Gleicher Tag (insgesamt 418,2 km gelaufen)

Sahagún (2979 Einwohner), 829 m üdM, Provinz León

Hotel, Doppelzimmer, 32 Euro pro Person inklusive Frühstück

Der Einzug in Sahagún ist ein bisschen abenteuerlich. Der Weg verläuft über eine Bahnstrecke. Aber wo ist der Fußgänger-Überweg? Ich kann ihn nicht entdecken und stolpere mit meinem Gepäck und Ruddi im Schlepptau todesmutig einigen anderen Menschen über die freie Bahnstrecke hinterher. Mehrere Gleise und das ein oder andere Mäuerchen wollen auf diesem Weg überquert werden. In Schweiß gebadet von dieser körperlichen und mentalen Überanstrengung kommen wir auf der anderen Seite an.

Ich bin da! In aller Ruhe mache ich mich auf die Suche nach dem gebuchten Hotel. Das stellt sich als leicht heraus. Schon nach wenigen hundert Metern befinde ich mich auf der richtigen Straße. Das Haus ist genauso schnell gefunden. Wow! Das sieht echt nobel aus. Ein - für Pilger - großer Eingang führt direkt ins ersehnte Luxusdomizil.

Damit ich auch richtig genießen kann, ohne die Angst im Nacken, mein Hund könnte im Nachhinein entdeckt werden, lasse ich ihn für alle sichtbar und hoch erhobenen Hauptes an meiner Seite dieses Haus betreten. Wird schon gutgehen! Ich komme mir vor, als stünde ich in einem Palast. Antike Lampen strahlen mit warmem Licht auf wertvolles Mobiliar. Jemand hat die Räumlichkeiten mit viel Liebe zum Detail wunderschön dekoriert. Alles, vom Boden bis zur Decke glänzt und strahlt. Die fein eingedeckten Tische mit ihren dick gepolsterten Stühlen davor, laden jetzt schon zu einem gemütlichen Frühstück ein. Ein Traum wird wahr. Ich fühle mich ein bisschen wie eine Prinzessin, trotz meiner Pilgerklamotten und dem Riesenrucksack auf meinem Rücken. Hoffentlich lässt sich der Empfangschef des Hauses davon nicht beeindrucken.

Mit einem strahlenden Lächeln meinerseits und eleganter Haltung von Ruddi’s Seite stellen wir uns dem vornehm gekleideten Mann vor, der hier die Gäste empfängt. „Buenas tardes. Yo tengo reservado una habitación (Guten Tag, Ich habe ein Zimmer reserviert)“, sage ich, in der Hoffnung die richtigen Worte gefunden zu haben. Er heißt mich herzlich willkommen und schaut zunächst wertfrei auf Ruddi und dann in sein Buch. Mein Hund weiß natürlich nach neunzehn mehr oder weniger erfolgreichen Übernachtungen auf dem Camino genau, wie er zu gucken und sich in Pose zu stellen hat und gewinnt innerhalb von Sekunden das Herz des Señors. Wir haben es wieder einmal geschafft und freuen uns wahrscheinlich gleichermaßen auf eine entspannte, bequeme Nacht in einem sicherlich sehr guten Hotelzimmer.

Das Zimmer ist genauso wie der Rest des Hauses. Es ist groß und schick. Auch hier ist alles blitzblank. Das Bett lädt zum Sich-sofort- reinfallen-lassen ein. Das Bad ruft mir leise zu: „Komm nur, lass Dich mit einer heißen Dusche und frischen, weichen, gut duftenden Handtüchern verwöhnen.“

So kann ich es kaum erwarten, alleine zu sein. Sofort stürze ich mich ins Vergnügen. Unter der wohltuenden Dusche habe ich das Gefühl, die Königin des Pilgerwegs zu sein. Und da ist es wieder: Das fast unbeschreibliche Gefühl des Wanderers, wenn er sein Etappenziel erreicht hat: Märchenhafte Zufriedenheit, Unbesiegbarkeit, Glückseligkeit, Hoffnung, friedliche Ruhe, tief empfundene Liebe zum Leben und Gewissheit alles schaffen zu können.

