gleicher Tag (insgesamt 154,4 km gelaufen)
Viana (3425 Einwohner), 475 m üdM, Navarra
Pension, 20 Euro pro Person ohne Frühstück
Als wir die Stadt endlich erreichen, ist es bereits dunkel. Es ist so gegen 21.30 Uhr. Ich laufe nur noch wie in Trance hinter meiner Pilgerfreundin her. Wir müssen die Straßenseite wechseln und über eine niedrige Leitplanke steigen, die die vierspurige Straße teilt. Normalerweise wäre das ein Klacks für mich, aber jetzt schaffe ich das nicht mehr. Es geht einfach nicht! Ich muss ein Stückchen bis zum Anfang dieser Hürde zurückkriechen - habe böse, wütende Gedanken: „Hätte Ina mich nicht vorwarnen können. Die muss doch wissen, dass ich dazu nicht mehr in der Lage bin!“ Wie ungerecht von mir, aber ich empfinde das gerade als Höchststrafe. „Bloß keinen Meter zu viel laufen.“
Die ersten Menschen, die uns begegnen, fragen wir nach einem Hotel. Die schicken uns doch tatsächlich eine lange, steile Straße in den Ortskern hinauf. Unverschämtheit! Ich habe das Gefühl, ich müsste jetzt noch einen Viertausender erklimmen und stehe, mit offenem Mund auf meine Stöcke gestützt, am Fuße dieses schier unüberwindbaren Berges.
Irgendwie und mit Inas Anfeuerungsrufen schaffe ich auch das noch. Wir verlaufen uns noch ein paar Mal, bis ich - nun wirklich am Ende meiner Kräfte - ein Ich-weiß-nicht-wie-viel-Sterne-Hotel ansteuere. Meine Kollegin guckt mich entsetzt an: „Bist Du verrückt? Was meinst Du, wie teuer das ist!“ Ich krächze: „Das ist mir scheißegal! Ich bezahl Dir die Differenz zu 25 Euro. Ich kann nicht mehr weiter.“ Die Empfangsdame, zu der wir über eine Treppe gelangt sind, schaut uns ein bisschen von oben herab an. Ich kann sie verstehen: Ich habe Ruddi unter meinem leuchtendroten Poncho versteckt. Ich bin sehr präsent in diesem Outfit und erreiche sie zudem quasi auf allen Vieren. Das muss ein kläglicher Anblick sein! Ich frage sie mit wenigen Worten nach einem freien Zimmer. „Ja, haben wir. Ein Doppelzimmer kostet 80 Euro.“ Was für eine Auskunft!!! Ich zögere einen Augenblick, suche nach den richtigen Worten, habe das Gefühl, Gewalt anwenden zu müssen. Die nette Dame scheint meine aggressiven Schwingungen zu empfangen: „Zwanzig Meter weiter auf der anderen Straßenseite, ist eine Pension.“ Nur eine Sekunde später wäre ich zu allem bereit gewesen.
