Gleicher Tag (insgesamt 177 km gelaufen)

Navarrete (2211 Einwohner), 512 m üdM, La Rioja

private Herberge, 15 Euro pro Person ohne Frühstück

Kurz vor Ende müssen wir uns nochmal so richtig anstrengen, quasi das Dorf erklimmen. Auch das schaffe ich noch - Ina sowieso. Dann rufe ich wie verabredet Hermann an und er macht sich auf den Weg zum Ortsrand. Ich packe in der Zeit Ruddi in seine Tasche, denn er muss wieder geschmuggelt werden. Ina macht sich schon mal auf die Suche nach einer Herberge. Ich warte eine Zigarettenlänge an Ort und Stelle, aber Hermann ist nicht in Sicht. Also gehe ich mit schwerem Gepäck Richtung „Innenstadt“. Navarrete gehört mit über 2000 Einwohnern zu den etwas größeren Dörfern. Immer wieder muss ich die Tasche absetzen und stehen bleiben, denn die Straße führt weiter steil bergauf. Meine Füße verstehen die Welt nicht mehr. Die haben immerhin fünf Kilo mehr zu tragen.

Nach ein paar hundert Metern kommt mir ein strahlender Hermann entgegen. Wie vor ein paar Tagen mitten in der Prärie, wird er auch jetzt, wo er mich entdeckt hat, immer schneller. Er fällt mir um den Hals, begrüßt Ruddi in seiner Tasche und nimmt mir unverzüglich mein gesamtes Gepäck ab. Ich will mich dagegen wehren, denn der Rucksack gehört zu mir. Aber er lässt es nicht zu. Ich muss schmunzeln, als er den für ihn viel zu klein eingestellten Rucksack auf dem Rücken hat.

Aufgeregt läuft er los. Es ist noch ziemlich weit, bis wir den Stadtkern erreichen - und ich habe ihn eben insgeheim des Trödelns bezichtigt. Wir kommen nun an den ersten Bars, Herbergen und Pensionen vorbei. Da ruft jemand meinen Namen: „Birgit, Du hier? Schön, Dich zu sehen. Wo ist Ruddi?“ Es sind Sabrina, Achim, Oliver und Edit, die mich so freudig begrüßen.

Mich hält nichts mehr auf dem Weg zur begehrten Wohnung und ich stürze zu ihnen. Die Freude über das Wiedersehen ist so wunderbar ehrlich und intensiv. Nach ein oder zwei Minuten merke ich, dass Hermann sich ausschließt. Er steht mitten auf der Straße mit meinem Hund im Gepäck und guckt böse aus seiner schwarzen Jacke, die eigentlich viel zu warm sein muss. „Kommst Du jetzt endlich? Wir müssen los, zur Wohnung! Es ist jetzt schon gleich neun. Ich habe Hunger.“ Ich bin überrascht, dass er sich uns nicht anschließt. Wie war das noch gleich mit dem „Rumalbern“? Ich würde mich jetzt gerne auf ein Bier zu meinen Freunden setzen. Aber er denkt gar nicht daran, sondern macht mir weiter Druck. Edit fragt ihn noch, wo wir denn essen gingen, sie wolle mit uns gehen. Er sagt ihr kurz und knapp, welches Restaurant er ausgesucht hat und drängelt wieder, diesmal sehr resolut. „Hat der eigentlich nen Knall?“ geht es mir durch den Kopf. Ich bin richtig sauer, enttäuscht und versuche ihn aus diesem Krampf mit ein paar Scherzen rauszuholen, aber da ist nichts zu machen. „Na, dem werde ich später die Hölle heiß machen. Was soll denn der Stress?“ geht es mir durch den Kopf. Schweren Herzens verlasse ich die lieb gewonnene Truppe. Aber Hermann ist der, der sich um eine Unterkunft gekümmert hat und mein Gepäck trägt.

Als ich mich verabschiedet habe und vom Tisch entferne, sagt noch jemand „Tschüss, Birgit“. Das ist doch Ina?! Sie sitzt ein wenig abseits. Ich habe sie gar nicht wahrgenommen. „Hast Du eine Unterkunft gefunden?“ frage ich im Weggehen. „Ja, hier nebenan in der Herberge.“ Ich wünsche ihr eine gute Nacht und sage: „Bis bald.“ Wir verabreden uns also nicht für morgen. Ich lasse den Dingen ihren Lauf. Wenn es sein soll, dass wir zusammen weiterlaufen, dann treffen wir von alleine aufeinander. Mal sehen, was passiert.

