Sonntag, 20. April 2008
Uterga (158 Einwohner), 493 m üdM, Navarra
6. Etappe bis Lorca, 20,4 km
Es hat die halbe Nacht heftig gestürmt und der Regen hat lautstark auf das schräge Dachfenster geprasselt. Gegen 6.30 Uhr werde ich unter anderem durch Hermann wach. Er packt leise seinen Rucksack, um wie geplant den Tag wesentlich früher zu beginnen als die vorangegangenen. Wir werden uns heute Abend in Lorca treffen und zusammen Abendessen. Ich tu so, als hörte ich ihn nicht, damit er kein schlechtes Gewissen kriegt, denn er ist wesentlich leiser, als die anderen Pilger in den angrenzenden Zimmern. Die nehmen keine Rücksicht auf Spätaufsteher und verabschieden sich lautstark auf dem Korridor. Mein Handy-Wecker hat den Auftrag, mich um acht zu wecken.
Als die Tür ins Schloss fällt, drehe ich mich nochmal um und schlafe sofort wieder ein. Auf dem Flur ist Ruhe eingekehrt. Es können nur wenige Minuten vergangen sein, als jemand ganz leise, aber ziemlich verzweifelt meinen Namen ruft. Hermann steht vor der geschlossenen Tür und bittet mich, zu öffnen. Erschrocken springe ich mit unterdrückten Weh-Lauten aus dem Bett - der Muskelkater schlägt wieder erbarmungslos zu. Fast stolpere ich über die Wanderstöcke meines Freundes und nehme sie direkt mit an die Tür. Die sind ja wohl der Grund seiner Rückkehr.
Er hat Schweißperlen auf der Stirn und flüstert: „Tut mir leid, dass ich Dich geweckt habe, aber ich habe meine Stöcke vergessen. Ich hab mich nicht getraut zu klopfen, dann hätte Ruddi bestimmt gebellt.“ „Das Zimmer war doch gar nicht abgeschlossen, warum kommst Du denn nicht einfach rein?“ frage ich und drücke ihm seine Gehhilfen in die Hand. „Oh nein! Das auch noch! Bin ich blöd! Es tut mir so leid. Leg Dich wieder hin und schlaf weiter. Ich störe nicht mehr.“ flüstert er. Bevor er anfängt zu weinen, versichere ich ihm, dass es halb so wild sei. Du wirst uns noch schmerzlich vermissen.“ sage ich scherzhaft und wünsche ihm einen „buen camino“. Ruddi nimmt das Ganze nur aus den Augenwinkeln wahr und kuschelt sich tiefer in seine weiche, warme Decke.
Ich mache es ihm nach, aber nach einer halben Stunde werde ich wieder wach und entscheide mich dafür, es dabei zu belassen. Ich freue mich darauf, heute mal alleine zu laufen und blättere in meinem Reiseführer. Ich lese zur Erinnerung noch ein bisschen in den Seiten der gestrigen Etappe und entdecke den Hinweis, dass der Anstieg auf den Alto del Perdón einer der längsten des gesamten Pilgerwegs ist. Schade, dass ich das gestern noch nicht wusste. Oder ist es vielleicht besser so? Diese Information kann einen stark machen, sie kann aber auch schwächen. Die Pyrenäen liegen hinter uns, lese ich hier. Hoffnung keimt in mir auf, dass die Bergkletterei nun ein Ende hat.
Die geplante Etappe scheint wesentlicher einfacher zu sein. Die Sonne lacht vom strahlend blauen Himmel durch das Fenster. Jetzt hält mich nichts mehr im Bett. Während Ruddi frühstückt, verschwindet sein Schlafplatz im Rucksack und blitzschnell packe ich meine Sachen drauf. Trotz des schönen Wetters ziehe ich meinen Poncho an, um Ruddi darunter verschwinden zu lassen. Es ist jetzt halb neun und die Herbergsmutter wird sicher schon auf den Beinen sein. Ja, ich weiß! Die Nacht ist rum — soll sie Ruddi doch sehen. Ich Wollte ja drauf pfeifen!? Der Unterschied zu den ersten Tagen ist der,
dass ich nicht mehr so nervös bin, aber einfach keine Lust auf einen Abschied mit Stress habe. Die Wirtin soll mich in guter Erinnerung behalten und sich nicht am frühen Morgen schon ärgern müssen. Ist zwar auch Blödsinn, denn ich komme ja nicht mehr wieder, aber bevor ich schimpfend vom Grundstück gejagt werde, sage ich lieber lachend: „Adiós, y gracias por todo (Tschüss, und danke für alles)!“ Letztendlich verlasse ich die Herberge, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein.
