gleicher Tag (insgesamt 784,0 km gelaufen)
Santiago de Compostela (90188 Einwohner), 260 m ÜdM, Provinz La Coruña
Pension, Doppelzimmer, 30 € ohne Frühstück
Es ist ein langer und unangenehmer Weg nach Santiago de Compostela hinein - wie es auf dem Camino vor jeder großen Stadt war. Ich überquere Autobahnen, Nationalstraßen, Bahngleise, muss mich mit Industriegebieten und lärmendem Verkehr auseinandersetzen. Ein Bürgersteig an einer endlos erscheinenden breiten, stark befahrenen Straße bringt mich der Altstadt immer näher. Es ist noch vor halb fünf und ich bin fast am Ziel. Die Sonne hat kein Erbarmen und heizt uns mächtig ein. Auf einem Betonklotz gönne ich uns dreien eine kurze Verschnaufpause.
Die Hündin verhält sich übrigens vorbildlich. Sie bleibt immer hinter Ruddi - der natürlich bei dem Verkehr angeleint ist - und passt sich einfach jedem Kommando, das er von mir bekommt, an. Macht Sitz, wenn Ruddi es macht, geht weiter, wenn er es tut. Die beiden gucken mich sogar gleichzeitig an. Es ist irgendwie rührend, wie viel Mühe sie sich von Anfang an gab, alles richtig zu machen.
Kurz nach fünf bin ich endlich in der Altstadt. Es ist tatsächlich so, dass einige Leute, die vor den Cafés sitzen, ankommenden Pilgern applaudieren. Ich komme jedenfalls in den Genuss und finde es mehr als angemessen. Wie nach jeder der insgesamt 36 Etappen bin ich auch heute körperlich komplett am Ende und schleppe mich mühsam, durch diese letzte Gasse auf meiner langen Pilgerreise. So hat mein geneigtes Publikum wenigstens ausreichend Zeit, mich zu würdigen.
Ein junger deutscher Fahrrad-Pilger, der gestern bereits angekommen ist, gratuliert mir, den Weg geschafft zu haben. Will ich wirklich jetzt schon auf den Vorplatz der Kathedrale kommen, der allerhöchstens noch hundert Meter von mir entfernt ist? Ich zögere das Ende meiner Wallfahrt zunächst für eine Weile mit einer Unterhaltung hinaus.
„Hast Du Lust und Zeit, mit mir zusammen auf die Plaza del Obradoiro zu gehen?“ Liebevoll lächelnd antwortet er leise: „Du musst das alleine machen. Geh durch diesen Tunnel die Treppen hinunter. Dann stehst Du direkt auf der Plaza! Genieß es! Nimm Dir da unten ein paar Minuten nur für Dich.“
Ich habe genau gehört und verstanden, was mir dieser junge Mann gesagt hat und setze mich langsam in Bewegung. Ich scheine mich verloren zu haben. Was ist denn da los? Wochenlang liebte ich die Einsamkeit, fühlte mich in Wäldern, auf weiten Ebenen, in großen Städten, kleinen Dörfern, Hotels, Hostals, Herbergen und bei Übernachtungen mit und sogar bei fremden Menschen sicher und beschützt. Und ausgerechnet an der Kathedrale in Santiago de Compostela, auf der Plaza de Obradoiro, an meinem großen Ziel habe ich fast Angst, alleine diese Treppen runterzugehen? Ich sehne mich nach jemandem, der den großen Augenblick, nach fast 800 Kilometern, körperlichen Schmerzen, Zweifeln, Aufregung, Durchhalten, Mut, Hoffnung, Glück, Freude und Euphorie, mit mir teilt und fühlt - jemand, der weiß, was der Camino Francés einem abverlangt und tausendfach zurückgibt. Genau jetzt will ich keine Einsamkeit.