Im Laufschritt, mit Wut im Bauch und schweigend erreichen wir die Herberge, die auch einzelne Zimmer in Wohnungen vermietet. Das Haus ist wunderschön und sieht neu aus. Das Treppenhaus ist richtig feudal und blitzblank. Heute müssen wir nur auf die erste Etage. Als wir die Wohnung betreten, bleibt mir der Mund offen stehen. Mein erster Eindruck ist: Vornehm und großzügig. Wenn ich nicht wüsste, dass wir hier für 15 Euro pro Person bleiben können, hätte ich mich schwerstens verschätzt. Die Diele sieht aus, wie das Foyer eines vornehmen Hotels. Der Boden ist wunderschön und aufwendig gefliest. Es gibt eine Spiegelwand und gegenüberliegend steht ein sehr geschmackvoll dekoriertes, antikes Sideboard. In einer Ecke befindet sich eine große Vase mit Weidenzweigen.

Ich glaube, ich träume und mein Ärger von vorhin ist vergessen. Die Küche ist flammneu, sehr modern und riesengroß. Es befindet sich ein Tisch darin, der Platz für ungefähr zehn Personen bietet. Hier entdecke ich auch die Waschmaschine, die nachher noch ran muss. Das Badezimmer ist ebenfalls ein Traum. Es ist sehr geräumig, hat Einbauschränke um das Waschbecken herum. Es gibt ein Bidet, WC und eine Badewanne. Es ist sehr einladend. Die Wanne bekommt später noch Besuch von mir - wahrscheinlich während die Waschmaschine läuft. Das Schlafzimmer befindet sich am anderen Ende der Fünf-Zimmer-Wohnung. An zwei sich gegenüberliegenden Wänden stehen jeweils ein Bett und dazwischen ein Nachtschränkchen. Es gibt zwei Stühle und einen großen Kleiderschrank. Auch dieses Zimmer ist sehr geschmackvoll eingerichtet. Ich bin begeistert und kann es fast nicht glauben. Mein Wohltäter fragt mit erwartungsvollem Blick: „Na, was sagst Du? Habe ich Dir zu viel versprochen? Vor allen Dingen kannst Du Ruddi hier laufen lassen, denn wir sind alleine in dieser Wohnung. Und?“ Ich antworte knapp, aber überwältigt: „Das ist der Wahnsinn! Ich bin beeindruckt und stolz auf Dich. Danke, dass Du an uns gedacht hast.“ Ich will ihm den Stress von eben verzeihen. Wahrscheinlich wollte er mir unbedingt und schnellstens dieses Schatzkästchen zeigen und war deshalb so in Eile.

Heute war es sehr heiß. Ich habe einen Sonnenbrand auf der Schulter und im Gesicht, der sich gewaschen hat. Ich spüre das jetzt erst. Ich möchte doch gerne noch schnell duschen, bevor wir Essen gehen. Hermann hat jedoch Recht, als er sagt. „Das wird zu spät. Dann kriegen wir nichts mehr.“ Ich erwidere: „Aber ich stinke doch bestimmt. Ich bin den ganzen Tag durch die Sonne gelaufen.“ Seine Antwort: „Ja, Du stinkst. Aber wenn Du Dich umziehst und ein bisschen Deo nimmst, geht das schon.“ Ich gucke ihn entsetzt an. So was hat mir noch nie jemand gesagt: „Meinst Du das ernst oder nimmst Du mich hoch?“ Er meint es ernst, hat aber schon die Tasche mit Ruddi drin über der Schulter hängen und ich beeile und bemühe mich, einigermaßen gut duftend aus dem Haus zu gehen.

Wir treffen im Restaurant tatsächlich auf Edit und haben jede Menge Spaß miteinander. Edit ist Ungarin und kann ganz gut Englisch sprechen. Wir sind Deutsche und glauben, ganz gut Englisch zu sprechen. Dabei entstehen so viele Missverständnisse über die wir uns köstlich amüsieren. Drei Erwachsene sitzen an einem kleinen runden Tisch, trinken Bier und Rotwein und versuchen sich mit Mimik, Händen und Füßen zu unterhalten. Wenn man erst mal raus gefunden hat, was gerade das Thema sein soll, dann geht es. Herrlich! Ich habe Edit gerne um mich, es ist stets eine unbeschwerte Zeit in ihrer Gegenwart. Sie sagt, das beruhe auf Gegenseitigkeit.

Der Abend ist fortgeschritten. Keiner von uns ist mehr ganz nüchtern. Edit versucht, meine Handynummer in ihrem Telefon zu speichern. Das ist aber nicht so einfach. Immer wieder versucht sie es. Ich rufe sie an, sie will speichern, das Handy aber nicht. Wir versuchen es vier, fünf, sechs Mal - es soll nicht sein. Dann probieren wir es umgekehrt: ungarisches Handy an deutsches... kannst Du mich empfangen?... Nein! Auf einmal wird es Hermann zu viel. Er wird von jetzt auf gleich ungeduldig und will gehen. Er steht vom Tisch auf, obwohl ich noch Wein, Kaffee und Wasser vor mir stehen habe. Ganz davon abgesehen will ich noch bleiben. Das geht aber nicht, weil es nur einen Schlüssel zur Traumwohnung gibt. Wir beiden Frauen müssen notgedrungen mitgehen.