Ich lasse Ruddi frei. Wie auf Kommando schlagen alle Hunde der Straße Alarm. So, nun ist das Dorf also auch endlich wach! Kann bestimmt nichts schaden bei dem schönen Wetter. Ich packe meinen Poncho ganz unten in den Rucksack und beginne fröhlich die heutige Etappe. Am Dorfausgang geht es weiter auf einem Schotterweg. Nach ein paar Minuten wird man durch ein sehr großes Plakat darauf aufmerksam gemacht, dass der Camino Francés rechts herum verläuft. Der Hinweis ist bestimmt so groß, weil der Weg, auf dem ich mich gerade befinde, sehr breit und einladend aussieht. Hinzu kommt, dass die Aussicht hier atemberaubend ist. Wenn man sich davon zu sehr ablenken lässt läuft man Gefahr, selbst das größte Schild zu übersehen.
Ich biege also ab und schon laufe ich wieder im gewohnten Matsch auf einem Trampelpfad. Na bitte, geht doch! So fühle ich mich heimisch. Spontan fällt mir Hermann ein. Ob er sich wohl hier verlaufen hat? Ich bin fest davon überzeugt und suche nach seinen Schuhabdrücken, die sehr leicht auszumachen sind. Sie zeichnen sich durch große Kreise aus, die ich als „kleine Ufos“ betitelt habe. So sehr ich auch suche, ich finde solche Abdrücke nicht. Oh Mann, wo mag der wohl gelandet sein? Bestimmt irrt er durch die Felder. Hoffentlich merkt er es nicht allzu spät, dass er nicht mehr auf dem offiziellen Camino ist.
Kurz vor elf, nach sieben Kilometern über recht angenehme Feldwege und ein kurzes Stück an der Nationalstraße entlang, erreiche ich Puente la Reina. Es ist eine kleine Stadt mit ungefähr 2500 Einwohnern. Die meisten von ihnen sind auf dem Weg in die Kirche. Wir haben ja schließlich Sonntag. Als ich den Vorplatz erreiche, läuten die Glocken wie wild und ich fühle mich standesgemäß begrüßt. Es herrscht reger Autoverkehr. Alle suchen einen Parkplatz. Väter, Mütter und Kinder steigen aus ihren Wagen und strömen in das Gotteshaus. Ich bleibe stehen und beobachte das friedvolle Treiben. Auf dem Glockenturm haben sich zwei Storchenpaare Nester gebaut.
Sie sind ebenfalls sehr beschäftigt, entweder mit der Futtersuche oder vielleicht auch mit den Baustoffen für ihr Heim. Sie runden auf eine sehr schöne Weise die Idylle ab.
Ein kleiner, etwa acht Jahre alter Junge spricht mich an: „Qué tal? (Wie geht’s?)“ Ich möchte gerne was Kluges darauf antworten, aber das kommt gerade so unverhofft, dass ich ihn nur mit einem dämlichen Grinsen anstarre. Wochenlang habe ich zuhause auf eigene Faust Spanisch gelernt. Fast täglich Vokabeln geübt, immer wieder die CDs angehört und jetzt kann ich vor lauter Schreck diese einfache Begrüßung nicht erwidern?! Das kann doch nicht wahr sein! Angestrengt krame ich in meinem Hirn und suche nach der richtigen Antwort. Das dauert dem Kind zu lange. Er baut sich lächelnd vor mir auf und hilft mir auf die Sprünge: „Qué tal? - Yo muy bien, gracias. (Mir geht es sehr gut, danke.) Qué tal?“ Süß! Der Kleine ist spanisch charmant und sagt mir meine Antwort vor. So einfach ist das - nur eine Höflichkeitsfloskel, aber sie verbindet. Ich bedanke mich lachend bei ihm für diese kleine Spanisch-Lektion und komme nicht darüber hinweg, dass mir diese wenigen Worte nicht eingefallen sind. Diese kurze Begegnung hat mir richtig gut getan.