So schnell es eben geht, begeben wir uns zu dieser Pension. Die 20 Meter kommen mir vor wie 200. Ruddi wiegt momentan gefühlte 15 Kilo, statt fünf in seinem Notfallnetz. Er brummt ganz leise, wie ein Teddy, dem man auf den Bauch drückt und ich glaube zu verstehen: „Ich würde lieber selber laufen, aber die dürfen mich ja wohl nicht sehen. Ich mache mich auch ganz leicht. Gib Gummi! Nicht, dass die uns die Tür vor der Nase zuschließen. Los! Wir schaffen das!“
Er hat Recht. In letzter Sekunde erreichen wir die Eingangstür. Der junge Wirt will uns gar nicht mehr rein lassen. Aber als er mitbekommt, dass wir ein Zimmer mieten wollen, geht alles sehr schnell. Er nennt uns den Preis und fragt ob wir einverstanden sind. „Ja!!!“ Er holt einen Schlüssel und rennt los. Wir sollen ihm folgen. Was denkt der denn eigentlich, wie das gehen soll! Ich lasse mich auch nicht beeindrucken und gehe in meinem „Tempo“ hinterher. Hufe scharrend wartet er drei Häuser weiter an der Eingangstür. Kaum haben wir ihn erreicht, hastet er die Treppen zur zweiten Etage hinauf und öffnet uns die Zimmertür. Ein bisschen später sind auch wir soweit. Er ist wirklich sehr in Eile. Als wir fragen ob es noch was zu Essen gibt, macht er große Augen. Die Küche würde um 22 Uhr schließen. Na toll, es ist jetzt genau 22 Uhr. Und nun? Wir sterben den Hungertod, wenn wir ihn nicht davon überzeugen können, uns noch irgendwas zu kochen. Er stimmt zu, unter der Voraussetzung, dass wir sofort mitkommen. Wir können noch die fünf Minuten rausschlagen, die ich für uns alleine brauche, um Ruddi aus dem Netz in die Tasche zu verlegen. Alles geht blitzschnell. Er beschwört uns, auf keinen Fall länger zu brauchen, er würde sonst das Restaurant schließen. Dann ist er genauso schnell wieder weg, wie er her gelaufen ist. Mann, hat der ein Temperament!
Es ist superlaut im Lokal, obwohl nur vier Erwachsene und zwei kleine Kinder zusammen sitzen. Na ja, das heißt: Die Kinder sitzen nicht, sie veranstalten einen Hürdenlauf durch das ganze Lokal. „Über die Stühle und unter die Tische“ lautet ihr Auftrag. Und sie geben alles, damit man sein eigenes Wort nicht versteht. Als wäre das nicht genug, schreien die Mütter und Väter sich an und der Fernseher läuft auf volle Lautstärke. Ein Gutes hat es: wenn Ruddi bellen sollte, weil die Kinder zu nahe an seine Tasche kommen, hört es sicher niemand. Ich frage mich, wie ich das durchstehen soll. Ich habe mich darauf gefreut, ganz in Ruhe etwas zu essen und wieder zu Kräften zu kommen. Jetzt passiert genau das Gegenteil.
Am anderen Ende des Lokals sitzt ein alter Spanier, der mich schon die ganze Zeit beobachtet. Er trinkt einen Kognak nach dem anderen. Ich habe gerade erst meinen Teller Makkaroni vor mir stehen, die ersten Bissen probiert, als er auf unseren Tisch zukommt. Er spricht mich an. Ich verstehe gar nichts - und ich will auch nicht. Er lässt nicht locker, bedrängt mich regelrecht, hört nicht auf zu reden. Er kommt mir sehr nah, wie es ein Fremder nicht tun darf. Der Mann stinkt nicht nur nach Alkohol, sondern zu allem Übel auch noch nach Schweiß und voller Hose. Mit einem bösen Blick und fester Stimme will ich ihn loswerden. Aber der denkt nicht daran, im Gegenteil: er holt sich einen Stuhl und setzt sich ungefähr einen halben Meter von unserem Tisch entfernt hin. Der Wirt schaut zu mir rüber und gibt mir zu verstehen, dass es ihm Leid tut. Aber in Spanien gilt der Respekt in jedem Fall den Alten, die darf man nicht maßregeln. Ich drehe ihm meinen Rücken zu und lass ihn einfach reden - lieber würde ich die Zecke platt hauen.
