gleicher Tag (insgesamt 637,2 km gelaufen) Alto do Poio (Padornelo, 2 Höfe), 1270 m üdM, Provinz Lugo
Hostal, Doppelzimmer, 35 € inkl. Abendessen, ohne Frühstück
Wie ein frisch geschlüpftes Küken aus dem Ei hervor gekrochen kommt, tauche ich wie durch ein Wunder Zentimeter für Zentimeter auf einem Parkplatz aus den Bäumen auf. Langsam mache ich mich gerade, schüttel den Regen aus meinen Federn, ähm, aus dem Poncho und schau mich - vor lauter Freude es geschafft zu haben, komplett aus dem Häuschen - neugierig um. Nebel, Regen, Sturm, fortgeschrittene Uhrzeit, drei Kilometer vor Fonfría, körperlich am Ende, links und rechts von der Landstraße jeweils ein Hotel. Ich muss hierbleiben. Die Akkus sind leer. Ich habe die Wahl zwischen zwei Häusern, genau wie in Hospital de Órbigo. Da hatte ich mich am Kreisverkehr für rechts entschieden und landete im „Rotlicht-Milieu“. Dann geh ich doch besser gleich links über die Straße.
Ich betrete einen zwei Quadratmeter kleinen, dunklen Eingangsbereich mit einem engen Schalter, wie es ihn früher vor den Kinos gab. Dahinter hält sich eine dürre, langhaarige blonde Frau auf. Sie fragt, ob ich übernachten möchte. Wenn ich auch nur noch ein bisschen Kraft hätte, würde ich mich sofort vom Acker machen, aber es geht nicht mehr. Mit einem mulmigen Gefühl nicke ich. Bin fast froh, dass Ruddi an der Leine neben mir steht. Vielleicht haben wir ja das „Glück“ rauszufliegen, wenn sie einen Hund entdeckt. Wenn er hier keinen Einlass findet, versuche ich es inzwischen gern auf der anderen Straßenseite. Ich lasse die Señorita entscheiden.
Die Frau kommt mit einem Zimmerschlüssel um den Schalter herum, sieht meinen Hund, zögert kurz, sagt aber nichts, sondern zwängt sich an mir vorbei auf die Treppe. Ich krabbele hinterher. Von einem langen, dunklen Flur aus, gehen wir in mein Reich für eine Nacht. Es wird nicht heller. Sie macht das Licht an, damit wir überhaupt etwas erkennen können.
Der vernachlässigte Raum ist vollgestopft mit heruntergekommenen alten Möbeln. Direkt neben der Tür ist ein „antikes“ Schätzchen von Kleiderschrank zuhause. Ein riesiges Bett, mit einer unglaublich dicken, dunkel gemusterten Tagesdecke, steht, eingerahmt von zwei Nachtschränkchen, links an der Wand. Rechts befindet sich ein mickriger Holzstuhl mit dünnen Beinen, abgenutzter Lehne und Sitzfläche. Ihm gegenüber ist die Tür zum Bad. Ich werfe einen Blick hinein. Ganz primitiv, aber einigermaßen sauber und mit Fenster. Ich staune darüber, dass es draußen noch relativ hell ist und hier drinnen so unglaublich dunkel. Und es ist eiskalt in diesen Räumen. „Ésta bien (alles in Ordnung)?“ werde ich vorsichtig gefragt. Will ich wirklich? Bekomme ich überhaupt ein Auge zu in diesem Loch? Ach egal, ich bleibe! Es ist ja nur für eine Nacht. Ich lege meinen Rucksack auf das Bett und gehe mit der Señorita wieder runter. Ich brauche jetzt erst mal was Heißes zu trinken.