Beschwingt setzte ich meinen Weg durch die Gassen von Puente la Reina fort. Kurz vor dem Ortsausgang überquere ich die berühmte Brücke Puente de la Reina. Mitten drauf treffe ich auf zwei Männer, die mit Sicherheit geschäftlich unterwegs sind. Sie machen Fotos von diesem Bauwerk und dem Blick auf die Stadt. Was mag ihr Auftrag sein? Ich male mir aus, dass sie vielleicht Vorhaben, sich hier niederzulassen und sich um die Pilger des Jakobswegs zu kümmern. Sie suchen bestimmt nur noch den richtigen Platz für die Unterkunft, die sie aufmachen möchten. Ich glaube, dass es keine Herberge sein wird, sondern eine Pension. Sie sind sehr gepflegt, tragen Anzüge und haben Aktenkoffer dabei. So sehen die Herbergsväter, die ich bis jetzt kennen gelernt habe, nicht aus.
Während ich phantasierend an ihnen vorbeigehe, sprechen sie mich an: „Sind Sie Pilgerin? Wo sind Sie gestartet? Seit wann sind Sie unterwegs? Waren Sie mit den Unterkünften zufrieden? Ist das Ihr Hund? Läuft der auch den ganzen Weg? Können Sie den Hund mit in die Herberge oder das Hotel nehmen? Wie machen Sie das denn?“ Ich suche nach der Kamera und dem Mikrofon - das ist doch ein Interview, oder? Ja, ist es! Aber nicht für die Öffentlichkeit. Ich beantworte alle gestellten Fragen und versäume es nicht, für eine Pension zu plädieren, in der Hunde herzlich willkommen sind. Tatsächlich verraten sie mir, dass sie aus Österreich sind und genau das vorhaben, was ich vermutet habe. Ich wünsche ihnen viel Erfolg bei ihrem Unterfangen und setze meinen Weg fort.
Der Camino verläuft weiterhin über Feld- und Landwirtschaftswege ohne nennenswerte Steigungen. Ja, klar! Die Pyrenäen liegen ja auch hinter mir. Ruddi ist genauso begeistert wie ich, angesichts des entspannten Laufens ohne Regen. Fast pfeifend sind wir beide gemütlich unterwegs. Meinen Rucksack spüre ich kaum mehr auf dem Rücken. Der gehört nach sechs Tagen zu mir, als wäre ich nie im Leben ohne ihn gelaufen. Ich käme und kam nie auf die Idee, ihn transportieren zu lassen, wie Hermann es gemacht hat. Aber ich habe ja auch keine Schulterprobleme. Wo er wohl in diesem Moment unterwegs ist?
Auf einem Acker arbeiten zwei Bauern. Am Feldrand stehen ein altes Auto und eine Vespa. Die beiden Männer strahlen eine unglaubliche Zufriedenheit aus. Ihre Arbeit verrichten sie ohne moderne Landwirtschaftsmaschinen. Wenn die Sonne durch die Wolken guckt, ist sie ganz schön warm. Ab und zu lüften sie ihre Kopfbedeckung und wischen sich den Schweiß von der Stirn. Wir winken uns mit einem fröhlichen „Hola“ zu. Es ist fast wie in einem 60er-Jahre-Film mit Heinz Erhardt. Ich genieße dies alles sehr bewusst und denke so bei mir: „Jetzt ist der Camino friedlich. Er hat mich ja auch lange genug hart ran genommen.“ Das wurde ja schließlich mal Zeit. Das haben wir uns hart erkämpft, so locker zu wandern. Ich kann sogar gleichzeitig laufen und die Landschaft bewundern.
Ich habe es noch nicht zu Ende gedacht, entdecke ich einen Wegweiser, der mich rechts herum schickt. Es ist ein Weg, der sich durch mehrere Hügel schlängelt. Er ist matschig, viel zu matschig. Der Boden besteht aus einem Gemisch zwischen sehr feiner roter Erde und dem Regenwasser der letzten Nacht, das sich an dieser Stelle versammelt hat, um mich aufs Glatteis zu führen. Hier liegen keine Steine rum, die ein bisschen Halt geben würden. Ich will mal wieder das haben, was ich gerade nicht haben kann, anstatt mich mit dem zufrieden zu geben, was da ist. Gestern beim steinigen Aufstieg auf den Alto del Perdón wünschte ich mir die Wegverhältnisse, die ich hier vorfinde. „Du weißt doch, dass uns Dein Wunsch Befehl ist!
höre ich das Universum flüstern - dass die aber auch immer noch einen draufsetzen müssen!
