Montag, 21. April 2008
Lorca (140 Einwohner), 483 m üdM, Navarra
7. Etappe bis Villamayor de Monjardín 18,6 km
Hermann steht wieder so gegen sechs Uhr auf. Heute ist er nicht ganz so rücksichtsvoll und ich werde wach. Er packt ziemlich lautstark seinen Rucksack. Ich wälze mich demonstrativ im Bett und finde es echt doof, dass ich nicht bis acht Uhr durchschlafen kann. Ist das Absicht? Will er mich wecken damit ich mit ihm gehe? Ich frage ihn nicht, aber ich fange am frühen Morgen schon an zu grübeln.
Diese Uhrzeit ist im „normalen Leben“ meine Tiefschlafphase. Da ich von 16 bis zirka 23 Uhr arbeite, gehe ich selten vor zwei Uhr Borgens ins Bett und stehe immer so gegen neun Uhr auf. Ich habe jetzt Urlaub und keine Lust, mich mitten in der Nacht aus dem Bett zu quälen. Bei den „echten Pilgern“ ticken die Uhren anders: Sie schlafen in Herbergen, stehen bereits um fünf auf - so mancher auch noch früher - damit sie gegen 14 Uhr in der Herberge ankommen und sich noch ein Bett aussuchen können. Fast alle haben Angst beziehungsweise Stress damit, an ihrem Etappenziel wegen Überfüllung nicht aufgenommen zu werden.
Hermann hat einen anderen Beweggrund: Er will am Nachmittag - wie er es nennt - frei und viel Zeit für die Bars haben. Er „absolviert“ seine Etappe lieber frühmorgens. Ich hingegen möchte in aller Ruhe aufstehen, gemütlich Kaffee trinken und im Laufe des Tages alle sechs oder sieben Kilometer in einer Bar eine Pause einlegen. Wenn mir danach sein sollte, will ich am Wegesrand die Ruddi-Decke ausbreiten, ein bisschen in die Landschaft schauen und die Dinge auf mich wirken lassen. Zeitdruck kann ich hier überhaupt nicht gebrauchen. Ich will „meinen Camino“ einfach nur in vollen Zügen genießen.
Ich schlafe nochmal ein, als Ruhe im Zimmer ist und stehe gegen acht gut gelaunt auf. Das Frühstück fällt ziemlich mager aus: Cornflakes mit Milch, Zwieback mit Marmelade und Café con leche ist alles, was Tom auf den Tisch stellt. Das scheint in den Herbergen normal zu sein. Gäbe es nur ein einziges Croissant ohne alles, wäre ich zufriedener. Ich bin schnell durch und mache mich auf den fast fünf Kilometer weiten Weg nach Villatuerta, in der Hoffnung dort ein zweites Frühstück nehmen zu können.
Tatsächlich gibt es eine Bäckerei-Bar, wie ich sie mal nennen möchte. Sie bieten unter anderem frisch gebackene Baguettes und meine heiß geliebten Croissants an. Es befinden sich ziemlich viele Leute hier drinnen. Ich habe Glück: Da ist noch ein freier Tisch. Ich schnalle meinen Rucksack ab und breite Ruddi’s Decke aus. Er legt sich dankbar darauf und rollt sich ein. Niemand nimmt ihn wahr. Glücklich und zufrieden trinke ich meinen Kaffee, esse mein warmes, unglaublich leckeres Blätterteighörnchen und lese in meinem Reiseführer.
Eine Pilgerin, so um die vierzig Jahre alt, setzt sich zu mir. Sie heißt Ina. Ob das die Ina ist, die gestern Abend nicht zum Essen gekommen ist? Ich weiß sie nicht wirklich einzuschätzen. Sie wirkt ein wenig kühl und reserviert. Wir unterhalten uns ein bisschen. Sie ist ebenfalls alleine auf dem Weg und erzählt mir, dass sie seit ein paar Jahren immer wieder an Brustkrebs leidet und bereits mehrere Operationen und Chemotherapien hinter sich hat. Jetzt geht sie den Camino, anstatt eine weitere Therapie zu machen und hofft, dass die Pilgerreise besser hilft, wieder gesund zu werden.
