. Die Gewissheit zu haben, mich abends - ohne Zimmersuche - einfach in mein Wasserbett legen zu können, ist Gold wert. Es wartet aber auch der Alltagstrott auf mich und wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich darauf locker verzichten. Das wusste ich vor dieser Reise gar nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich es genießen könnte, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute einfach immer weiter zu gehen, ohne zu wissen, was als nächstes passiert; nicht umzukehren, um vielleicht Vergessenes nachzuholen oder Schönes zu wiederholen. Nach 5 ½ Wochen ständigen Loslassens weiß ich, dass genau das der Sinn des Lebens ist, dass ich am Wegesrand die Geschenke des Lebens einfach pflücken kann, wenn mein Herz offen ist.
Ich muss weg! Tief Luft holen und einfach so tun, als wäre das ein ganz normaler Pilgertag. Was das Ende bringt, erfahre ich noch früh genug. Ich entscheide mich für das Hier und Jetzt. So habe ich das die letzten 37 Tage gemacht, warum soll das heute anders sein? Nicht, dass ich die letzten Überraschungen verpasse, nur weil meine ganze Konzentration auf Santiago de Compostela und dem „Danach“ liegt. Ich will heute noch so viele Erlebnisse pflücken, wie eben möglich.
Ich gehe die 21 Kilometer locker und gemütlich an. Entspannt spaziere ich in Pedrouzo an netten, gepflegten Einfamilienhäuschen vorbei. Ich bin ganz entzückt, als ich in einem Vorgarten eine Hundemutter ausgelassen mit ihrem Welpen spielen sehe. Aus einigen Metern Entfernung beobachte ich das seltene Schauspiel. Mir fällt sofort die schwarze Hündin ein, die jetzt daheim bestimmt auch mit ihren Babies spielt. Die Hausbesitzer und ihre Kinder beaufsichtigen liebevoll lächelnd und zurückhaltend Hunde-Mama und Baby. Ich habe vor Rührung Tränen in den Augen. Leise nähere ich mich ihnen. Sie grüßen und ich kann meine Neugier nicht zurückhalten.
Die Unterhaltung mit Händen und Füßen ist natürlich holprig. Aber wenn ich die Leute richtig verstehe, ist das vermeintliche Baby bereits zwei Jahre alt und die angebliche Hundemama wohnt hier gar nicht. Die Tiere spielen einfach nur zufällig miteinander. Sie wissen nicht, wo der schwarze Hund hingehört. Ich kann das gar nicht glauben, frage sicherheitshalber nochmal nach. Aber sie bleiben bei ihrer Aussage. Anstatt einfach weiterzugehen, kann ich mich gar nicht losreißen, von den herumtollenden Vierbeinern. Ruddi zieht sich vornehm zurück. Sein Verhalten drückt aus: „Für so einen Unsinn bin ich zu alt. Und überhaupt: Es wäre besser für uns, wenn wir einfach weitergehen. Komm schon!“
Zwei Minuten später weiß ich warum! Die schwarze Hündin hat genug gespielt und kommt nun schwanzwedelnd und laut junksend auf mich zugerannt. Sie will mir sagen: „Endlich! Wo bleibst Du denn? Ich warte schon die ganze Zeit auf Dich! Ich zeig Dir den Weg nach Santiago. Los, wir gehen!“ Sie steht hautnah vor mir und guckt mit großen, treuen Augen zu mir hoch. Die Leute sind natürlich völlig irritiert. Ich werde gerade verrückt. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Ich träume doch!
Ich flehe das spanische Ehepaar an, diesen Hund im Garten zu halten, bis ich weit genug weg bin. Aber sie lassen sich nicht darauf ein. Wahrscheinlich glauben sie, ich hätte ihn aus Deutschland mitgebracht und wollte ihn hier loswerden. Ich versuche, ihnen die Geschichte von gestern zu erzählen - sie können oder wollen mich nicht verstehen. Ich kann es den beiden nicht übel nehmen, denn die Hündin ist so brav an meiner Seite, als hätte ich sie bereits als Welpen zu mir geholt. Zu allem Überfluss lässt das Verhalten zwischen Ruddi und ihr auch keinen anderen Schluss zu. Mir bleibt nichts anderes übrig, als nun wieder mit zwei Hunden an meiner Seite weiterzugehen.