Nach etwa 200 Metern wird der Weg steiler. Ich habe große Mühe voranzukommen. Es geht nur mit ganz kleinen Schritten und mit dem Einsatz der Wanderstöcke weiter. Meine Kräfte lassen nach und bald muss ich stehen bleiben. Nichts geht mehr! Ich stütze mich auf meine „beiden Freunde“ mit dem Gesicht Richtung Boden und traue meinen Augen nicht. Habe ich Halluzinationen oder sehe ich da wirklich Buchstaben? Ich zwinkere ein paar Mal, schau auch mal in eine ganz andere Richtung, um sicher zu gehen, dass ich das nicht träume. Hier steht tatsächlich genau vor meinen Füßen in den Matsch geschrieben: „Rudi halt durch, H.“
Das gibt es doch gar nicht! Da quäle ich mich, wer weiß wie weit, diesen höllischen Weg hoch und genau in dem Moment, wo ich am Ende meiner Kräfte bin, lese ich diesen Text. Wie vor ein paar Tagen die Nachricht im Schnee, gibt mir auch diese unglaublichen Auftrieb.
Ich glaube ja nicht an Zufälle, das macht die Situation noch aufregender für mich: „Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort.“ Im Grunde genommen ist man nie wirklich alleine, wenn man sich geistig auf andere Menschen einlassen kann. Auch wenn sie nicht körperlich da sind. Ich bin durch diese drei Worte wie gedopt. Wieder hat jemand an uns gedacht, als er mit Sicherheit mit sich selbst jede Menge zu tun hatte. Danke, Hermann!
Nach weiteren fünf Kilometern, direkt hinter Mañeru sehe ich am Horizont das Dorf Cirauqui liegen. Im Vordergrund befinden sich Olivenhaine. Es ist ein malerischer Anblick und ich habe fast Tränen in den Augen, als mir einfällt, dass ich ein Aquarell gemalt habe, das diesem Ausblick hier in den Konturen verblüffend ähnelt. Ist vielleicht doch alles eins? Hier und Jetzt? Ist das ganze Leben nur ein Punkt und alles geschieht im selben Moment? Ich habe vor fünf Jahren das Aquarell aus dem Gefühl heraus gemalt, ohne Vorlage. Und jetzt sehe ich die Landschaft tatsächlich. Wie beeindruckend! Mein Wunsch ist „ihm“ Befehl - manchmal dauert die Erfüllung eben ein bisschen länger. Alles zu seiner Zeit. Mir wird immer klarer, dass jeder Weg, auch der schwerste, sich im Endeffekt lohnt.
Ich kann es kaum erwarten, Cirauqui zu erreichen. Nach einer knappen Stunde ist es endlich soweit. Es ist ein kleines, altes Dorf mit noch nicht einmal 500 Einwohnern. Die Gassen sind sehr eng und steil. Ich komme mir vor wie im Mittelalter. Es herrscht eine göttliche Ruhe. Kein einziges Auto ist in Sicht- oder Hörweite. Einige Menschen begegnen mir - zu Fuß natürlich. Fahrradfahren ist wegen der Steigungen unmöglich. Es ist Mittagszeit und es riecht hier und da nach Essen. Ich höre Stimmen und klapperndes Geschirr aus den Häusern, die meisten Haustüren sind weit geöffnet. Irgendwo muss eine Bar sein! Ich höre das Gemurmel und Lachen vieler Menschen. Ich möchte auch in dieser Bar sein, nach vierzehn gelaufenen Kilometern einen oder zwei Café con leche trinken und vielleicht einen Pilgerkollegen treffen.
Ich frage eine Frau, die vor ihrem Haus den Weg fegt, wo diese Bar ist. Sie zeigt in die Richtung und sagt, dass es ungefähr 100 Meter dorthin sind. Das ist normalerweise ein Katzensprung, aber nicht auf dem Camino und schon dreimal nicht diese sehr steile Straße hinauf. Ich habe die Hoffnung, noch an einer anderen Bar vorbeizukommen. Wenn es sein soll, dann gibt es noch eine. Wenn nicht, dann lauf ich eben weiter.
