Dienstag, 22. April 2008

Villamayor de Monjardín (132 Einwohner), 645 m üdM, Navarra

8. Etappe bis Viana 31,4 km

Heute Morgen ist früh aufstehen angesagt. Es ist so gegen sechs, als sich die ersten Pilger auf den Weg machen wollen. Alle, die die Herberge verlassen möchten, kommen durch „mein Zimmer“, schon allein deshalb, weil sie ihre Wanderschuhe aus dem Regal holen müssen und sich diese, wie selbstverständlich, vor meiner Nase anziehen. Zu allem Überfluss schimpfen sie noch aufgeregt darüber, dass die dicke Holztür zur Freiheit verschlossen ist. Niemand kann sie öffnen. Entweder sind die blind und sehen mich nicht auf meiner Matratze liegen oder die sind der Meinung, dass ich den Schlüssel unter meinem Kopfkissen habe. „Merkt Ihr nicht, dass es eindeutig zu früh ist? Selbst die Herbergsleute sind noch nicht betriebsbereit!“ geht es mir durch den Kopf. Aber ich versuche so zu tun als ob ich schlafe - brumme ein bisschen rum. Die, die schon da sind versuchen daraufhin zwar zu flüstern, aber es kommen ständig neue nach, die meinen Erfolg wieder zunichte machen. Ungefähr nach einer halben Stunde gebe ich mich geschlagen. Die Tür ist immer noch verschlossen und die Aufregung groß. Ich pelle mich aus meinem Schlafsack und begebe mich erst mal ins „Badezimmer“. Ruddi tut weiterhin so als ob er schläft. Das Waschbecken ist frei. Kein Wunder, die sind ja alle bei mir unten und kratzen an der Tür.

Hier oben treffe ich Ina. Sie fragt ob wir gleich losgehen können. Ich stimme zu - bin froh wenn ich hier weg bin. Nach zehn Minuten drängele ich mich wieder durch die Meute zu meinem Nachtlager, räume meine Sachen zusammen und kann es dann allerdings auch nicht mehr erwarten, bis uns jemand hier raus lässt. Kurz vor sieben ist es dann soweit. Ina, Ruddi und ich gehen zum Frühstück, das im selben Raum serviert wird, wie das Abendessen. Selbstverständlich ist mein Hund „undercover“ dabei. Trotz aller Widrigkeiten gebe ich gerne zu, dass die christlichen Herbergseltern ihre Schäfchen sehr gut versorgen. Und ich möchte zum Abschluss noch anmerken, dass ich die Schlafräume nicht beurteilen kann. Die anderen Pilger sehen jedenfalls zufrieden aus. Meine Schwierigkeiten in dieser Herberge basieren auf der Tatsache, dass ich mit einem Vierbeiner unterwegs bin.

Dann machen wir uns zusammen auf den fast 13 Kilometer langen Weg nach Los Arcos. Bis dahin gibt es keine Versorgungsmöglichkeit. Ich kaufe mir also noch ein Croissant und eine Flasche Wasser für unterwegs, damit ich das auch überlebe. Ina, Ruddi und ich stiefeln kurz vor acht los. Meine Begleiterin hat Blasen an den Füßen, die sich zum Teil bereits entzündet haben. Sie war schon mehrmals in der Apotheke und hat sich verarzten lassen. Hoffentlich werden ihre Beschwerden nicht größer.

Der Wettergott hat uns lieb und lässt die Sonne scheinen. Die Temperaturen sind sehr angenehm. Wir gehen viele Kilometer auf guten landwirtschaftlichen Wegen. Momentan haben wir das gleiche Tempo. Wir unterhalten uns ab und zu ein bisschen, aber nicht die ganze Zeit. Jeder kann seinen Gedanken nachhängen. Ich bin sehr gespannt, wo wir heute Abend landen. Wir wollen uns zusammen in Viana ein Hotel- oder Pensionszimmer mieten. Wenn alles gut geht, laufen wir heute 31,4 Kilometer. Danach weiß ich dann auch, wie Hermann sich gestern nach seiner langen Etappe gefühlt hat. Die Landschaft ist jetzt nur noch leicht hügelig. Der Blick kann in die Feme schweifen. Ich genieße es sehr, soweit gucken zu können. Ich sehe nichts als Felder und Wiesen durch die sich der Camino schlängelt.