Es muss unglaublich hart sein, mit dieser Krankheit klar zu kommen. Vor fünf Jahren habe ich meinen Job als Taxifahrerin hingeschmissen, weil ich täglich mit dem Leid der kranken Menschen konfrontiert war. Ich habe im Tagdienst gearbeitet und meistens Patienten zu den Therapien, Ärzten oder auch ins Krankenhaus gefahren. Viele Fahrgäste sah ich täglich. Ich baute ein wirklich enges Verhältnis zu ihnen auf und sie zu mir. Nicht selten wurden mir Operationsnarben oder Wunden gezeigt und sie erzählten mir von ihren Schmerzen und Symptomen, aber auch von Hoffnungen. In den zwei Jahren als Taxifahrerin verstarben über 50 unserer kranken Kunden. Auf einmal waren sie nicht mehr da. Das nahm mich jeden Tag mehr mit. Ich konnte diesen Job nicht länger ausüben, sonst wäre ich auch krank geworden.
Damals bin ich vor den Problemen weggelaufen und heute sitzt Ina in einer Bar in Spanien vor mir und erzählt mir das gleiche, was ich damals von meinen Fahrgästen zu hören bekam. Es nimmt mich sehr mit, es tut mir unendlich Leid für Ina. Aber ich möchte so bald wie möglich hier weg, raus aus dieser Situation. Ich werde jetzt noch schnell zur Toilette gehen und dann verschwinden. „Kann ich den Hund für die paar Minuten hier liegen lassen? Bleibst Du noch so lange hier?“ frage ich sie und bekomme zur Antwort: „Na klar!“ Ruddi findet die Idee nicht so gut. Als er merkt, dass ich mich entferne, steht er auf und will hinterher. Ina beruhigt ihn und er kommt ja auch nur so weit wie seine Leine lang ist. Nach ganz kurzer Zeit bin ich wieder zurück und finde Ina aufgelöst vor. „Was ist passiert?“ Sie ist empört: „Die Verkäuferin hat mich wegen Deinem Hund angemacht. Der dürfe hier gar nicht drin sein. Ich weiß nicht, was die sonst so alles gesagt hat. Die hat sich ganz schön aufgeregt. Ich wollte ihr dann klarmachen, dass das gar nicht meiner ist, dass der Dir gehört und ich nur aufpasse. Das fand ich jetzt aber scheiße! Ich hab ja wohl nichts falsch gemacht!“ Ich versuche sie wieder zu beruhigen und sage ihr: „Das tut mir von Herzen leid. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es Ärger geben könnte. Das ist mir bis jetzt noch nicht passiert. Trotzdem danke!“ Auch das noch!
Ich trinke im Stehen meinen Kaffee aus und verabschiede mich. Ina fragt, ob wir zusammen laufen können. Ich lehne das ab mit den Worten: „Ich will den Weg alleine gehen. Jeder hat ja auch sein eigenes Tempo. Sei mir nicht böse. Wir sehen uns bestimmt in der nächsten Bar wieder.“ Draußen atme ich zuerst einmal tief durch und versuche meine innere Ruhe wieder herzustellen. Das Ganze hat mich total aufgewühlt. Die Erinnerung an meine Zeit als Taxifahrerin, die krebskranke Ina und die Ablehnung gegen Ruddi. Plötzlich steht meine neue Pilger-Bekanntschaft neben mir und fragt mich, ob ich ihr mit dem sich hinter mir befindlichen Geldautomaten helfen kann. Sie hätte mitbekommen, dass ich ein bisschen Spanisch spreche. Ich stimme natürlich zu. Die Sache ist schnell abgehandelt, da der Automat auch Deutsch „spricht“. Sie bedankt sich trotzdem und ich verlasse sie mit einem „buen camino“.