Es sollte nicht sein! Am Ortsausgang liegt ein Bauernhof, dessen Grundstück mit einer Mauer umgeben ist. Hier mache ich eine Pause. Mehrere andere Pilger hatten wohl den gleichen Gedankengang, denn ich bin hier nicht alleine. Es ist ein Kommen und Gehen. Ich kenne diese Leute zwar nicht, aber die Freude sich kurz auszutauschen, ist groß. Schon wieder das Phänomen der unsichtbaren Pilger, die man nur innerhalb geschlossener Ortschaften sehen kann. Sagenhaft!
Bis Lorca, meinem heutigen Etappenziel, sind es jetzt „nur noch“ sechs Kilometer. Es geht weiter über die Reste einer Römerstraße auf eine verfallene römische Brücke zu, steil bergab, diesmal auf großen, ungleichen, aber festen Steinen. Ich entscheide mich für den Rand dieser „Straße“ Da lässt es sich leichter gehen. Die Brücke sieht ziemlich mitgenommen aus. Man kann sie nur noch über nachträglich eingebaute Stufen überqueren. Ich muss teilweise sehr große Schritte machen und wie schon so oft wäre ich ohne meine beiden ständigen Begleiter, die Stöcke, aufgeschmissen. Natürlich nehmen Ruddi und ich diese Hürde - wenn auch mit letzter Kraft.
Auf dem Weg nach Lorca gibt es eine Weggabelung, an der ich hängen bleibe. Es ist unklar in welche Richtung es weitergeht. Das erste Mal bin ich so unsicher, dass ich mich erst entscheiden möchte, wenn ich in Ruhe eine Zigarette geraucht habe. Vielleicht empfange ich mit der nötigen Gelassenheit ja eine Eingebung. In einiger Entfernung entdecke ich ein paar Wanderer, die natürlich auch hier vorbei müssen. Mal sehen was die unternehmen. Eins ist sicher, ich werde nicht einfach hinterherlaufen! Bis hierhin bin ich heute ohne Umwege durchgekommen.
Als die drei näher kommen freuen Ruddi und ich uns mal wieder „ein weiteres Loch in den Bauch“, denn wir erkennen in ihnen unsere Lieblingspilger Achim, Oliver und Sabrina. Das lustige Grüppchen, das auf dem Weg nach Roncesvalles auf dem Felsblock gesessen hat. Wir staunen darüber, dass man sich Tage später ganz unverhofft in der Wildnis trifft. „Wo geht ihr denn jetzt weiter?“ frage ich Achim. Er hält schon seinen Reiseführer bereit, informiert sich und während sich die kleine Karawane wieder in Bewegung setzt, antwortet er: „Immer geradeaus.“ Wenn das keine klare Ansage ist, dann weiß ich es auch nicht.
Ich vertraue Achim und gehe denselben Weg, allerdings wesentlich langsamer und so verlieren wir uns wieder aus den Augen. Ich stelle fest, dass ich heute gar nicht so kaputt bin, wie die letzten Tage. Ich glaube, ich bin momentan besonders gut unterwegs. Bester Laune laufe und laufe ich immer weiter, bergauf und bergab auf einem schmalen und angenehmen Pfad. Ruddi ist ebenfalls besonders gut drauf.
Plötzlich glaube ich, in dieser absoluten Stille zu hören, dass jemand „Ruddi“ ruft. Ist bestimmt nur Einbildung, denke ich. Aber die Rufe wiederholen sich. Ich blicke zurück und erkenne weit entfernt wiederum drei Menschen mit Rucksäcken. Ich überlege wer das wohl sein könnte. Das einzige mir bekannte Trio, das immer wieder zusammen auf dem Camino zu sehen ist, muss logischerweise viel weiter vorne sein. Ich winke den Leuten freundlich mit einer ausladenden Armbewegung zu und gehe weiter - mag jetzt nicht warten, das dauert mir zu lange.