Das ändert sich exakt in dem Moment, wo ich diese wahnsinnig große Plaza betrete. Von einer Sekunde auf die andere fange ich einfach an zu weinen. Dicke Tränen laufen über mein Gesicht. Es schüttelt mich regelrecht vor Schluchzen. Meine Knie werden butterweich. Wie in Trance lege ich meinen Rucksack zur Seite und setze mich auf die Mauer, die den Platz eingrenzt. Ich nehme Ruddi auf den Schoß und drücke ihn zärtlich an mich: „Du hast es geschafft. Ich bin so stolz auf Dich. Das werde ich Dir nie vergessen. Wir sind in Santiago. Ich liebe Dich!“ Diese fünf Sätze laufen wie eine kaputte Schallplatte immer und immer wieder ab. Ich kann nicht mehr damit aufhören, merke gar nicht, dass ich rede.
Ich kann nicht mehr denken - nur fühlen. Das Gefühl meinem Hund und mir selbst gegenüber ist überwältigend. Ich habe die Gewissheit, dass ich alles schaffen kann, wenn ich nur will. Jeder einzelne Kilometer zwischen Saint Jean Pied de Port und Santiago de Compostela läuft innerhalb von wenigen Minuten komplett vor meinem inneren Auge nochmal ab. Man sagt ja, dass einem auf dem Jakobsweg irgendwann Gott begegnet. Mein Gott ist das Universum. Und ich kann nur sagen: „Ich bin ihm jeden Tag begegnet. Jedes Mal, wenn ich dachte, ich kann nicht mehr, wurden mir neue Energie und frischer Mut gegeben. Damit ich durchhalte, schickten sie mir atemberaubende Landschaften, einzigartige Erlebnisse, liebevolle Menschen, Sonne, Regen, Tiere, Blitzideen und Erkenntnisse. Danke, ihr da oben!“
Die Tränen laufen in Sturzbächen, tropfen von meinem Kinn auf Ruddi und machen ihn nass. Ich habe keine Ahnung wie lange ich bereits hier sitze. Perrito springt nun jedenfalls von meinem Schoss und erkundet die Plaza ganz für sich alleine. Es befinden sich deutlich weniger Menschen hier, als ich vermutet hatte. Die zugelaufene Hündin liegt ungefähr zehn Meter von mir entfernt und beobachtet mich verständnisvoll. Sie hat mich tatsächlich mit Ruddi alleine gelassen.
Plötzlich höre ich, wie eine Frauenstimme fassungslos ruft: „Ruddi? Das ist doch Ruddi! Birgit?“ Ich brauche einen Moment, um zu mir zu kommen und bin fassungslos. Es dauert ein paar Sekunden, bis mir klar wird, wer da überglücklich, mich zu sehen, seine Arme ausbreitet. Ich bin unfähig mich auch nur einen Meter zu bewegen. Mit ungläubigem Gesicht kommt doch tatsächlich Gabi aus Aachen auf mich zugelaufen. Das gibt es doch gar nicht! Erst als sie mich an den Händen von der Mauer hochzieht, weiß ich, dass das alles wirklich passiert.
Das ist also meine Überraschung, die der Camino am Ziel für jeden Pilger bereithält! Haargenau im richtigen Moment, hält und fängt mich ein Mensch auf, der ganz genau weiß, wie ich mich gerade fühle. Man muss es selbst erlebt haben, aber Pilgerfreundschaften sind unglaublich intensiv. Ganz kurze gemeinsame Zeit lässt fast familiäre Zusammengehörigkeit und Vertrautheit entstehen. Diese Umarmung werde ich mein Leben lang nicht vergessen. In Honto in der Herberge haben wir uns beim Wäscheaufhängen kennengelernt, danach noch zwei oder dreimal gesehen und dann bis eben aus den Augen verloren. Und genau in diesem Moment, wo ich hier eintrudele, ist sie zur Stelle, um mich aufzufangen. Sie und Franz-Josef sind schon seit drei Tagen hier und auch jeden Meter des Jakobswegs gelaufen. „Wo ist Dein Mann?“ In diesem Moment springt er herbei, wirbelt mich herum, jubelt und - von jetzt an ist der Redefluss gnadenlos - holt mich wieder auf die Erde zurück. Es tut so gut, mich mit den beiden auszutauschen.