Erst als wir auf der Straße sind, merken wir, dass die Anstrengungen des Tages und der Alkohol nicht gut zusammenpassen. Um genau zu sein, schaffe ich es noch geradeaus zu gehen, aber Edit muss immer wieder von Hermann auf die Spur gebracht werden. Irgendwann wird es ihm zu bunt, und er klemmt sie sich beherzt unter den Arm, damit sie nicht vom Weg abkommt. Es ist ein herrlicher Anblick. Edit ist höchstens 1,60 und Hermann schätzungsweise 1,90 Meter groß. Sie flirtet scherzhaft mit ihm und schaut ihn von unten an, aber ihre Augen können die große Entfernung nicht mehr verkraften. Zu allem Überfluss spricht er beruhigend auf sie ein: „Wir sind ja gleich da. Bleib cool. Willst Du mit zu uns gehen?“ Edit freut sich und fragt nach, wo wir denn übernachten. Sie erhält eine Wegbeschreibung, mit der sie natürlich im Moment nichts anfangen kann. Wir schwärmen von der Wohnung. Sie missversteht das und als wir an der Ecke ankommen, an der sich unsere Wege trennen müssen, weil dort ihre Herberge ist, will sie mich verabschieden und mit Hermann in die Wohnung gehen. Ich lasse mich natürlich darauf ein. Mal sehen, wie mein Pilgerfreund aus dieser Nummer wieder rauskommt. Er wird auf einmal ganz unruhig und dreht und wendet sich. Edit braucht einen Moment, um zu verstehen, dass wir nur zwei Betten haben und sie doch in der Herberge übernachten muss. Schlussendlich lachen wir uns alle drei angesichts dieser Situation kaputt.

Kaum „zuhause“ angekommen, wartet Hermann mit einer weiteren kleinen, aber wirkungsvollen Überraschung auf: „Ich habe Dir ein Bad eingelassen. Mach es Dir gemütlich. Ich gehe jetzt schlafen.“ Wie nett von ihm. Es ist zwar keine Lebensaufgabe, für jemanden ein Schaumbad zu bereiten, aber es ist eine unheimlich nette Geste. Ich frage ihn noch, ob ich seine Wäsche mit in die Maschine stecken soll, aber er lehnt es dankend ab, weil es schon fast Mitternacht ist und seine Klamotten mit Sicherheit bis zum Morgen nicht trocknen. Er will gegen sechs Uhr losgehen.

Flugs hole ich meinen Rucksack aus dem Schlafzimmer, damit ich meinen Kumpel nicht mehr stören muss. So schnell wie Hermann im Bett ist, kann ich kaum die Tür hinter mir zu machen. Einige Minuten später, fällt mir ein, dass ich Ruddi noch frisches Wasser bereitstellen sollte und schleiche mich doch nochmal ins Zimmer. Der Raum ist dunkel. Es fällt lediglich ein Lichtstrahl aus der Diele ein. Ruddi ist nicht in seiner Tasche. Ich glaube, ich spinne! Der wird sich doch wohl nicht in mein Bett gelegt haben. Das darf er nicht, machen wir zuhause auch nicht. Ich suche mein Schlaflager murmelnd nach ihm ab, finde ihn aber nicht. Langsam werde ich unruhig. Wo ist der denn? Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, ich schau mich im Zimmer um und entdecke ihn zufrieden blinzelnd in Hermanns Armen. Männer! Ich lass ihn, wo er ist - denn das hat mein Hund mit Sicherheit nicht alleine entschieden. Soll er es doch genießen, im Bett zu schlafen.

Nachdem ich die Waschmaschine auf Trab gebracht habe, begebe ich mich ins Badezimmer. Als ich in die Wanne steige wird mir klar, wie sehr ich mich heute in der Sonne verbrannt habe. Ich muss das liebevoll eingelassene heiße Badewasser, das meine Muskeln entspannen soll, auf ungefähr 32 Grad abkühlen, damit ich es ohne Schmerzen genießen kann. Ich lasse mir mindestens eine Stunde Zeit, mache mich ganz in Ruhe fertig. Niemand stört mich. Es ist wundervoll.