Die vier Kilometer nach Estella führen Ruddi und mich zwischen Fabriken und Gemüsegärten entlang. Im Großen und Ganzen ist der Weg wirklich leicht heute. Nur ab und zu werde ich von kurzen, dafür aber heftig steilen Abschnitten überrascht. Das Wetter ist schön. Immer wieder lässt die Sonne sich blicken. Kurz vor Estella werde ich von Edit überholt. Wir freuen uns über das Wiedersehen und sie wundert sich darüber, dass ich ohne Hermann unterwegs bin. Sie dachte gestern Abend, wir würden uns schon aus der Heimat kennen und wären zusammen verreist. Ich kläre das natürlich deutlich auf. Wir gehen ein kurzes Stück zusammen. Ich merke, dass ich heute wirklich alleine laufen muss. Ständige Gesellschaft ist mir gerade unangenehm, macht mich nervös und ich sage: „Edit, Du bist schneller als ich. Geh nur weiter. Ich bleibe zurück. Wir sehen uns bestimmt später wieder.“ Sie stimmt mir zu und ich lasse sie ziehen.
Schon nach ungefähr einer Viertelstunde, am Ortseingang von Estella, treffen wir uns noch einmal. Wir bewundern gemeinsam den Blick auf die Stadt und dann verabschiedet sich Edit, wie immer auf Englisch: „Ich muss hier irgendwo eine Post finden. Mein Rucksack ist zu schwer und ich schicke einige überflüssige Sachen nach Hause. Bis bald.“ Das habe ich in den letzten Tagen schon häufiger gehört, dass viele Pilger so Manches getrost hätten zu Hause lassen können. Mein Rucksackinhalt ist perfekt. Zumindest bis jetzt. Ich vermisse nichts und habe auch nichts Überflüssiges dabei. Doch, ein einziges Teil gibt es, das ich gerne loswerden möchte: die Rucksack- Schutzhülle für den Flug. Sie schützt die Gurte und Schnallen vor dem Abreißen auf den Transportbändern. Sie wiegt 260 Gramm. Die schleppe ich nun für fast sechs Wochen rum, ohne sie zwischendurch zu benötigen. Brauche ich die wirklich? Man kann ja nie wissen! Mal sehen - noch kann ich mich nicht trennen.
Estella ist eine einzige Baustelle. Es ist schmutzig, laut und stressig- Ich kann den Städten nichts abgewinnen. Ich will hier nur wieder schnell durch. Auf Sehenswürdigkeiten habe ich keine Lust. Ich glaube, das ist für mich eine andere Reise. Ich habe Prioritäten gesetzt. Und an erster Stelle stehen für mich die Menschen, die mir auf dem Weg begegnen. Ich will zwar alleine laufen, aber wenn ich in den Bars oder abends beim Essen bin, möchte ich genügend Zeit für Gespräche haben. Beides geht nun mal nicht, dafür hat der Tag zu wenig Stunden - außer man steht morgens um vier, fünf Uhr auf und kommt erst spät abends am Etappenziel an.
Mitten in der Stadt überhole ich eine Pilgerin, die durch ihre Erscheinung und Körperhaltung auffällt. Sie ist ziemlich stämmig, geht etwas gebeugt und sehr langsam. An einer roten Fußgängerampel beobachte ich, dass sie mit einer sehr alten Spanierin spricht. Ich glaube es geht um eine bestimmte Kirche und den Glauben überhaupt. Die Pilgerin bekommt die Handschuhe der alten Dame überreicht. Sie umarmen sich, bevor sich ihre Wege trennen.