Nach ein paar Minuten wird Ruddi ganz unruhig und läuft bellend in die entgegengesetzte Richtung. Was macht der denn? Ich versuche dahinter zu kommen - drehe mich um. Die Gruppe ist mittlerweile etwas näher gekommen und ich glaube die Aachener, Franz-Josef und Gabi zu erkennen. Franz-Josef erkennt man schon von weitem an seinem markanten Bart und die schlanke Gabi an ihrem blonden, gelockten, halblangen Haar. Die dritte Person ist zwar schon etwas näher als diese beiden, aber ich habe keine Idee wer das sein könnte. Es handelt sich um einen Mann, soviel kann ich sehen. Er legt einen Sprint hin, der Rucksack hüpft auf und ab. Es ist deutlich zu erkennen, dass es eine große Freude für ihn ist, uns zu sehen. Dieser Mann kann es kaum erwarten, bei mir anzukommen. Ich bin gespannt, wie ein Flitzebogen und warte angesichts dieser Szene natürlich auch. Während sie näher kommen, rufen alle drei gut gelaunt immer wieder: „Halli, hallo! Birgit! Ruddi! Wartet auf uns! Dass ihr so schnell unterwegs seid, ist ja kaum zu glauben!“
Ich traue meinen Augen nicht. Das ist doch tatsächlich Hermann! Ich glaube es ja nicht! Er ist also tatsächlich hinter mir gelaufen, wer hat denn dann in den Schlamm geschrieben? Wir fallen uns vor Freude in die Arme und Hermann ist nicht mehr zu bremsen: „Ich habe den ganzen Tag an Euch gedacht. Seid Ihr gut durchgekommen? Ist alles in Ordnung?“ Ich antworte: „Bei uns ist alles prima. Wie geht es Dir? Hat alles geklappt? Wieso bist Du eigentlich hinter mir? Du bist wesentlich früher losgegangen, als ich!?“ „Ich habe mich heute Morgen zuerst einmal heftigst verlaufen. Das hat mich bestimmt eine Stunde gekostet. Ich bin nach einer Weile einfach mitten durch die Felder gestapft. Deswegen sehe ich aus wie die Sau. Keine Ahnung, wie das passieren konnte.“ Ich unterbreche ihn schmunzelnd: „Ich kann es Dir sagen. Ich weiß, wo Du Dich verlaufen hast. Nach den ersten 500 Metern hinter Uterga stand ein sehr großes Schild, das den Pilger rechts abzubiegen bittet. Ich habe danach Deine Ufos nicht mehr gesehen, oder kannst Du Dich mit denen auch beamen?“ „Bist Du Hellseherin?“ „Nö, ich bin ein paar Tage mit Dir unterwegs gewesen und weiß, wie gerne Du vom Weg abkommst.“ Wir müssen laut lachen.
Gabi und Franz-Josef begrüßen mich ebenfalls stürmisch gefühlvoll: „Bist Du etwa ganz alleine unterwegs? Hast Du keine Angst?“ „Nein, mein Kampfhund ist doch bei mir. Aber mal im Ernst: Wovor sollte ich mich fürchten? Ich fühle mich auf dem Camino genauso sicher, wie zuhause auf der Couch. Macht Euch keine Sorgen um mich. Alles ist bestens!“ In der Tat genieße ich es alleine zu gehen, obwohl Hermann und ich unglaublich viel Spaß zusammen hatten. Die Einsamkeit lässt mich jedoch alles wesentlich bewusster wahrnehmen und meine Gedanken fangen an, sich zu sortieren.
Die Aachener verabschieden sich von uns mit einer Umarmung und einem „buen Camino“. Hermann und ich gehen ganz gemütlich die letzten drei Kilometer bis Lorca gemeinsam. Es ist noch recht früh am Nachmittag. Ich glaube, dass wir so gegen 16 Uhr die heutige Etappe beenden werden. Der Weg ist weiterhin angenehm zu gehen. Ich sage es immer wieder gerne: Ab und zu ist er mega-steil! Wir überqueren noch einmal eine uralte Brücke, die über einen Bach führt. Hier treffen wir abermals auf Achim, Oliver und Sabrina. Die drei liegen entspannt auf der niedrigen Brückenmauer - wie am Mittwoch in den Pyrenäen. Ich bleibe stehen und sage bewundernd: „Klasse, ihr habt es Euch wieder richtig gemütlich gemacht. Egal, wann ich Euch treffe, ihr strahlt immer eine himmlische Ruhe und Gelassenheit aus. Wie macht Ihr das?“ Wieder ist es Achim, der antwortet: „Du musst es einfach tun. Komm, setz Dich doch!“ Ich weiß nicht, warum ich das nicht tue. Wahrscheinlich, weil Hermann (zu meinem Erstaunen) schon ein paar Meter vorgelaufen ist. Ich fühle mich verpflichtet und laufe ihm hinterher.