Im Gastraum haben sich einige Pilger niedergelassen. Auch hier setzt sich der Stil des Eingangsbereichs und Zimmers fort. Ich friere. Und dieser Raum kann daran nichts ändern. Das Haus ist alt und hat wahrscheinlich keine Heizung. Der Kamin neben dem Tisch, an dem ich Platz genommen habe, ist zwar voller Asche, aber kalt und duster. Etwas unglücklich und trotzdem zufrieden, dass ich endlich sitzen darf, trinke ich den heißen Kaffee. Ruddi liegt auf meinem Schoß und gibt mir von seiner Wärme ab.
Plötzlich wird die Tür zum Schankraum heftig aufgestoßen und ein Riese stapft herein. Schnell ist klar, dass es sich um den Wirt handelt. Er hat große Holzscheite unterm Arm und schmeißt sie lieblos und polternd vor den Kamin beziehungsweise meine Füße. Vor Schreck entfährt Ruddi ein kurzer Beller. Wir wissen beide sofort, dass das keine gute Idee war. Angeekelt raunzt der Mann mich auf Spanisch an. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er Hunde unter keinen Umständen duldet. Er zeigt Richtung Tür. Will der mich etwa rausschmeißen? Da ich sitzen bleiben will, muss ich das ignorieren, lo siento!
Ich versuche es auf die lustige Art - hat ja schon ein paarmal geklappt. Ich beuge mich also sitzend nach vorne um Ruddi zu verdecken. Der bewegt sich keinen Millimeter mehr. Ich stütze meine Arme salopp auf den Tisch, versuche ein komödiantisches Bild in seinem Kopf entstehen zu lassen und sage: „Perro? No perro!“ Theatralisch schaue ich mich suchend um und unter die Möbel, zucke mit den Schultern, habe Fragezeichen in den Augen. Unübersehbar nehme ich die Kaffeetasse zwischen beide Hände, damit er auch wahrnimmt, dass ich was verzehre und nicht einfach nur dumm rumsitze. „Hm, qué rico (wie lecker)!“ Vornehm schlürfend nehme ich ein paar heiße Schlucke und lächle ihn an, obwohl ich ein bisschen Angst vor ihm habe. Alleine im Dunkeln möchte ich diesem Koloss nicht begegnen.
Er stimmt nicht wirklich zu, beschäftigt sich aber mit dem Holz, dass er nun in den Kamin wirft. Und er schimpft und schimpft. Wenn er zu mir rüber guckt, lächle ich so gut ich kann und bete, dass er sich beruhigen mag. Er macht Handzeichen, die mir bedeuten, dass er Hunden im Allgemeinen am liebsten den Hals umdrehen würde. Hilfe! Was soll ich bloß machen? Ich stell mich doof, tue so, als ob er mir einen Witz erzählt hätte und fange laut an zu lachen. Ich beschließe, ab jetzt kein einziges spanisches Wort mehr zu verstehen. Er schimpft und schimpft.
Gerade als ich überlege, wie ich an meinen Rucksack komme, um zu flüchten, betreten frisch geduscht und gestylt meine vier Österreicher die Szene. Klasse! Wie bestellt! Wenn ich sie brauche sind sie da! Ich fühle mich sofort gerettet. „So, Freundchen, was jetzt? Wir sind jetzt zu fünft! Da guckst du, ne?“ denke ich - das würde ich zu diesem Zeitpunkt nicht aussprechen. Meine Freude ist unbändig und ich drücke sie auch deutlich aus. Ich lasse einen Jauchzer ertönen und fuchtele aufgeregt mit den Armen herum: „Heeeiii, wie schön, daß wir uns wiedersehen!“ Es ist ein großes Hallo, als sie mich entdecken. Schnell bemerken sie meine Verzweiflung. Sie setzen sich an meinen Tisch und ich gebe ihnen durch einige Zeichen zu verstehen, was hier gerade passiert. Karoline und Heinz fangen an zu lachen: „Der tut nur so! Er hat ´nen kleinen Haschmich, aber in Wirklichkeit ist er herzensgut. Heinz und Luigi haben sich vorhin ein bisschen mit ihm unterhalten. Mach Dir keinen Kopf!“ Nichts glaubte ich lieber, als das. Skeptisch schau ich zu ihm rüber. Wirklich? Sie sind meine Pilgerfreunde. Die müssen sich sicher sein, dass der nur spielen will sonst würden sie anders reagieren. So gut kenne ich sie mittlerweile.