Am Stadtrand, mache ich auf einer Parkbank Rast und genieße die Sonne. Hier ist es schon wesentlich ruhiger und ich freue mich, gleich wieder in der ländlichen Gegend unterwegs zu sein. Da kommt die Peregrina von eben zu mir und fragt ob sie sich zu mir setzen darf. Ich bin ganz gespannt wen ich jetzt kennenlerne. Sie heißt Gudrun, ist Mitte fünfzig, gesundheitlich angeschlagen und sehr christlich. Andächtig erzählt sie mir, dass die alte Dame von vorhin ihr die Handschuhe mitgegeben hat, damit sie sie nach Santiago trägt. Sie darf sie aber bis zu ihrer Ankunft in der heiligen Stadt durchaus auch tragen. Ich staune nicht schlecht. Was einem auf dem Jakobsweg so alles passieren kann!
Nachdem ich zu meiner Überraschung eine Banane geschenkt bekommen habe, erfahre ich von Gudrun, dass sie wegen ihrer Schmerzen in den Beinen nicht immer laufen kann und oft nur mit dem Bus weiterkommt. Sie hat sich vor ein paar Tagen mit einer Pilgerin zusammengetan und die beiden haben sich wohl besonders gut verstanden. Ihre neue Bekanntschaft hat sehr viel Verständnis für sie aufgebracht und ist mit ihr zusammen den Weg besonders langsam gegangen. Gestern haben sie sich allerdings gestritten, weil sie selbst angeblich zu egoistisch sei und zu oft wegen ihrer Krankheiten jammere. Gudrun legt sich morgens um vier neue Verbände an, dadurch fühlt sich die andere gestört, weil sie davon wach wird. Die beiden übernachten immer in Herbergen. Ich kann nicht viel dazu sagen, weil ich keine Partei ergreifen möchte. Ich glaube, ich habe mehr Verständnis für die Person, von der mir gerade erzählt wird.
Bevor eine peinliche Pause entsteht, kommt Ina auf uns zu gelaufen. Ich sehe sie als erste und rufe ihr zu: „Hallo, schön Dich zu sehen. Hab ich’s nicht gesagt, dass wir uns bald wieder sehen?“ Ich bin froh, dass sie gerade jetzt kommt, Gudrun wurde ein bisschen anstrengend. Schade, denn sie ist mit Sicherheit ein herzensguter Mensch. Auch sie dreht sich jetzt um. Sie will wissen wen ich da so freudig empfange. Mit großen Augen sieht sie mich wieder an und sagt sichtlich irritiert: „Du kennst sie? Das ist Ina, meine neue Bekannte, von der ich Dir gerade erzählt habe.“ Die beiden begegnen sich etwas unterkühlt, reißen sich aber meinetwegen zusammen. Sie sagen sich, ohne den jeweils anderen anzusehen ein verhaltenes „Grüß Dich, wie geht’s?“ Ich verdünnisiere mich so schnell ich kann, ohne aufzufallen. Ich habe keine Lust auf die Rolle des Vermittlers.
Der Camino versteht es sehr gut, mich von dem Erlebten abzulenken. Ich muss nämlich durch Ayegui stapfen. Es ist hier genauso steil, wie in Cirauqui, nur nicht so gemütlich, deshalb natürlich auch wesentlich anstrengender. Immer wenn ich etwas ohne Begeisterung mache, ist es schwer zu bewältigen. Also pole ich meine Gedanken um. Von diesem Moment an finde ich es toll, mich wieder einer Herausforderung stellen zu dürfen und lobe mich für jeden Meter, den ich höher komme. Sofort geht es leichter voran. Ist das nicht ne Wucht? Gedanken sind Energie! Das kann ich jederzeit feststellen, wenn ich bewusst durchs Leben gehe, die Verantwortung für mich selbst und alles übernehme was mir widerfährt, anstatt die Augen zu zumachen und alles auf die Umstände oder andere Menschen zu schieben. Das ist oberflächlich betrachtet einfacher oder besser gesagt, man ist es sein Leben lang gewöhnt. Wenn die Dinge super gut laufen, klopft sich meist jeder auf die Schulter: „Das habe ich gut gemacht.“ Passieren negative Dinge, sind es die anderen gewesen: „Da kann ich doch nichts für!“ Wenn man aber den Mut hat, seine Gedanken zu reflektieren, stellt sich immer heraus, dass man jede Situation durch sein Denken herbeigerufen hat. Ich weiß schon lange, dass es so ist, aber wenn es mir schlecht geht, neige ich dazu, dieses Wissen zu verdrängen und die Umstände dafür verantwortlich zu machen. Ich arbeite ständig aufs Neue daran.