Am Ortsausgang bitte ich einen alten Señor um einen Tipp wegen eines zugelaufenen Hundes. Er sagt: „Mach Dir keine Sorgen. In dieser Gegend laufen sie oft ein paar Kilometer mit den Pilgern und kehren dann freiwillig wieder um.“ Damit ist er durch und geht seiner Arbeit wieder nach. Na, dann will ich das mal glauben.
Es ist sehr heiß heute. Meine letzte Etappe wird von strahlendem Sonnenschein begleitet. Bei Labacolla führt der Camino de Francés den Pilger um das gesamte Flughafengelände herum. Er ist sehr angenehm zu gehen, will aber einfach kein Ende nehmen. Hier treffe ich auf den redseligen Jesus. Nein, ich meine nicht Gott. Jesus ist ein spanischer Pilger, geschätzte 65 Jahre alt und federnden Schrittes unterwegs. Er ist sehr temperamentvoll, seine Augen strahlen vor Lebenslust. Er staunt nicht schlecht, als ich ihm erzähle, dass ich in Frankreich gestartet bin. Am liebsten wäre ihm, ich hätte alles mit der laufenden Kamera festgehalten. Tausend Fragen prasseln auf mich nieder und ich habe Spaß daran, zu antworten. Wahrscheinlich gehen hinter uns Pilger, die sich köstlich über unsere wild fuchtelnden Hände und Arme amüsieren.
Mir nichts, dir nichts, liegt der Flughafen weit hinter uns und wir befinden uns auf der Zielgeraden zu einer Bar in San Paio. Plötzlich bleibt Jesus stehen, sieht mich durchdringend an, nimmt meine Hand und führt sie langsam in Bauchhöhe zu sich hin. Ich halte die Luft an! Was kommt denn jetzt? Die Sekunden werden zu Minuten. Mein Knie ist schon zum Abschuss bereit. Ich allein weiß: „Señor, noch eine falsche Bewegung, dann...“ Endlich dreht er sich zur Seite und führt meine Hand an seinen Rucksack. Ich soll da was rausholen. He? Was soll ich? „Jesus! Zieh das Ding aus und nimm Dir selber was Du brauchst!“ denke ich. Aber nein! Ich muss da ran.
Bis ich begriffen habe, dass es um ein kleines Fläschchen mit medizinischem Alkohol geht, haben uns drei Pilger überholt. Einer grüßt und lacht. Der Zweite grüßt und schüttelt den Kopf, weil wir im Weg stehen. Der Dritte fragt, ob er helfen kann und grüßt dann erst. In meinem Hirn rattert es: „Wie und wann könnte ich diesen Jesus abhängen? Das wird mir langsam zu viel!“
Er hingegen freut sich, öffnet das Fläschchen und reibt mir ohne Vorwarnung den Unterarm mit dem Zeug ein. Nachdem ich den ersten Schreck überwunden habe, nehme ich den angenehm erfrischenden Duft der Tinktur wahr und gestehe, dass das Zeug erstaunlich gut tut. Jesus schmeißt seine Jacke auf den Wegesrand und will, dass ich mich darauf setze. Ich will das nicht, habe keine Ahnung was er vorhat. Jedenfalls ist mir das nicht geheuer. Ich bin froh, dass auf dieser letzten Etappe wirklich viele Pilger unterwegs sind und ich mit diesem kleinen, überaus quirligen Mann nicht länger als zwei oder drei Minuten am Stück alleine bin. Viel Gestik und Mimik geben mir zu verstehen: „Zieh Dich aus und lass Dich verwöhnen!“
Ich kann mich nicht mehr halten, bekomme einen Lachanfall. Meine Fantasie geht mal wieder mit mir durch: „Ein G’spusi mit Jesus! Das können auch nicht viele von sich behaupten.“ Endlich begreift auch er, wie sein Benehmen auf mich wirkt, lacht mit: „No, no, sólo quiero los pies (nein, nein, ich will nur deine Füße)!“ Er meint es wirklich so! Er will mir Hier und Jetzt die Füße massieren. So verlockend das auch sein mag, ich setze mich entschlossen in Bewegung und er läuft sofort mit. Den Señor abzuhängen, wird mir nicht gelingen. Er ist viel zu schnell für mich. Ich überlege kurz, wie der spanische Befehl für „Fass, Hündin“ heißen könnte. Meine beiden Perros interessiert das ganze so gar nicht. Die sind sich einig und mit Schnuppem beschäftigt.
