gleicher Tag (insgesamt 532,6 km gelaufen)

Santa Catalina de Somoza (50 Einw.), 997 m üdM, Provinz León

Hotel, Doppelzimmer, 30 Euro ohne Frühstück

Es ist schon halb neun als ich - zugegebenermaßen der Verzweiflung nah und völlig am Ende - Santa Catalina de Somoza erreiche. Am Ortsrand bleibe ich einen Moment stehen und überlege, ob ich meinen Hund heute schmuggeln soll oder nicht. Das Dörfchen hat 50 Einwohner, also wahrscheinlich auch nur ein einziges Hotel. Da die nächste Übernachtungsmöglichkeit elf Kilometer entfernt ist, bleibt Ruddi wo er ist: Unsichtbar für andere unter meinem Regencape. Nach wenigen Metern entdecke ich auch schon eine Pension, in der es hoffentlich noch freie Betten gibt. Mir fällt gerade auf, dass ich keinen Moment die Notwendigkeit gesehen habe, ein Zimmer reservieren zu müssen.

Das Gebäude ist sehr gepflegt. Die äußeren Fensterbänke vor den kleinen Fenstern sind mit Pflanzenkästen liebevoll dekoriert. Die Fassade ziert wunderschöner Bruchstein. Da es schon dunkel ist und die Räumlichkeiten von einem warmen, anheimelnden Licht erhellt sind, kann ich erkennen, dass das Restaurant proppenvoll ist. Ein gutes Zeichen - aber wenn die auch alle hier schlafen, könnte es eng werden mit der Übernachtung. An der Eingangstür lese ich im Vorbeigehen: No Perro! „Nur keine Panik“, denke ich, schaue nochmal kurz in meinen Poncho, sortiere Ruddi so, als wäre er mir körpereigen und betrete klitschnass, total müde, aber trotzdem freundlich und voller positiver Erwartung das Lokal.

Alle Blicke liegen auf mir. Ich wundere mich ein bisschen, denn so ansehnlich bin ich nach dieser Etappe, die einem Überlebenstraining nahe kam, bestimmt nicht. Aber die Leute sehen mich so gerührt, so mitfühlend und wunderlich an. Was hab ich denn an mir? Ja, ich weiß, es sieht aus, als hätte ich Körbchen-Größe Doppel-G, bin völlig geschafft, patschnass und glänze im Gesicht. Das kann die Herzen meiner Mitmenschen schon erweichen. Ich habe jedoch das Gefühl, noch etwas anderes auszustrahlen. Sie sehen mich an, als hätten sie alle das Bedürfnis mich in den Arm zu nehmen. Hätte nichts dagegen, würde mir heute guttun - kommt nur her! Ich halte einen Moment still!

Es ist so schön warm und gemütlich hier drin. Sofort fühle ich mich sauwohl und kann mir nicht mehr vorstellen, zurück in den Regen zu gehen. Als ich an die Theke herantrete, sehen mich die Wirtsleute ähnlich betroffen an, wie die Gäste. Ich habe das Gefühl, dass man mir unbedingt etwas sagen möchte, es dann aber doch lieber lässt. Hm, komisch! Aber gut - sei’s drum! Ich fackel nicht lange und frage nach einem Zimmer. Der junge Señor sieht mir auf die Brust, anstatt in die Augen, zögert einen kurzen Moment und sagt dann mit einem tiefen Seufzer in der Stimme: „Si, señora, momento por favor.“ Naja, was soll ich sagen, ich kenne diese Blicke, wenn Ruddi unter meinem Poncho im Netz sitzt. Der Mann verschwindet in den hinteren Räumen und kommt nach geraumer Zeit mit einem Schlüssel in der Hand zurück.

Er führt mich über einen märchenhaft dekorierten, gekonnt beleuchteten Innenhof, eine ebenso schöne Treppe und einen mit exquisiten Accessoires geschmückten Gang. Noch eine Treppe und ein weiterer Gang. Alles ist sehr gepflegt und wertvoll. Die Böden sind mit großen terrakottafarbenen Fliesen belegt. Ab und zu wurde ein Mosaik eingebettet. Selten habe ich so was Schönes gesehen. Mehrmals biegen wir ab. Ich staune nicht schlecht. Das Ding ist riesengroß nach hinten raus! Als ich schon nicht mehr damit rechne, erreichen wir das für mich vorgesehene Zimmer. Es liegt ganz am Ende eines Laubengangs, der dem Rest des Hauses in nichts nachsteht.

Mir bleibt der Mund offen stehen, der Raum ist zwar nicht besonders groß, aber die ausgesuchte Einrichtung passt genau zu dem, was ich bis hierher gesehen habe. Insgesamt bin ich in einer Wohlfühl-Oase gestrandet. Nach der grauen, stürmischen und nassen Etappe bekomme ich nun meine Belohnung für mein Durchhaltevermögen. Ich wusste doch, dass das für was gut ist. Begeistert stehe ich, immer noch mit meinem Regenponcho bekleidet dumm rum. Ich möchte mich gerne meiner nassen Sachen entledigen, aber Ruddi darf ja nicht auffliegen. Der freundliche Señor fragt mich unaufdringlich, ob ich noch vorhabe, zum Essen zu kommen. Ich nicke zustimmend und nachdem er heimlich noch einen Blick auf meinen „Atombusen“ geworfen hat, lässt er mich alleine.