Kurze Zeit später erreiche ich Kloster Irache, das vor knapp 1000 Jahren ein Pilgerhospital war. Gleich nebenan befinden sich die Bodegas (Weinkeller) Irache. Es gibt dort einen Brunnen mit zwei Hähnen. Aus dem einen kann jeder, der hier vorbeikommt, Rotwein zapfen und aus dem anderen Trinkwasser. An dieser Stelle ist eine Internetkamera installiert, die ständig Live-Bilder sendet. Jeder Pilger ruft zu Hause an, um sich seinen Lieben zu zeigen.
Ich habe meinen Eltern auch davon erzählt und versprochen, mich von hier zu melden. Leider ist es genau die Zeit, zu der sie ihren Mittagsschlaf halten. Ich kann sie nicht erreichen. Die Enttäuschung ist natürlich groß - aber war ich nicht diejenige, die darum gebeten hat, die Zeit in Spanien ausschließlich für mich zu haben? Also brauche ich mich nicht darüber zu wundern. Es war mein ursprünglicher Wunsch. Obwohl sich hier an diesem außergewöhnlichen Platz bestimmt der ein oder andere Pilger länger aufhält, bin ich für ein paar Minuten tatsächlich ganz alleine.
Ich warte aber, bis jemand kommt, um wenigstens ein Foto von Ruddi und mir zu machen. Zwei oder drei Minuten später erreicht eine Japanerin diesen historischen Ort und bittet mich, sie zu fotografieren. Na, das trifft sich doch gut. Natürlich mache ich das und dann ist sie es, die mich fragt, ob sie mich auch aufnehmen soll. Das Foto ist genau in dem Moment im Kasten als Achim, Oliver und Sabrina den Weg herauf kommen. Sie fragen mich, ob ich noch gerade stehen kann und wir machen Scherze über die Möglichkeit, sich hier maß- und sinnlos zu besaufen, ohne einen Cent dafür bezahlen zu müssen. Sie rufen zuhause an und postieren sich vor der Kamera. Ich freue mich für sie, dass sie den richtigen Zeitpunkt erwischt haben und in Deutschland gesehen werden. Ohne von dem Wein zu trinken - ich will ja schließlich nicht über den Camino torkeln - gehe ich weiter. Okay, ich gebe zu, dass ich ein bisschen traurig bin, meine Eltern nicht erreicht zu haben.
Betrübt setze ich meinen Weg fort. Auf einmal möchte ich doch nicht alleine laufen, aber es ist kein anderer Pilger in Sicht. Nach ein oder zwei Kilometern gibt es eine Bar. Vielleicht treffe ich ja da jemanden. Ich betrete einen riesigen Saal, in dem mehrere „normal große“ Bars Platz hätten. Niemand außer mir und der Bedienung hält sich hier auf. Ich suche einen von zig Tischen aus, hole einen Café con leche an der Theke, nehme Platz und schau mich um. Was ich sehe spiegelt meine momentane Verfassung wider. Der Raum ist groß und leer: ich fühle mich allein gelassen, ungeliebt, obwohl ich doch so viel Platz in meinem Herzen habe. Eine Menge Menschen hätten hier Platz, aber anscheinend findet kein Gast den Eingang (tatsächlich ist der im Souterrain hinter einer Mauer versteckt). Lasse ich keinen an mich ran? Habe ich eine Mauer um mich aufgebaut? Den Reportern, die gerade über den Bildschirm kommen und bestimmt interessante Dinge berichten, wird kein Gehör geschenkt. Ich habe zuhause oft das Gefühl, dass meine Geschichten niemanden interessieren.