Tatsächlich kann ich mich auf eine ungezwungene Unterhaltung über die letzten Pilger-Erlebnisse einlassen. Wir haben wieder viel zu lachen und zu staunen, was einem so alles passieren kann. Endlich hat der Riese den Kamin angefeuert und so langsam breitet sich eine wohlige Wärme aus. Die lodernden Flammen lassen den Raum in einem ganz anderen Licht erscheinen. Ohne meinen Hund noch eines Blickes zu würdigen, verschwindet der große Mann mit genauso viel Gepolter wie er gekommen ist. Zu meiner Überraschung wirft er - mit eingezogenem Kopf unter dem Türrahmen - noch ein freundliches „buena noche, hasta luego (schönen Abend, bis bald)“ in seinen gefüllten Gastraum. Wow! Lächelnd sieht der wirklich nicht mehr so gefährlich aus!
Kurz darauf ruft die Wirtin zum Abendessen. Wir sind ungefähr zwanzig Pilger, die alle an einem langen gedeckten Tisch Platz nehmen. Das Abendessen ist im Übernachtungspreis mit drin. Es gibt eine Suppe, Fleisch, Kartoffeln, Gemüse und Nachspeise. Das Fleisch kann ich nicht so richtig zuordnen und lasse lieber die Finger davon. Ansonsten schmeckt das Essen aber erstaunlich gut. Nach einem ausgelassenen Abend verziehen sich alle nach und nach in ihre Zimmer. Luigi erzählt mir übrigens noch, wie katastrophal das Hotel auf der anderen Straßenseite ist. Da sind sie nämlich zuerst drin gewesen und haben auf dem Absatz wieder kehrt gemacht. Na! Dann hab ich ja alles richtig gemacht!
Nach dem Duschen will ich das Fenster öffnen. Das geht aber nicht. Der Fenstergriff bleibt unbeweglich. Irgendwie sieht es hinter der milchigen Scheibe so aus, als hinge da Wäsche. Das kann aber doch gar nicht sein, wir sind doch eine ziemlich lange Treppe hochgegangen. Es kann kein Garten oder Hof hinter dem Fenster sein. Neben der Badtür im Schlafzimmer entdecke ich noch ein Fenster. Das ist klarsichtig und mir bei der Besichtigungstour gar nicht so aufgefallen. Aber ein Blick durch die Scheibe löst das Rätsel. Fünf oder sechs lange Wäscheleinen sind in einem angrenzenden Raum gespannt und hängen heftigst durch. Sie kämpfen mit Bettwäsche, Handtüchern und T-Shirts. Die Aussicht ist also leider nicht auf die Berge gerichtet, sondern in einen Trockenraum.
Es hat was Gespenstisches, so im Halbdunkeln. So, wie wenn ich früher als Kind mit meiner Mutter auf dem Speicher zum Wäschemachen war. Ich bin zwar immer freiwillig mit da hoch gegangen, fand das jedoch schon damals mehr beängstigend als lustig. Vor allem dann, wenn Bettwäsche hing. Die reichte bis fast zum Boden und ich konnte nie sehen, ob da nicht irgendjemand lauert. Plötzlich fühle ich mich in diesem Zimmer wie eingesperrt.