Der junge Radpilger wusste genau, warum er mich alleine gelassen hat. Im Nachhinein bin ich mehr als dankbar dafür. Die Minuten auf der Mauer haben meinen Abschluss des Jakobswegs gebildet. Gabi und Franz-Josef durften keine Sekunde früher auftauchen. Dann wären mir tatsächlich das letztendlich befreiende Weinen, das
Glücksgefühl, alles schaffen zu können und das Loslassen des Caminos unwiderruflich entgangen. Und Gabis Umarmung wäre nicht die gleiche gewesen. Ich danke diesem Mann aus tiefstem Herzen.
Dieses Wiedersehen ist mit keinem anderen in meinem Leben zu vergleichen. Die beiden sehen sich jeden Millimeter meines Schnurzels genau an. Sie finden es grandios, dass „fünf Kilo Hund“ fast 800 Kilometer in 5 ½ Wochen unbeschadet überstehen. Und sie machen mir klar, nachdem auch sie meine kaputte Schallplatte hören durften, dass ich nicht vergessen soll, auch auf mich stolz zu sein, es geschafft zu haben.
Die Hündin zieht meinen Blick auf sich. Sie liegt immer noch friedlich auf demselben Platz, wie bei der Ankunft. Sie lässt mich nur einfach nicht aus den Augen. Klar ist, dass ich sie nicht mit ins Hotel nehmen kann und will. Ich spreche mit Franz-Josef und Gabi darüber. Ein Pilger, der das mitkriegt, weiß genau, wie man mit zugelaufenen Hunden umgeht. Er bückt sich, hebt einen Stein auf und... schneller, als ich es je für möglich gehalten hätte, spring ich dem Mann ins Kreuz und schrei ihn an: „Wag Dich nicht, das zu tun!“ „Anders wirst Du den Köter nicht los!“ Was ist das denn für einer?! Gabi und Franz-Josef sind mit mir entsetzt. Angeekelt zische ich dem Typ zu: „Dann bleibt er eben. Wie kann ein Mensch in der Lage sein, ein unschuldiges Tier mit Steinen zu bewerfen?“ Wir lassen keinen Zweifel daran, dass er von Sekunde an, Luft für uns ist.
Wir verbringen ungefähr eine halbe Stunde zusammen vor der Kathedrale und meine Pilgerfreunde verlangen konsequent von mir, dass ich die Pilgermesse besuche, die gleich beginnt. Ich habe aber überhaupt kein Verlangen danach, in die Kathedrale zu gehen. Sie bleiben dabei: „Du musst! Wir lassen dich hier nicht weg, bevor Du in der Messe warst. Du würdest es Dein Leben lang bereuen, wenn Du es nicht tust. Du musst jetzt versprechen, dass Du da gleich reingehst! Wir passen solange auf Ruddi auf.“ Wild entschlossen nehmen sie ihn mir vom Arm.
Bei so viel Durchsetzungskraft muss ich mich ergeben. Vielleicht haben sie ja Recht. Die Glocken rufen die Neuankömmlinge bereits zusammen. In aller Ruhe fange ich an, meinen Rucksack zu öffnen. „Was machst Du?“ „Wenn ich in die Pilgermesse gehe, dann ja wohl nicht ohne Ruddi! Er gehört da mindestens genauso rein wie ich!“ „Das kannst Du nicht bringen. Wenn er auffällt, fliegst Du im hohen
Bogen aus der Kirche! Lass ihn bei uns, bitte!“ Woher sollen sie auch wissen, wie eng mein Hund und ich in den letzten Wochen zusammengewachsen sind. Perrito springt in sein Taschenbett, legt sich hin und zwinkert dem Paar aus Aachen beruhigend zu: „Mein Frauchen und ich machen das schon!“
Wir verabschieden uns voneinander. „Wir sehen uns bestimmt morgen nochmal. Wir bleiben noch drei Tage! Bis dann!“ sagen Gabi und Franz-Josef. Bis dann? Kein „buen camino“? Hab ich es denn schon wieder vergessen? Ab jetzt brechen andere Zeiten an. „Tschüss, ihr zwei, macht’s gut“, kommt es nur schwer über meine Lippen.