Da es noch relativ früh am Abend ist, spaziere ich ein wenig durch „Großstadt“ (immerhin 2979 Einwohner). Mal sehen, wo sich die anderen Pilger so rumtreiben. Es gibt viele Lokale, aber keines ruft mich wirklich herein. Ich schlendere zufrieden vor mich hin, lasse mich sanft durch diesen wunderschönen romantischen Ort treiben, so wie es andere in einem Boot auf dem See tun. Wohlwissend, dass ich merken werde, wann ich wo an der richtigen Adresse zum Einkehren bin. Die Orientierung habe ich schon lange verloren. Das ist mir gerade so was von egal! Zurück zum Hotel finden wir mit Sicherheit dafür sorgt Ruddi bereits, seit wir ohne Rucksack das Hotel verlassen haben. Er ist ja schließlich ein intelligenter Hund und weiß natürlich dass wir ohne unser Hab und Gut die Stadt nicht für immer verlassen. So hat er es sich zur ehrenwerten Aufgabe gemacht, meinen planlosen abendlichen Rundgang genauestens zu markieren.

Plötzlich spricht mich ganz freudig erregt eine Frau an: „Birgit! Wie toll ist das denn, Dich hier zu treffen!? Wo übernachtest Du? Hast Du schon zu Abend gegessen?“ „Anita! Besser kann es nicht kommen.“ Wir fallen uns um den Hals, als hätten wir uns seit Jahren nicht gesehen. „Das macht den Aufenthalt in Sahagún perfekt! Lass uns essen gehen und uns dann alles erzählen.“ Sie führt mich in ein großes Lokal. Fast alle Tische sind besetzt. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung und aus der Küche strömt ein köstlicher Duft. „Heißer Tipp von meinem Herbergsvater“, sagt Anita. „Hier gibt’s alles, was das Pilgerherz begehrt.“ Nachdem wir ein Pilgermenü mit allem drum und dran bestellt haben, tauschen wir unsere Adressen aus. Vielleicht bleiben wir ja auch im alltäglichen Leben in Kontakt.

Wir sind beide intensiv damit beschäftigt, keine Fehler beim Aufschreiben der Daten zu machen, da fällt mir völlig unerwartet jemand stürmisch um den Hals, reißt mich im wahrsten Sinne des Wortes vom Hocker, küsst und herzt mich, bis mir die Luft weg bleibt. Ich traue meinen Ohren nicht, als ich die Stimme wahrnehme. Das ist Hermann! Wie lange haben wir nichts voneinander gehört? Das muss Jahre her sein! Naja, gut, es sind nur einige Tage, aber sehr viele gelaufene Kilometer. Aufgeregt und völlig zusammenhanglos überschüttet er mich mit Informationen, die mich in diesem Moment komplett überfordern. Ich habe kaum eine Chance zu mir zu kommen. „Dass Du hier bist! Ich habe so oft an Dich und Ruddi denken müssen. Ich dachte schon, Du hättest die Reise abbrechen müssen, weil wir uns so lange nicht getroffen haben.“ Bevor ich zu mir kommen und Worte finden kann, ist er auch schon wieder weg.

Diese Begegnung hinterlässt in mir das zwiespältige Gefühl zwischen Wiedersehensfreude, die ich gar nicht zum Ausdruck bringen konnte und so gerade noch an den verheerenden Mächten eines völlig unerwarteten Orkans vorbeigekommen zu sein. Es gefällt mir nicht wirklich, aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, geht es mir viel besser, jetzt, wo er wieder weg ist. Das Ganze kommt mir so unwirklich, fast gespielt vor. Ich kann es gar nicht richtig erfassen. Er sitzt am Tisch schräg gegenüber mit vier anderen Pilgern, die ich nicht kenne. Sie sind in Feierlaune - albern, total ausgelassen und laut. Er wirft keinen Blick mehr zu uns herüber, so, als hätte es die gerade erlebte Situation gar nicht gegeben. Wüsste ich es nicht besser, könnte man meinen, er hätte mich noch gar nicht entdeckt.

Anita und ich sehen uns an und beschließen ohne Worte, nicht mehr über diesen Vorfall zu reden. Wir genießen den Abend bei einem guten Glas Wein und perfektem Essen, haben uns eine Menge zu erzählen und viel zu lachen. Zu später Stunde verabschieden wir uns in der ehrlichen Hoffnung, uns wieder über den Weg zu laufen. Der Tisch, an dem Hermann mit seinen Pilgerfreunden saß, ist leer. So groß die Wiedersehensfreude auch war, sich zu verabschieden hat er vergessen. Sei’s drum. Anita freut sich auf ihr Herbergsbett genauso wie ich mich auf mein großes, frisches Bett in dem schönen Hotelzimmer und in dem ich ungestört schlafen kann. Es ist halb elf in der Nacht, als Ruddi das letzte Mal für heute das Beinchen hebt.

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