Zusammen erreichen wir die Bar. Die große Terrasse ist voll besetzt. Jesus will mit mir gemeinsam kuschelig drinnen sitzen. Ganz davon abgesehen, dass das so gar nicht meinen Vorstellungen und Wünschen entspricht, erkenne ich schon im Ansatz das Scheitern seines Vorhabens. Auf den breiten Stufen vor dem Lokal haben es sich die vielen Pilger „gemütlich“ gemacht. Drinnen ist soviel los! Die Bude ist gerammelt voll. Gibt es was umsonst? Oder tanzt der Papst im Kettenhemd!? Es ist jedenfalls aussichtlos sich bis an die Theke vorzuarbeiten. Jesus befiehlt mir, an Ort und Stelle zu warten, er wolle die Getränke besorgen. Ich zeige begeistert auf eine Kellnerin, die hier draußen bedient und spinkse nach einem freien Stuhl. Mein neuer Pilgerkumpel will das aber nicht. Ich soll warten. „Nein, Amigo, ich setz mich jetzt hier draußen hin, mach was Du willst!“ Wenn Blicke töten könnten, käme ich nicht mehr in Santiago an. Jesus ist sauer. Warum? Es wird wohl für immer sein Geheimnis bleiben. Jetzt weiß ich, er spinnt wirklich ein bisschen und überlasse ihn sich selbst und seinen Launen.
Noch bevor er im Lokal verschwindet, finde ich einen freien Platz und setze mich zu drei Münchnerinnen an den Tisch. Von hier aus sehe ich noch, wie mein Begleiter ungefähr eine Viertelstunde später mit zwei Getränken raus kommt. Sein Blick belegt mich mit einem Fluch und er trinkt - auf der Treppe sitzend - demonstrativ abwechselnd aus beiden Gläsern.
Die drei Münchnerinnen erinnern mich sehr an die vier Mädels, mit denen ich meine allererste Nacht meiner Pilgerreise in Saint Jean Pied de Port verbracht habe. Diese Frauen habe ich das letzte Mal auf meiner zweiten Etappe durch die Pyrenäen bei der lebensmüden Braut, die sich Gott sei Dank als Statue entpuppte, gesehen. Hängen geblieben ist bei mir der penetrante Geruch, den im fensterlosen Herbergszimmer ihr Stinkkäse verbreitete. Hier und jetzt muss ich das Gleiche in der prallen Mittagssonne durchmachen. Auch sonst ähneln sich die Münchnerinnen damals und heute sehr. Sie legten auf „ihrem“ Weg viel Wert auf Organisation und Planung und sind in der Lage, alles aus ihren Rucksäcken hervorzuzaubern, was für Eventualitäten gebraucht werden könnte. Das Geschirr und Besteck, das momentan auf diesem Tisch steht, verstauen sie auch nach und nach wieder. Den Käse haben sie ebenfalls mitgebracht. Tja, es sind eben Münchner Dirndl. Die lassen hier in Galicien ihr einzigartiges heimatliches Biergartenflair aufleben.
Die Hälfte der heutigen Etappe liegt hinter mir. Jesus hat sich abgesetzt. Die schwarze Hündin läuft treu und brav neben mir und Ruddi her. Ich bin zwar erst eine halbe Stunde wieder unterwegs, aber diese kleine Herberge, an der ich gerade in Villamaior vorbeikomme, lockt mit zwei Tischen und vier leeren Stühlen vor der Eingangstür. Sie „ruft“ mich förmlich: „Café con leche? Ganz in Ruhe? Wär das was?“ „Na klar! Es ist erst zwei Uhr!“
Ich stelle meine Sachen draußen ab und hole mir einen Kaffee, nicht ohne zu fragen, was ich mit einem zugelaufenen Hund machen könnte. „Nichts, der geht schon wieder!“ Ja, klar! Fragt sich nur wann? Ich fühle mich ziemlich alleingelassen mit meinem Problem. Als ich mit lecker Café con leche wieder rauskomme, liegen meine Perros einträchtig am Tisch und haben fein meinen Platz freigehalten. Ich bin hin- und hergerissen. Einerseits möchte ich unbedingt mit Ruddi alleine in Santiago einlaufen, andererseits hat die Hundedame schon lange mein Herz erobert.