Was ist denn da los? Wo kommen auf einmal diese trüben Gedanken her? Ich habe doch gerade in der letzten Woche genau das Gegenteil erlebt! Ich habe in dieser Zeit viele liebe Leute kennen gelernt. Ich wurde oft umarmt und mit leuchtenden Augen begrüßt. Alles was ich erzähle, wird regelrecht aufgesogen. Ich habe unglaublich viel Hilfsbereitschaft erfahren. Die Schlussfolgerung ist daher, dass ich mich auf dem Camino mit Sicherheit den Menschen gegenüber ganz anders verhalte, als zuhause. Ich muss hier „niemand sein“. Ich bin so, wie ich eben bin. Ich verstelle mich nicht, will nicht die „liebe Birgit oder Mama“ sein, muss mich nicht immer beherrschen. Ich bin offen für alles und jeden - und vor allen Dingen einfach glücklich. Ich weiß, dass ich die Menschen, die mich hier kennenlernen, nicht wieder sehen muss und es ist mir piep-egal, ob ich bei den anderen gut ankomme, denn die müssen mich ebenfalls nicht nochmal treffen. Ich hoffe nur, dass ich zuhause diese Einstellung beibehalten kann.
Nach ungefähr einer halben Stunde gebe ich die Warterei auf andere Pilger auf und beschließe, den Trübsinn mit Laufen zu vertreiben. Es ist jetzt kurz nach zwei und ich bin gespannt, wie weit ich heute komme. Vielleicht schaffe ich es ja sogar bis nach Los Arcos. Das sind allerdings noch 17 Kilometer - ziemlich unrealistisch. Aber man weiß ja nie! Vielleicht ist der Weg ganz leicht bis dahin? Ich lasse mich wie jeden Tag überraschen. Ich weiß morgens nicht was der Tag so bringt oder wo ich schlafen werde.
Von Azqueta nach Villamayor de Monjardín sind es zwar nur zwei Kilometer, aber es gilt, auf diesem kurzen Stück 100 Höhenmeter zu bewältigen. Unterwegs treffe ich nochmal Achim, Oliver und Sabrina. Ich beobachte Sabrina beim Rückwärtslaufen. Mir fällt auf, dass sie Gummiclogs trägt. Was ist mit ihren Wanderschuhen passiert? Ich frage natürlich nach. Sie antwortet fröhlich (man beachte die Feinheiten): „Ich gehe immer rückwärts wenn es zu steil wird. Ich komme so besser vorwärts! In den Clogs kann ich im Moment besser laufen, als in meinen Wanderschuhen. Ich habe doch so böse Blasen. Die haben sich sogar entzündet.“ Ich bewundere ihr Durchhaltevermögen, drücke mein Bedauern aus. Aber sie will davon überhaupt nichts wissen und lacht: „Mir geht es richtig gut! Ich laufe auf diesen Schlappen unheimlich gerne. Mach Dir keine Sorgen.“ Ein kleines Stück gehen wir gemeinsam und ich muss sagen, dass sie tatsächlich trotz ihrer Blessuren einen sehr lockeren Gang drauf hat. Sabrina hat eben die richtige Einstellung.
Der Aufstieg nach Villamayor de Monjardín gibt mir den Rest. Vollkommen fertig komme ich oben an. Ruddi könnte immer noch Bäume ausreißen. Er ist vor mir auf der Dorfstraße und schaut zu mir zurück, als wenn er sagen wollte: „Was ist Schatz? Kommst Du dann?“ Ich muss lachen, als mir meine Bedenken zu Anfang dieser Expedition einfallen. Hätte mir klar sein müssen, dass mein Hund mehr Kondition hat als ich. Er läuft den ganzen Tag ohne irgendwelche Probleme über Schotter-, Feld-, Wald- und Matschwege, große wie kleine Steine und asphaltierte Straßen. Selbst Bachläufe sind ihm mittlerweile egal, wobei er doch zuhause am liebsten auf drei Beinen läuft, wenn es ein paar Tropfen geregnet hat. Er hasst Wasser.