Ich glaube, mir bekommt die Bergluft nicht! Wie bin ich denn drauf? Was ist mit positivem Denken? „Immer das Beste in jeder Situation sehen“, lautet meine Devise. Ich setze mich einen Moment auf den Stuhl, atme tief durch und rufe mir ins Bewusstsein: „Bin hier untergekommen, hab den Riesen in meine Gewalt bekommen, durfte das Kaminfeuer genießen, Ruddi darf hier sein, im Zimmer gegenüber schlafen liebe Pilgerfreunde mit denen ich heute Abend viel gelacht habe, bin satt, frisch geduscht, meine Wäsche ist gewaschen und ich sitze vor einem richtigen Bett. Ich mache gleich einfach, schön warm zugedeckt, die Augen zu und entspanne mich und vor allem meinen Körper.“
Gesagt, getan. Husch, husch, ab ins Bettchen. Ich krieg das Riesending gar nicht angewärmt. Ich hätte mich besser direkt unter die Decken gelegt. Auf dem Stuhl ist mein Körper ausgekühlt. Dieses Zimmer wird gar nicht geheizt. Es ist nasskalt. Am liebsten würde ich Ruddi unter meine Decke legen. Er ist in der Lage mich innerhalb weniger Minuten aufzuheizen. Ob er da unten auf dem kalten Boden in seiner Tasche auch friert? Ich glaube ja, der hat sich schon sehr eng zusammengekringelt.
Da kommt mir die Idee! Blitzschnell fliege ich aus dem Bett an meinen Rucksack und rupfe meinen Schlafsack raus. Kurz darauf liegen Schnurzel und ich eng aneinander gekuschelt im Bett. Aber mit Schlafsack dazwischen, da kann keiner was gegen haben! Das bleibt eine Ausnahme, aber heute müssen wir uns vor Gefrierbrand schützen. So kalt war mir noch nie. Der Zweck heiligt die Mittel. Wir lassen beide einen tiefen Seufzer der Erleichterung los. Ruddi schnarcht wenige Sekunden später ganz leise vor sich hin. Ich brauche noch einen Moment. Nebenan im Zimmer wird ebenfalls zu zweit gegen die Kälte angekämpft. Was machen die denn? Stellen die mitten in der Nacht die Möbel um? Es rumpelt ab und zu an meiner Wand. Wenig später artet das Rumpeln zu einem rhythmischen fordernden Klopfen aus. Tun die das, wonach es sich anhört? Wie spannend! Ich kann gar nicht wie gewohnt meinen Tag Revue passieren lassen.
Meine ganze Aufmerksamkeit gilt ungewollt den Geräuschen, die aus dem Nebenraum kommen. Es ist wie bei einem Unfall, man will nicht hingucken, kann aber gar nicht anders. Das wird immer heftiger und lauter. Mittlerweile wackeln im wahrsten Sinne des Wortes die Wände. Es ist das, was ich denke! Ich halte die Luft an! Jetzt kommt zum Rumpeln in unregelmäßigen Abständen ein Seufzer hinzu. Stille! Na, dann gute Nacht, Freunde! Ich hoffe, bei euch ist alles in Ordnung. Oder braucht ihr Hilfe? Kurz drauf geben sie aber nochmal so richtig Gas. Was jetzt passiert, muss der Höhepunkt sein. Das Bett haut so heftig an meine Wand an, dass ich den Kopf einziehe. Das Gestöhne und Gejodel hört man garantiert noch drei Zimmer weiter.
Hätten die fünf Minuten früher angefangen, wäre der Schlafsack im Rucksack geblieben. Hätt ich nicht gedacht, dass ich hier und jetzt so richtig ins Schwitzen komme. Und das liegt nicht an Ruddi. Als mir klar wird, welcher Szene ich Ohren-Zeugin geworden bin, setzt mein Kopfkino ein und ich krieg auch noch einen Lachanfall vom feinsten. Ich lache ins Kissen, damit ich nebenan die romantische Nachspielzeit nicht verderbe.
Das Fazit des Tages: Auch nach 700 bewältigten Höhenmetern ist der Pilger in der Lage, Wände zum Wackeln zu bringen. Ich muss morgenfrüh mal darauf achten, wer besonders rosige Bäckchen hat.