Gleicher Tag (insgesamt 239,4 km gelaufen)
Belorado (2132 Einwohner), 770 m üdM, Provinz Burgos
Herberge mit Hotelzimmern, Doppelzimmer, 30 Euro
Völlig in positiven Gedanken versunken, höre ich ein Handy klingeln. Ich weiß das Geräusch zunächst gar nicht zuzuordnen. Handy, was ist das? Kann man mit dem Teil auch telefonieren? In den letzten Tagen habe ich lediglich Fotos und Videos damit gemacht. Erstaunt und gespannt melde ich mich und der Anrufer sagt mit tiefer Stimme: „Nur noch eine Minute, dann bist Du bei uns. Der Wein ist schon bestellt.“ Mir fällt erst mal nichts dazu ein. Ich habe Schwierigkeiten das ganze einzuordnen. Als ich meinen Blick weite, sehe ich 100 Meter von mir entfernt, oberhalb des Weges, ein großes einladendes Gebäude mit vielen wehenden Fahnen und noch mehr Leuten auf der vorliegenden Terrasse.
Einige Menschen winken mir wild zu. Etwas irritiert winke ich vorsichtig zurück. Oder ist da jemand hinter mir und ich bin gar nicht gemeint?! Ich drehe mich kurz um, kann aber niemanden entdecken. Am Telefon höre ich schallendes Gelächter: „Hallo...!? Erde an Birgit...! Wir warten schon so lange auf Dich! Leg mal den nächsten Gang ein und beweg Dich hier rauf!“ Endlich erkenne ich Achims Stimme. Ich schalte in den Turbogang und bin innerhalb von Sekunden an dem Tisch, an dem meine Pilgerfreunde sitzen. Oliver Achim, Sabrina, Sören und Pia fallen mir um den Hals. Ruddi macht da einfach mal mit, springt ausgelassen an ihnen hoch und holt sich ein „Küsschen auf die Stirn“ ab. „Wo warst Du? Wir sitzen hier schon seit Stunden!“ Ich schaue mir den Tisch genauer an. Es ist nicht zu übersehen, dass sie schon eine ganze Weile mit Bier und Wein feiern. Ich muss natürlich zuerst einmal Bericht erstatten, wie es mir so ergangen ist.
Mann, können die Pilger albern sein! Wenn wir zusammenkommen, sind wir immer außer Rand und Band. Ich erfahre, dass es sich hier um eine Herberge handelt, die auch Hotelzimmer anbietet. Meine Freunde bleiben diese Nacht in diesem Haus und haben bereits Quartier bezogen. Edit ist und bleibt zu meiner großen Freude auch. Sie ist in den Ort gegangen, um an der allabendlichen Pilgermesse teilzunehmen. Wir befinden uns nur wenige hundert Meter vor Belorado. Ich wende ein, dass ich heute erst gute 16 Kilometer gelaufen bin. Das ist zu wenig. Ich muss noch mindestens einen Ort weiter, damit mein Schnitt nicht kaputt geht. Am Ende bleibt mir zu wenig Zeit um mein großes Ziel zu erreichen.
Sie geben gemeinsam alles, um mich zu überreden: „Es ist so schön hier! Wir haben doch so viel Spaß! Wo wir doch nun mal alle zusammen sind...! Essen können wir auch vor Ort, vom Frühstück mal ganz abgesehen. Die Herbergsleute sind so nett und die Preise stimmen. Komm, gib Dir nen Ruck und nimm ein Zimmer.“ Ich wende ein: „Ob ich eins bekäme ist fraglich. Die haben meinen Hund gesehen.“ Sabrina sagt: „Die Besitzerin hat ihm doch sogar schon Wasser und ein Stück Wurst gebracht. Sie hat bestimmt nichts gegen ihn.“ Ich will es mir beim Essen nochmal überlegen.
Zu guter Letzt stößt Edit auch endlich zu uns. Wir freuen uns, dass wir so komplett an diesem Abend zusammen sind und bestellen erst mal eine Runde Bier und Wein. Temperamentvoll stoßen wir an und benehmen uns ein bisschen wie ausgelassene Kinder. Unsere gute Laune ist für die Leute an den Nachbartischen ansteckend. Immer öfter sehen und hören wir auch die anderen „müden“ Pilger lachen.