Die Kathedrale ist brechend voll. Ach, deshalb ist die Plaza so leer! Bis die Messe anfängt, bahne ich mir einen Weg durch die Menge und lasse das fast 100 Meter lange Mittelschiff des Gotteshauses auf mich wirken. Letztendlich haben meine Pilgerfreunde recht gehabt. Es ist schon eine besondere Atmosphäre und Erfahrung, mit hunderten anderen Wallfahrern zusammen still zu werden.
Nach der Messe strömen die Menschen aus der Kathedrale auf die Plaza. Ich traue meinen Augen nicht: Die Hündin liegt noch immer auf ihrem Platz und wartet. Ich stehle mich davon, wie ein Schwerverbrecher. Aber ich kann sie nicht mitnehmen. Sie muss jetzt zusehen, dass sie ohne mich klar kommt.
Ganz wichtig ist mir plötzlich die Compostela, die Urkunde, die vom Pilgerbüro für mich persönlich ausgestellt wird. Hoffentlich geht das um diese Uhrzeit noch. Ich habe Glück. Mit vielen anderen Pilgern stehe ich in einer langen Schlange und warte geduldig darauf, das Dokument endlich überreicht zu bekommen. Ich habe übrigens im Januar 2010 meinen Mädchennamen Kürten wieder angenommen. 2008 hieß ich noch Birgit Abitz. Dieser Moment ist viel zu unspektakulär. Ich hätte mir eine Blaskapelle gewünscht, die mich hinaus begleitet. Das haben sie nicht auf die Reihe gekriegt. Ich werde mich bei der Stadt darüber beschweren, wenn ich mal wieder vorbeikomme.
Bei der Planung meiner Pilgerreise, hatte ich mir vorgenommen, bis „ans Ende der Welt“ nach Cabo Finisterre zu laufen. Das sind weitere 87 Kilometer, also für mich persönlich vier Etappen. Bereits bei Antritt der Reise war mir bewusst, dass 5 ½Vi Wochen knapp werden könnten und habe das als Bonus im Hinterkopf behalten. Nachdem ich die Hälfte des Jakobswegs gelaufen war, wusste ich, dass das Ende der Welt für mich nur motorisiert zu erreichen sein würde. Das hat hingehauen! Mir bleibt tatsächlich noch ein ganzer Tag für Kap Finisterre. Mann, bin ich gut! Bei der Tourist-Info erkundige ich mich noch rasch, wann morgen ein Bus dorthin fährt und wo ich in Santiago auf die Schnelle ein freies Zimmer finden kann. Sie stellen direkt ein Busticket aus und nennen mir eine Unterkunft, die in unmittelbarer Nähe der Haltestelle ist. Na, dann will ich mich mal versöhnlich zeigen und die fehlende Blaskapelle großzügig vergessen. Vielen Dank für den prompten Service an einem müden Pilger.
Ruddi wird das letzte Mal inkognito in einem Hostal übernachten. Ich gehe lieber kein Risiko ein. Mittlerweile streiken meine Füße wie lange nicht mehr und außerdem finde ich es mehr als angenehm, morgenfrüh quasi vom Reisebus vor der Tür abgeholt zu werden.
Das Pensionszimmer ist sehr klein, aber soweit okay. Hier bleibe ich gleich zwei Nächte. Völlig erschöpft von der letzten Etappe mit ihren schwerwiegenden Eindrücken lasse ich mich ausgiebig von der Dusche berieseln. Ich glaube, mein Körper hat mitbekommen, dass in Zukunft nicht mehr täglich so viel von ihm gefordert wird und lässt sich komplett gehen. Es fällt mir unsagbar schwer, mich noch einmal aufzurappeln, um etwas essen zu gehen. Ich muss nämlich dafür außer Haus. Hier kann ich lediglich schlafen, sonst nichts.
In Santiago ist alles anders, als auf dem Camino. Die typischen Pilgermenüs gibt es hier nicht. Dafür steht eine Riesenauswahl unterschiedlichster Lokale bereit. Unschlüssig schleppe ich mich durch die Gassen der wunderschönen Altstadt. Zum guten Schluss genehmige ich mir mutterseelenallein - und das ist auch gut so - ein Steak und zum Nachtisch ein Stück der traumhaften Santiago-Torte, die anscheinend stets nach dem gleichen Rezept gemacht wird.