Bei einem weiteren Kaffee lerne ich zwei Pilgerinnen kennen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Jüngere ist eine typische Chef-Sekretärin, die Ältere kennt alle Krankheiten, die es auf dieser Welt gibt. Und sie hat sie natürlich auch alle schon gehabt oder noch vor sich. „Da muss man durch. So ist das Leben.“ Jetzt sitzen sie hier und wissen nicht weiter. Die Kranke kann keinen einzigen Meter mehr laufen und hat sich ein Taxi bestellt. Die Sekretärin möchte weinen, weil sie nicht fahren will. Seit hunderten Kilometern plagt sie sich schon mit den nicht wirklich vorhandenen Krankheiten ihrer Begleiterin ab und ist nervlich am Ende. Als das Taxi fünf Meter von uns entfernt hält, sieht sich der Fahrer veranlasst, die gebrechliche Pilgerin fast ins Auto zu tragen. Sie hängt wimmernd an seiner Seite. Die beiden entfernen sich nur schleppend. Ich habe ernsthaft Sorge, dass sie es nicht mehr bis zum Auto schafft. Sie wirft ihrer Freundin, die sich durchgesetzt hat und die drei Kilometer bis Monte do Gozo allein und zu Fuß geht, einen bitterbösen Blick zu.
Nun sitze ich mit einer Frau am Tisch, die das Gefühl hat, die größte Verräterin aller Zeiten zu sein. Sie hat Tränen in den Augen und bittet mich so inständig um Hilfe, als wäre sie eine Gefangene der Situation und des Hypochonders. Sie wäre viel lieber von Anfang an alleine unterwegs gewesen. Als sie vor fast einem Jahr auf die Idee kam, den Jakobsweg zu gehen, fand die andere das grandios und beschloss, mitzumachen. Sie fragte gar nicht danach, ob das erwünscht ist. Mein Gegenüber hat zwar alle Bedenken ihr gegenüber geäußert, kam damit aber nicht durch. Die Kranke sagte immer nur: „Du wirst sehen. Das wird toll. Auf dem Jakobsweg werde ich bestimmt wieder gesund. Ich passe mich auch Deinem Tempo an.“ Fatal! Angepasstes Tempo kann nicht gesund machen!
Wie furchtbar muss es sein, den Camino Francés gezwungenermaßen mit jemandem zu laufen, der ständig jammert. Wie selbstlos ist die junge Frau? Rücksicht auf jemanden zu nehmen, der trotz seiner Krankheiten entschieden hat, sich ihr auf einer Pilgerreise regelrecht aufzudrängen? Wie viel Egoismus kann man sich gefallen lassen? Was ist mit der Liebe zu sich selbst? Diese Frau, die mir jetzt gegenüber sitzt, ist durch ihre Rücksicht nun psychisch krank. Oder war sie es schon vor Antritt der Reise? Mit sich alleine auf dem Jakobsweg, wäre sie dahinter gekommen, dass sie anderen nur helfen kann, wenn sie sich selbst helfen wollen. Und sie hätte gelernt, wie wichtig es ist, sich selbst zu lieben. Sie wüsste jetzt, dass andere ihr nur so viel Liebe und Verständnis entgegenbringen können, wie sie sich selbst in der Lage ist zu geben. Ich kann ihr nur sagen: „Die Freundin zeigt Dir durch ihr Verhalten nur, wie Du mit Dir umgehst. Nicht mehr und nicht weniger. Ich glaube, das Du Dich so intensiv mit ihr auseinandersetzt, um Dich selbst nicht wahrnehmen zu müssen!“ Ich lasse sie mit diesem Gedankenanstoß alleine. „Buen camino!“
Bei San Marcos fährt ein Streifenwagen so langsam an mir vorbei, dass mir die Zeit bleibt, auf die Idee zu kommen, die Obrigkeit um einen tierischen Rat zu bitten. Vielleicht ist ein zugelaufener Hund ja für sie Routine. Sie wollen mich überhaupt nicht verstehen, nichts damit zu tun haben. Nach einem kurzen Schulterzucken fahren sie einfach weiter. Unverschämtheit! Ich muss trotzdem grinsen, als die Hündin dem Polizeiwagen genauso perplex hinterher sieht, wie ich es tue.