Es gibt sogar einen Swimmingpool in dieser Herberge. Sabrina erzählt, dass sie heute Nachmittag fast hineingesprungen wäre, als ein sehr dicker und sehr, sehr ungepflegter Mann an ihr vorbeirannte und mit einer Arschbombe im kühlen Nass aufschlug. Sie hatte ihn kurz vorher im Schlafsaal eine Weile beobachtet und wusste, dass er nach der Hitze und Anstrengung des Wandertages keine Dusche genommen hatte. Sie hatte also seinen Duft wahrgenommen und sich geekelt. Sie waren zeitgleich rausgegangen. Dass der in diesem Zustand in den Pool wollte, konnte sie ja nicht ahnen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit ihm zusammen in ein und demselben Wasser zu sein. Darüber ärgert sie sich immer noch. Herbergen mit Swimmingpool sind höchstselten. Den Luxus sehen wir hier das erste Mal. Wir nehmen sie liebevoll ein bisschen „hoch“: „Der ist doch schön sauber geworden in dem Wasser, wo ist denn Dein Problem. So schlimm war es auch wieder nicht. Solange der nicht rein pinkelt, kannst Du Dich wirklich nicht beschweren.“ Das Ding ist, dass der Mann nur zwei Tische weiter beim Abendessen sitzt und nach dem Schwimmen sehr gepflegt und zufrieden aussieht. „Guck doch mal, wie gut ihm das getan hat.“
Sabrina versteht den Spaß und findet ihre gute Laune ruck zuck wieder. Wir bestellen unser Pilgermenü. Als die junge Herbergsmutter uns gut gelaunt das Essen serviert und Ruddi nochmal übers Köpfchen streichelt, frage ich sie nach einem Zimmer. „Ja, gerne. Wir bieten Doppelzimmer für 30 Euro die Nacht an. Der Hund ist auch kein Problem.“ Was!? So einfach geht das?! Ich schlage sofort ein, ohne zu wissen, welche Art Zimmer mich erwartet. Die fehlenden Kilometer werde ich schon wieder aufholen.
Das Essen ist super. Wir alle genießen es in geselliger Runde. Nebenbei erfahre ich, dass Achim, Oliver und Sabrina sich erst in Saint Jean Pied de Port kennengelernt haben. Und ich dachte, sie kennen sich schon seit Jahren. Wieso wundert es mich? Hermann und ich wurden schließlich auch schon als Ehepaar angesehen. Pilgern verbindet eben im Zeitraffer.
Da kommt eine Frau an unseren Tisch. Es handelt sich um Dagmar, wie ich von den anderen im Flüsterton erfahre. Warum gucken die denn so komisch genervt? Wir freuen uns doch sonst immer über jeden neuen der zu uns stößt. Dagmar fragt, ob noch ein Platz an unserem Tisch frei wäre. Achim macht sich sofort breit und gibt ihr augenblicklich deutlich zu verstehen, dass der Platz auf der Bank, auf der Ruddi zwischen uns liegt, auch besetzt ist. „Sorry, aber NEIN! Es ist kein Platz mehr bei uns.“ Ich wundere mich sehr. Auch die anderen winken ab. Was sind die denn auf einmal alle so breit in der Figur? Dagmar will sich einen Stuhl an den Tisch heranziehen, aber niemand weicht auch nur einen Millimeter. Sie lässt sich nicht wirklich beirren und stellt den Stuhl quasi in zweiter Reihe mit an unseren Tisch. Niemand meiner Freunde schenkt ihr auch nur die geringste Beachtung. Sie machen weiter, als gäbe es sie nicht. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Wie können die so kalt und gemein sein? Aber wenn sich sechs Leute einig sind, sollte ich mich, als Später-dazu- gekommener erst mal raushalten. Nach einer geraumen Weile gibt die Neue auf, dreht sich samt ihrem Stuhl einfach um und schließt sich den Leuten am Nebentisch an. Die sehen aber auch nicht gerade erfreut aus.