Mir ist tatsächlich der Appetit vergangen. Ich kann keinen einzigen Bissen mehr zu mir nehmen. Ich habe einen klassischen „Kloß im Hals“. Das kenne ich im normalen Leben überhaupt nicht - ich kann immer essen. Ina empfindet das nicht so extrem wie ich, das sei in Spanien normal. Da fällt mir ein: Das gleiche hat Hermann in Villava zu mir gesagt, als wir in der überfüllten Bar zum Tapas-Essen waren. Was ist eigentlich mit ihm, es ist der erste Tag, an dem ich nichts von ihm gehört habe. Hoffentlich geht es ihm gut. Ich möchte ihn so gerne fragen, ob er sich gestern bei seiner „Ü-30-Etappe“ genauso fertig gemacht hat. Es ist leider viel zu spät, um ihn noch anzurufen.
Ina isst super langsam, ich habe das Gefühl, ich müsse ihr helfen. Ich will weg hier! Ich brauche immer dringender meine Ruhe. Aber sie denkt nicht im Geringsten daran, sich auch nur ein bisschen zu beeilen. Ganz im Gegenteil! Sie fängt in diesem Lärm an, über ihre familiären und gesundheitlichen Probleme zu reden. Sie merkt überhaupt nicht, wie unsagbar schwer es mir fällt, sie zu verstehen - rein akustisch, aber auch die Tatsache, dass sie es hier aushalten kann.
Die letzten Bissen würde ich ihr am liebsten heimlich vom Teller nehmen, nur damit sie ein Ende findet. Es kommt mir vor, als wären es Stunden, bis wir endlich gehen. Draußen atme ich erst mal ganz tief durch und lasse Ruddi aus der Tasche hüpfen. Hoffentlich hat der keinen Gehörschaden bekommen.
Endlich im Zimmer angekommen, nehme ich wahr, wie winzig es ist. Es befinden sich drei Betten hierin. Zwischen dem links an der Wand stehenden und mittleren steht ein Kleiderschrank von einem Meter Breite und zwischen dem rechts an der Wand stehenden und dem mittleren ein Nachtschränkchen. Es gibt einen Stuhl und damit ist die Einrichtung vollständig. Ein kleines Fenster, fast nur ein Guckloch, lässt kaum Luft herein, weil die Mauern dieses Gebäudes ungefähr einen Meter dick sind. Meine Arme sind jedenfalls nicht lang genug, um mit der Hand nach draußen zu gelangen. Folglich kann man überhaupt nicht runter schauen, lediglich auf die gegenüberliegende Häuserwand.
Ich zwinge mich, duschen zu gehen. Am liebsten ließe ich mich einfach nur ins Bett fallen. Das Badezimmerchen ist so eng, dass man sich noch nicht mal die Hose hochziehen kann, ohne mit der Stirn an die Wand zu klopfen. Wenn ich vor dem Waschbecken stehe und mich bücke um die Zähne zu putzen, klebt mein Hintern an der Wand. Die Dusche ist so eng, dass ich kaum die Arme vom Körper weg bewegen kann. Außerdem ist es hier drin schmutzig und schimmelig. Kein Wunder, es gibt kein Fenster. Beim Füße-abtrocknen hat man einen wunderbaren Ausblick in die Kloschüssel. Aber ich habe nach 31,4 Kilometern endlich ein Dach über dem Kopf und ein Bett zum Erholen. Ruddi liegt schon in seiner gewohnten Koje und genießt wahrscheinlich die göttliche Ruhe.
Ina hat beschlossen, dass sie morgenfrüh duschen geht. Wir sind beide fix und fertig. Sie gesteht mir, dass sie ebenfalls sehr mit den Kilometern zu kämpfen hatte und ihre Kraft aus meiner Erschöpfung heraus gezogen hat. Sie hatte große Sorge, dass ich das letzte Stück Weg tatsächlich nicht schaffen würde. Ich gestehe, dass ich die gleichen Bedenken hatte und danke ihr für ihre Unterstützung. Es ist jetzt ungefähr ein Uhr in der Nacht und ich liege bewegungsunfähig im Bett. Die Erkenntnis dieses Tages ist, dass fast 32 Kilometer eindeutig zu viele für mich sind. Und dass ich im Außen erlebe, was ich Innen fühle.