Gleicher Tag

Saint Jean Pied de Port (1500 Einwohner), 160 m üdM, französisches Baskenland

Herberge, 5-Bett-Zimmer, 15 Euro inklusive Frühstück

In Saint Jean Pied de Port am klitzekleinen Bahnhof angekommen, steigen alle aus. Ich staune über die vielen Rucksäcke auf den Rücken. Nach ein paar Minuten Hinterherlaufen - der Mensch ist ja ein Herdentier - sprechen mich zwei Energie geladene Frauen meines Alters auf Französisch an. Sie sind vollkommen entzückt von Ruddi und erklären mir schwungvoll, wo das Pilgerbüro ist. Mit Händen und Füßen verständigen wir uns. Von meinem Schulfranzösisch ist natürlich nicht mehr viel übrig geblieben und ich finde es echt anstrengend, die Damen verstehen zu wollen. Ich gehe Richtung Pilgerbüro und die beiden begegnen mir noch zwei, drei Mal. Sie passen auf, dass ich auch ja den richtigen Weg nehme.

Das Pilgerbüro ist sehr klein und voll mit Rucksäcken, die auf dem Boden stehen oder an Menschen hängen. Karsten arbeitet den ersten Tag hier und beweist eine göttliche Geduld mit den Leuten und ihren tausend sich wiederholenden Fragen. Ich bekomme meinen Pilgerausweis und nehme gleich für eine Spende von zwei Euro eine wunderschöne Jakobsmuschel mit. Sie ist das Erkennungsmerkmal der Pilger. Früher wurde sie auf der Wallfahrt zum Wasserschöpfen benutzt.

Kaum wieder draußen an der frischen Luft, sind die beiden „Französinnen“ zur Stelle und machen mir wild gestikulierend klar, dass ich ihnen folgen solle. Die Mädels versuchen sogar Deutsch zu sprechen! Nee, da ist mein Rest-Französisch besser! Sie haben wohl eine ganz tolle Unterkunft oder so etwas für mich. Es ist lediglich eine Vermutung, dass sie selbst vermieten - und zwar besonders schöne, große oder preiswerte Zimmer. Die Mesdemoiselles sind total begeistert, möchten mich so gerne anstecken und ich verstehe nur Bahnhof. Ich wehre ab, will mich nicht stressen lassen - erst mal ankommen und in Ruhe den Ort ansehen. Vielleicht finde ich ja bei dieser Gelegenheit eine nette Pension.

Das Pilgern muss sowieso bis morgen warten, weil auf den Wegen über die Pyrenäen Schnee liegt und Karsten dringend davon abgeraten hat. Er weiß außerdem, dass alle Betten in Honto und Orrison belegt sind. Überhaupt solle man immer reservieren, auch die Herbergen. Gerade heute ist - neben den anderen zahlreichen Pilgern - eine dreißigköpfige Gruppe Schweden mit Fahrrädern gestartet und die brauchen viele Schlafplätze. Zu allem Übel ist es schon 17 Uhr. Könnte ein bisschen spät sein?! Oder soll ich vielleicht doch noch...? Ich lass es.

In Saint Jean Pied de Port muss man schon die Bergschuhe anziehen. Die kleinen schnuckeligen, kopfsteingepflasterten Gässchen mit ihren Häusern im alten navarresischen Stil führen bergauf oder bergab. So gut wie alle! Wenn es zu extrem wird, sind die Bürgersteige mit Stufen versehen. Ich kann kaum glauben, dass hier auch Autos durchfahren. Doch sie tun es! Zwar ganz wenige und im Schneckentempo - aber sie tun es! Ich glaube, die sind so langsam unterwegs, damit der Fahrer jederzeit stehen bleiben kann, um ein Pläuschchen mit den Passanten zu halten. Total gemütlich.

In dieser Idylle treffe ich eine Familie - Mutter, Vater, Kind, großer Hund an Leine - und die Frau tritt doch tatsächlich nach meinem Ruddi, weil er es gewagt hat, sich ihrem Hund zu nähern. Sie hat ihn zwar nicht getroffen, aber allein die Absicht lässt bei mir alle Alarmglocken läuten. Ich bin so entsetzt, dass ich nur hinterher rufen kann: „Haben Sie eigentlich nen Knall?“ Die sind aber „angeblich“ schon außer Hörweite.

In diesem Moment klingelt mein Handy. Meine Eltern wollen wissen, ob alles in Ordnung ist und ich gut angekommen bin. Ich erzähle voller Entsetzen von dem Vorfall und finde das als Auftakt für den „Camino mit Hund“ frustrierend. Ich hätte mich lieber lachend am Telefon gemeldet. Jetzt aber bin ich wütend und stelle fest, dass ich das lieber vor meinen Eltern verbergen würde. Getreu dem Motto: „Alles klar, kann nicht besser sein.“ Drei Minuten früher hätte ich das, ruhigen Gewissens, sagen können.