Leise frage ich Achim, was das denn soll. Er zieht ein Gesicht und sagt: „Lass Dich bloß nicht auf die ein. Die ist so mies drauf, das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Die findet alles ganz große Scheiße. Die redet und redet ganz übel ohne Punkt und Komma über den Jakobsweg, die Herbergen, das Essen und die Spanier. Das Laufen sei ja viel zu anstrengend. Die Wege sind viel zu schlecht: ,da müssen die dringend was dran tun‘. Und alle sind so unfreundlich und bedrohlich. Dabei fährt sie nach eigener Aussage fast immer mit dem Bus. Wir haben ihr nahe gelegt, doch einfach abzubrechen und nach Hause zu fahren. Das überlegt sie ja schon seit mehreren Tagen, aber sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass das alles doch noch besser wird.“ Ungläubig schüttele ich den Kopf und beschließe, mich mit solchen Menschen und Aussagen nicht weiter zu beschäftigen. Plötzlich fällt mir wieder ein, dass ich Dagmar in Lorca an der Theke kennengelernt habe. Sie hatte Hermann an den Rand des Wahnsinns getrieben. Oha, die hatte ich total verdrängt!
Als die Sonne komplett untergegangen ist, wird es sehr frisch draußen und wir entscheiden, uns zur Nachtruhe zu begeben. Es wird noch viel umarmt, gedrückt und geherzt bevor sich jeder zu seinem ihm zugewiesenen Schlafplatz begibt. Die freundliche Herbergsmutter zeigt mir mein Zimmer. Es liegt in einem Nebengebäude, in dem sich sechs bis zehn Hotelzimmer befinden. Ich genieße den Anblick meines kleinen vierbeinigen Freundes, der munter und ohne Leine neben uns den Flur entlangläuft, ganz öffentlich und für alle sichtbar. Das müsste immer so gehen - das wäre toll!
Das Zimmer ist ein Traum. Sehr groß, sehr sauber, sehr modern, zwei große Betten mit kuscheligen Decken und Kopfkissen. Der Raum hat mehrere Fenster, so dass ich lüften kann, was das Zeug hält. Ich brauche nachts viel frische Luft. Das Badezimmer ist der Oberknaller. Es gibt eine Massageduschkabine. Da freu ich mich am meisten drauf. Als ich alleine bin, versorge ich zuerst einmal Ruddi. Der darf sofort in sein Taschen-Bett. Mittlerweile besteht er abends darauf, dass es meine erste Amtshandlung ist, seine Tasche aus dem Rucksack zu kramen und seinen Wassernapf aufzustellen. Danach braucht er mich nicht mehr. Dann habe ich frei.
Also, diese Duschkabine...! Die schreit förmlich nach mir. Innerhalb von wenigen Minuten stehe ich voller Vorfreude darin. Ist ganz schön kalt abends. Die Heizungen haben die Spanier im Allgemeinen aus. Ist ja auch kein Problem, wenn man unter einer heißen Dusche steht. Aber hier spielt mir die Technik einen Streich. Das Ding muss ich erst mal ans Laufen bringen. Es gibt so viele Knöpfe, die man drehen oder drücken kann. Aber wofür sind die denn im Einzelnen? Keine Ahnung! Hilfe! Ich erfriere! Kurz vor dem Aufgeben kommen dann doch die ersten Wassertropfen von oben. Die seitlichen Düsen bleiben trocken. Na ja, macht nix! Nach so langem Vorlauf freue ich mich unendlich, dass überhaupt warmes Wasser läuft. Ich genieße es minutenlang, einfach nur dazustehen und mich aus dem großen Duschkopf berieseln zu lassen.
Frisch geduscht und unglaublich zufrieden falle ich ins Bett. Ich sehe mir nochmal die Fotos des Tages an und schreibe ein paar Notizen in meinen Reiseführer. Jetzt wo ich komplett zur Ruhe gekommen bin, spüre ich den Anflug einer Erkältung. Die kann ich ja wohl überhaupt nicht gebrauchen. Ich gebe mir noch ein paar Minuten Reiki und schlafe darüber ein.