Als ich den Reißverschluss meines Ponchos öffnen will, trifft mich fast der Schlag. Der ist schon offen und Ruddi’s Kopf liegt, komplett und gut sichtbar für jeden, frei. Er guckt mich mit glänzenden, müden Augen an, als wenn er sagen wollte: „Reg Dich jetzt nicht auf. Alle haben mich gesehen, von Anfang an. Trotzdem haben wir ein Zimmer und außerdem wollten die Gäste nicht Dich umarmen, sondern mich ein bisschen knuddeln. Sorry!“

Mein Einzug in dieses Lokal läuft nochmal wie ein Film vor meinen Augen ab und ich krümme mich vor Lachen. Das muss für die Leute ein ganz besonderer Moment gewesen sein. Ein süßer, kleiner Hundekopf mit treuen schwarzen Knopfaugen, der offensichtlich nicht gesehen werden soll und sein Frauchen in einem knallroten Poncho, das nix mehr merkt. Klar, natürlich wollten sie mir was sagen. Sowas wie: „Du hast nen Schlitz im Poncho, aus dem dein Hund rausguckt und wir glauben, dass du das nicht willst!“ Will ich wissen, was in den Köpfen vorging? Vielleicht lieber nicht!

Vor dem Essen, auch wenn es schon sehr spät ist, muss ich aber noch duschen. Ich will jetzt am Ende des Tages, nach soviel kaltem Regen, endlich heißes Wasser über meinen unterkühlten Körper laufen lassen. Die Wäsche ist schnell gemacht - nass war sie ja schon. Da mich niemand offiziell auf meinen Hund angesprochen hat, beschließe ich vorsichtshalber, Ruddi inkognito in der Tasche zum Essen zu transportieren. Er ist mir dankbar dafür, kuschelt sich in seine Decke und fällt sofort in einen tiefen, wohlverdienten Schlaf.

Ich kann nur hoffen und beten, dass meine Nase noch funktioniert und ich dem Essensduft folgen kann. Ich konnte mir vorhin den langen Weg zwischen Theke und Zimmer beim besten Willen nicht merken. Es gab unterwegs viel zu viel zu sehen. So irre ich eine Weile mit müden Füßen durch die Gänge und nach vielen Anläufen finde ich kurz vor dem Aufgeben doch noch den Gastraum wieder. Es ist aber auch verzwickt und verwinkelt in diesem Märchenschloss, das im Vorbeigehen wie ein Hexenhäuschen aussieht.

Nun guckt mir keiner mehr auf die Brust. Die Leute sind jetzt eher an meiner übergroßen Handtasche interessiert - im Geheimen, nicht öffentlich. Ich nehme an einem Tisch Platz, an dem schon zwei Leute sitzen. Schnell finde ich heraus, dass sie ebenfalls pilgern. Wir kommen ins Gespräch und lassen uns über den vergangenen tückischen Tag aus. Nach einiger Zeit fragen sie mich hinter vorgehaltener Hand, wo denn mein Hund sei und ob ich nicht am Eingang das große Hunde-Verbots-Schild gesehen hätte. Ich erkläre die ganze Situation, zeige auf die Tasche, die wie immer neben meinem Stuhl steht und wir fangen laut an zu lachen.

Der gleiche Mann, der mich aufs Zimmer geführt hat, bedient mich auch. Hurra, er sieht mir in die Augen! Er nimmt meine Bestellung entgegen und macht mit einem verschmitzten Lächeln beim Servieren einen großen, eleganten Bogen um meine Tasche. Das Essen ist ebenso großartig wie alles hier. Wie war das noch? Die Spanier mögen keine Hunde? Nein, sie scheinen sie zu lieben!

Relativ spontan finde ich mein Zimmer wieder. Jetzt ist mir auch klar, warum ich so abgelegen untergebracht bin: Hier kommt keiner mehr vorbei und Ruddi hat folglich keinen Grund zu bellen oder sich sonstwie bemerkbar zu machen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das kein Zufall ist und finde es wunderbar.

Heute bin ich besonders stolz auf mich. Trotz strömenden Regens hab ich alles in allem 27 km geschafft. Ungefähr sieben Kilometer musste ich Perrito tragen und wieder fällt mir meine Mutter ein: „Wenn Du ihn tragen musst, dann hast du auch die Kraft dafür.“ Wie wahr! Meine Schienbeine haben sich übrigens erst nach dem Essen gemeldet. Und jetzt schlafen wir nach einigen Minuten Reiki in aller Eintracht gemeinsam ein.

5 1/2 Wochen
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