Gegen halb vier stehe ich tief beeindruckt in Monte do Gozo. Auf einem steilen, weiträumig eingezäunten Hang wurden mindestens eine Million kleine Flachbauten errichtet, in denen man übernachten kann. Es ist keine richtige Herberge, aber ich weiß schon seit vielen Tagen, dass dies ein Pilgermagnet ist. Es soll ganz toll sein, sich hier einzumieten. Es sind nur noch knappe fünf Kilometer bis nach Santiago. Für meinen Geschmack zu nah am Ziel, um noch einmal zu übernachten. Aber auch zu weit für den Pilger, um von der Kathedrale aus lediglich zum Schlafen zurückzulaufen. Ich gehe fest davon aus, dass es in Santiago de Compostela hunderte Hotels, Hostals und Herbergen gibt. Warum will ein Pilger in einer Kaserne nächtigen?
Ich öffne das Tor, um mir das Gelände mit seinen nüchternen Bauten aus der Nähe anzusehen. Ordentlich wie ich bin, schließe ich es natürlich auch sorgfältig wieder. Au! Moment! Jetzt hab ich meiner zugelaufenen Hündin doch glatt die Tür vor der Nase zugeschlagen. „Tschuldigung, dann komm schnell!“ Wow! Wie blöd kann ich eigentlich sein? Ich war sie doch schon los! Mach ich Depp das Tor nochmal auf! Fassungslos stehen wir uns gegenüber und schauen uns fragend an. Ich vermute, dass das hier schon öfter ihre Endstation mit einem Pilger war und sie mir nur noch „Adiós y gracias por todo“ sagen wollte. Ich probier’s! Mach das Tor nochmal auf und habe den Schimmer einer Hoffnung, dass sie zurückgeht. Ach, was red ich lange. Natürlich fühlt sie sich von mir eingeladen und bleibt.
Ich lasse die Stimmung in dieser Massenanlage auf mich wirken. Es scheint alles ausgebucht zu sein. Hunderte Pilger tummeln sich hier. Vielleicht entdecke ich die Faszination ja innerhalb eines dieser Gebäude. Ich treffe auf zwei Frauen, die mit ihrer Wäsche beschäftigt sind. Ich fange ein Gespräch an und finde heraus, dass es darum geht, mit so vielen Pilgern wie möglich am gleichen Ort zu sein. „Aber dafür gibt es doch die Pilgermesse.“ „Das ist was anderes.“ Ja, dann!
Nach einem endlos scheinenden steilen Weg hinunter zur Rezeption, betrete ich das Touristikzentrum. Es ist das größte, das ich auf dem gesamten Camino Francés zu Gesicht bekommen habe. Die wissen doch bestimmt, was ich mit dem Hund machen soll. Die rufen das Tierheim an und lassen ihn abholen, damit er gut versorgt wird, oder? Ja! Das würden sie machen! Wenn ich für die Kosten aufkomme. Na, dann fällt das raus!
Die überaus sympathische Señorita hinter dem Schalter beruhigt mich: „Mach Dir keine Sorgen. Die Hunde im Umkreis von 50 Kilometern laufen ständig den Camino mit einem netten Pilger rauf und runter. Er wird bis zur Kathedrale mitgehen und dann den Heimweg antreten. Nimm ihn als compañero cariñoso (liebevolle Begleitung)!“ Mir bleibt nichts, als die Angst, dass mir das liebgewonnene Tier in der großen Stadt unter die Räder kommt.