Am Ortsrand gibt es eine Hauptverkehrsstraße, auf der unerwartet viel los ist. Gegenüber, auf einem Hügel gelegen, entdecke ich einen kleinen Park mit einem riesengroßen Spielplatz. Von hier oben hat man einen wunderschönen Blick auf Saint Jean Pied de Port. Ich halte inne und realisiere jetzt erst, dass in diesem kleinen Ort mein ganz persönlicher Camino anfängt.

Ich setzte mich auf eine der Stufen, die zur Stadt hinunterführen, atme tief durch und höre in mich hinein. Was hab ich mir da vorgenommen? Fast 800 Kilometer liegen vor mir! Mit anderen Worten: Zu Fuß von Hamburg nach München laufen! Ich soll über die Pyrenäen wandern? Hätte besser doch ein bisschen trainiert, anstatt mich wochenlang nur auf meinen Rucksackinhalt zu konzentrieren! Auf einmal bin ich total verunsichert. Mein Vater hat vielleicht Recht, wenn er sagt: „Du machst immer Sachen, ohne vorher zu überlegen. Du bist ein bisschen „bekloppt“. Typisch Tochter!“ Moment mal: Das kann ich so nicht stehen lassen, oder?! Ich habe in den letzten Wochen viel gegrübelt, aber jetzt ist die Zeit der Taten gekommen. Frohen Mutes steige ich die Treppe hinab. Nur das TUN zeigt, ob es geht. Da bringt alles Nachdenken gar nichts. Es kommt eh immer anders, als man denkt.

Als mir bewusst wird, wie viele Pilger hier rumlaufen, werde ich doch so langsam unruhig und suche lieber sofort ein Zimmer. Der Stadtplan zeigt mir ganz in der Nähe eine Herberge auf der „Hauptgasse“ in der Altstadt und ich begebe mich dorthin. Die Französinnen habe ich nicht mehr gesehen. Vielleicht sind sie ja in einen der vielen Rucksäcke gehüpft, um mal aus ihrem Dorf raus zu kommen und den Camino kennenzulernen.

Die Herberge ist ein uraltes Gebäude von 1500-irgendwas mit einer Holztreppe, die teilweise Löcher in den Stufen hat. Die Empore weist eine starke Neigung zur Raummitte auf, so dass Ruddi schon mal gleich streikt und keinen Schritt mehr weitergeht. Er denkt bestimmt, wie ich, dass die Holzkonstruktion jeden Moment zusammenbricht. Das Zimmer hat große Schimmelflecken an den Wänden und der Decke. Die fünf Betten sind klamm. Kein Wunder! Das einzige Fenster gewährt lediglich Aussicht auf die baufällige innen liegende Empore. Super - zu fünft in einem Raum ohne Frischluftzufuhr schlafen! Eigentlich will ich nur noch weg - aber wohin? Vielleicht ist das hier normal! Ich bin jetzt ein Pilger, oder? Soll ich weinen? „Nein, nimm es, wie es ist“, flüstert meine innere Stimme.

Ich teile das Zimmer mit drei Mädels aus München. Glücklicherweise akzeptieren sie meinen Hund, ansonsten wäre der Herbergsvater hart geblieben und hätte mich weggeschickt. Tiere haben in Herbergen nämlich nichts zu suchen! Warum? Sie könnten Flöhe oder ähnliches Getier einschleusen. Ach so! Schimmel und feuchte Matratzen sind aber erlaubt, oder was?! Nachdem ich den Rucksack abgestellt und noch ein paar Sätze mit den Münchnerinnen gewechselt habe, stürze ich mich ins pralle Leben des zuckersüßen Örtchens.

Also, ich gehe jetzt nicht zum Tanzen oder in die Disco, sondern Ruddi spaziert mit mir noch einmal durch den Ort. Unter anderem wage ich einen Blick auf den Startpunkt des Camino Francés und kann es kaum glauben: Das geht ohne sichtbares Ende weiter so steil hoch wie im Ort - ach du lieber Himmel! Da komm ich nie hoch! Eigentlich war das von Anfang an klar. Es gilt, knappe 1300 Höhenmeter zu überwinden. Ich schieße ein paar Fotos, um das Unfassbare auch meinen Mitbewohnerinnen zu zeigen. Während des Sonnenuntergangs, der mich wieder versöhnlich stimmt, spazieren wir am Ufer der Nive entlang und kommen über eine mittelalterliche Brücke zurück zum Ortskern.