Nach dem erholsamen Bad könnte ich einfach nur noch ins Bett fallen. Ich beneide die beiden „Jungs“, die schon lange selig schlummern. Aber die Waschmaschine wäscht, wie auch in Lorca, sehr gründlich und findet kein Ende. Ich versuche, das Waschprogramm umzustellen. Das geht aber nicht. Mir bleibt nichts anderes übrig, als geduldig abzuwarten, bis dieses Ding beschließt, meine Wäsche freizugeben. Ich versuche die Ruhe zu bewahren, die ich mir in der Wanne beigebracht habe und massiere ausgiebig meine Füße. Als die genug davon haben, nehme ich meinen Wanderführer und lese und lese und lese... Gott sei Dank habe ich vor dem Baden mein ganzes Hab und Gut aus dem Schlafzimmer geholt, sonst säße ich ohne Ablenkung in dieser großen, in der Nacht sehr kalten Küche. Es ist fast zwei Uhr, als die Trommel endlich stillsteht. Ich packe meine Sachen wieder ein und hänge die Wäsche auf - nicht ohne die Fürbitte, sie möge morgenfrüh trocken sein.

Ich schleppe mich mehr schlafend als wach ins kuschelige, warme Bett. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen gilt Edit, der ich von Herzen in dieser Wohnung eine Nacht gegönnt hätte - wenn es drei Betten gäbe. Fast wäre sie hier gelandet. Mit einem Schmunzeln schlafe ich ein.

5 1/2 Wochen
titlepage.xhtml
5_1_2_Wochen_split_000.html
5_1_2_Wochen_split_001.html
5_1_2_Wochen_split_002.html
5_1_2_Wochen_split_003.html
5_1_2_Wochen_split_004.html
5_1_2_Wochen_split_005.html
5_1_2_Wochen_split_006.html
5_1_2_Wochen_split_007.html
5_1_2_Wochen_split_008.html
5_1_2_Wochen_split_009.html
5_1_2_Wochen_split_010.html
5_1_2_Wochen_split_011.html
5_1_2_Wochen_split_012.html
5_1_2_Wochen_split_013.html
5_1_2_Wochen_split_014.html
5_1_2_Wochen_split_015.html
5_1_2_Wochen_split_016.html
5_1_2_Wochen_split_017.html
5_1_2_Wochen_split_018.html
5_1_2_Wochen_split_019.html
5_1_2_Wochen_split_020.html
5_1_2_Wochen_split_021.html
5_1_2_Wochen_split_022.html
5_1_2_Wochen_split_023.html
5_1_2_Wochen_split_024.html
5_1_2_Wochen_split_025.html
5_1_2_Wochen_split_026.html
5_1_2_Wochen_split_027.html
5_1_2_Wochen_split_028.html
5_1_2_Wochen_split_029.html
5_1_2_Wochen_split_030.html
5_1_2_Wochen_split_031.html
5_1_2_Wochen_split_032.html
5_1_2_Wochen_split_033.html
5_1_2_Wochen_split_034.html
5_1_2_Wochen_split_035.html
5_1_2_Wochen_split_036.html
5_1_2_Wochen_split_037.html
5_1_2_Wochen_split_038.html
5_1_2_Wochen_split_039.html
5_1_2_Wochen_split_040.html
5_1_2_Wochen_split_041.html
5_1_2_Wochen_split_042.html
5_1_2_Wochen_split_043.html
5_1_2_Wochen_split_044.html
5_1_2_Wochen_split_045.html
5_1_2_Wochen_split_046.html
5_1_2_Wochen_split_047.html
5_1_2_Wochen_split_048.html
5_1_2_Wochen_split_049.html
5_1_2_Wochen_split_050.html
5_1_2_Wochen_split_051.html
5_1_2_Wochen_split_052.html
5_1_2_Wochen_split_053.html
5_1_2_Wochen_split_054.html
5_1_2_Wochen_split_055.html
5_1_2_Wochen_split_056.html
5_1_2_Wochen_split_057.html
5_1_2_Wochen_split_058.html
5_1_2_Wochen_split_059.html
5_1_2_Wochen_split_060.html
5_1_2_Wochen_split_061.html
5_1_2_Wochen_split_062.html
5_1_2_Wochen_split_063.html
5_1_2_Wochen_split_064.html
5_1_2_Wochen_split_065.html
5_1_2_Wochen_split_066.html
5_1_2_Wochen_split_067.html
5_1_2_Wochen_split_068.html
5_1_2_Wochen_split_069.html
5_1_2_Wochen_split_070.html
5_1_2_Wochen_split_071.html
5_1_2_Wochen_split_072.html
5_1_2_Wochen_split_073.html
5_1_2_Wochen_split_074.html
5_1_2_Wochen_split_075.html
5_1_2_Wochen_split_076.html
5_1_2_Wochen_split_077.html
5_1_2_Wochen_split_078.html
5_1_2_Wochen_split_079.html
5_1_2_Wochen_split_080.html
5_1_2_Wochen_split_081.html
5_1_2_Wochen_split_082.html
5_1_2_Wochen_split_083.html
5_1_2_Wochen_split_084.html