Ich treffe wieder auf die beiden Mädels, die höchstwahrscheinlich Zimmer vermieten und noch einmal versuchen sie in Französisch, Deutsch und mit Händen und Füßen mich irgendwo hinzubewegen. Die gute Laune dieser Frauen ist ansteckend und nachdem ich mir ein noch warmes, köstliches Baguette „ohne was drauf‘ gekauft habe, laufe ich ihnen, gespannt wo es wohl hingehen wird, hinterher. Wer weiß, vielleicht bieten sie mir wirklich ein exquisites Zimmer an und ich kann der Schimmelhölle doch noch entkommen!

Sie freuen sich ein Loch in den Bauch und führen mich schnurstracks genau zu der Herberge, in der ich diese Nacht wohne. Als uns das klar wird, sind die beiden nicht mehr in ihrer Begeisterung zu bremsen. Auch wenn ich den sympathischen Frauen Besseres zugetraut hätte, bin ich froh - nein! - ich raste aus vor lauter Freude darüber, dass ich ihnen nicht gleichgültig bin und sie mich schlussendlich doch noch in einem ihrer Herbergszimmer untergebracht wissen.

Nach zirka zwei Stunden bin ich zurück in „meinem“ schimmeligen Gemach. Die drei Münchnerinnen sitzen um den kleinen, runden Tisch herum und machen „a Brotzeit“. Ruddi wird ohne Zögern liebevoll mit Stinkkäse und Wurst gefüttert. Stinkkäse in einem fensterlosen Zimmer ist echt gemein! Ich erzähle den Mädels, wie der Camino anfängt und zeige ihnen die Fotos. Sie sind nicht so sehr beeindruckt. Liegt entweder am Foto oder daran, dass sie die Berge zu Hause vor der Tür haben.

Ich bin sehr müde und beschließe, mich schon mal hinzulegen. Sitzen geht sowieso nicht, weil ich in einem Etagenbett schlafe und nur auf der Kante nach vorne gebeugt Platz nehmen kann. Vollständig angezogen (vielleicht muss ich ja flüchten!?) lege ich mich zum ersten Mal in meinem Leben in einen Schlafsack. Ruddi krabbelt gleich mit hinein. Der Platz in der „Döshülle“ ist zwar ziemlich knapp bemessen, aber ich genieße seine Nähe trotzdem, denn ich fühle, dass ich nicht alleine bin.

Wir vier Frauen unterhalten uns noch ein bisschen und sehr bald werde ich fast vom Sandmännchen überwältigt. An Schlaf ist aber nicht zu denken, denn meine Zimmergenossinnen sind noch „very busy“. Ich lasse mich kurz darüber aus, wie entsetzt ich von dem Zustand dieser Unterkunft bin und bekomme zur Antwort: „Gewöhn Dich lieber daran, besser wird das in den nächsten Wochen nicht.“ Ich höre wohl nicht richtig und antworte kurz und knapp: „Für mich mit Sicherheit.“

Die fleißigen Süddeutschen packen wie auf Kommando ihren Rucksack vollständig aus. Hunderte Plastiktüten und -tütchen werden aufgemacht, wieder verschlossen und zurück in den Rucksack gesteckt. Dann wird doch nochmal alles ausgepackt und wieder eingepackt. Danach gehen alle duschen und packen ein weiteres Mal ihre Rucksäcke aus, weil blöderweise die Nachtwäsche mit eingepackt wurde. Amüsiert schaue und höre ich unauffällig zu und staune darüber, was die so alles dabeihaben. Vom Gaskocher über Topf und Pfanne bis hin zum Teller und zur Tasse. Warme und kalte Kleidung und Schuhe, Essen für ein Picknick wird auch immer dabei sein, höre ich. Medikamente, Bachblüten, Salben, Verbände und Pflaster in allen Größen für alle Fälle kommen zum Vorschein. Überdimensionale Schlafsäcke liegen auf den Betten bereit und ich höre, dass allein die je zwei Kilo und mehr wiegen. Ich frage mich, wie diese zirka dreißigjährigen, untrainierten Frauen mit dem Wahnsinnsgepäck über die Berge und Wochen kommen wollen. Ich habe allerdings jetzt das Gefühl, meinen Rucksack komplett falsch gepackt zu haben und versuche, die Panikattacke in den Griff zu bekommen. Ich weiß nicht um wie viel Uhr, aber irgendwas so um Mitternacht kehrt Ruhe ein, und tatsächlich schlafe ich auch relativ schnell ein.

5 1/2 Wochen
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