Plötzlich und unerwartet - nach ungefähr drei Stunden Wanderung . erkennen wir in der Ferne ein Wohnmobil. Ist das eine Fata Morgana? Die Spannung steigt, als wir immer näher kommen. Das Staunen ist groß, als wir freudig empfangen werden: „Hola! Cómo están (wie geht es Euch)? Sind Eure Füße in Ordnung? Kann ich irgendetwas für Euch tun? Ich habe Pflaster, Salben und Verbände. Wollt Ihr einen Kaffee, Tee oder Wasser? Wollt Ihr Euch ein bisschen hinsetzen?“ Es ist ein temperamentvoller, sehr gut gelaunter Señor, der uns mitten in der Wildnis so gastfreundlich auf Spanisch, gemischt mit ein bisschen Englisch, empfängt, nachdem er gerade ein paar Pilger verabschiedet hat. Vor seinem Wohnwagen stehen einige Klapphocker, die wir sehr gerne in Anspruch nehmen. Auf dem kleinen wackeligen Campingtisch serviert er uns Kaffee. Wir fühlen uns wie im Schlaraffenland, haben den Eindruck, dass wir träumen. Nach kurzer Zeit sind wir wieder gefasst und in der Lage nachzufragen, was wir gerade erleben dürfen. Der Mann erzählt uns, dass er weiß, wie lang 13 Kilometer ohne Aussicht auf Versorgung werden können und hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, den Pilgern bei Bedarf zu helfen oder sie einfach nur aufzuheitern. Er steht meistens an dieser Stelle - manchmal aber auch in den Pyrenäen. Mir stellt sich die Frage, ob er es wohl war, der mir vor ein paar Tagen in der Nähe des „Adler-Landeplatzes“ mit der „Pilger-Toilette“ vor der Nase weggefahren ist. Wie dem auch sei, ich fühle mich gerade wie eine Königin, die ja wohl auch in der Einsamkeit immer gut versorgt wird.

Er fragt noch einmal nach dem Befinden unserer Füße. Ina hat wohl ihre Blasen vergessen, denn sie sagt, es sei alles in Ordnung. Ich erinnere sie daran, dass sie einen dicken Verband um ihre Fessel trägt und so manches Pflaster auf ihren Füßen klebt. Sie wehrt sich. Ich habe keine Ahnung warum und lasse nicht locker, bis sie aufgibt und ihre Schuhe auszieht. Als ich sehe womit sie sich seit Tagen rumquält, bleibt mir die Luft weg. Die Blasen sind offen und eitern teilweise. Ich frage mich, wie viel Schmerz sie wohl aushält und vor allen Dingen, warum sie sich zunächst nicht helfen lassen wollte. Der Mann nimmt sich liebevoll und fürsorglich ihrer Füße an und erneuert die Wundauflagen.

Ich trinke genussvoll meinen Kaffee, schaue mich um und genieße es, in dieser eindrucksvollen Landschaft sitzen zu dürfen. Ich entdecke Sabrina, Oliver und Achim, die auf uns zu kommen und genauso dumm aus der Wäsche gucken, wie wir es wohl eben gemacht haben. „Na, Euch geht es ja besonders gut! Was ist denn hier los?“ fragen sie lachend. Die Begrüßung fällt so aus, als ob wir uns an dieser Stelle zu einer Party treffen wollten. Wenn ich mir die Gäste so ansehe, ist das allerdings eine Kostümparty unter dem Motto „Landstreicher“, zu der jeder was mitbringen muss. Oder was hat es mit den Rucksäcken auf sich? Zu allen Schandtaten bereit, setzen sie sich zu uns. In diesem Moment erreicht auch Edit freudestrahlend diesen Platz. Es ist eine Wiedersehensfeier alter Freunde. Wir fallen uns in die Arme, als hätten wir uns jahrelang nicht gesehen. Ich staune immer wieder darüber, wie nah beieinander man auf diesem Weg läuft, ohne es zu merken. Plötzlich findet man sich - ohne Verabredung und ohne den anderen gesucht zu haben.

Inas Wunden sind frisch versorgt, der Kaffee ist getrunken und jetzt ist es an der Zeit, weiterzugehen. Die heutige Etappe hat ja gerade erst angefangen. Von insgesamt 31,4 Kilometern liegen noch schätzungsweise 22 vor uns. Ruddi hat die Pause übrigens auch genutzt. Er hat sich auf der Wiese gesonnt und ein bisschen geschlafen. Ich frage den Señor, wie viel Geld ich ihm schuldig bin. “Was du geben willst. Ich mache das gegen eine Spende.“ Dieses Erlebnis und der leckere Kaffee sind mir locker fünf Euro wert und ich hoffe, dass er diese „Geschäftsidee“ fleißig fortsetzt und wir ihn auf dem Camino noch öfter antreffen werden. Ich frage mich, ob Hermann sich gestern auch hier ausgeruht hat? Ich habe ein weiteres Geschenk am Wegesrand pflücken dürfen, das ich verpasst hätte, wenn ich Villamayor de Monjardín gestern fluchtartig verlassen hätte.

Beschwingt setzen wir unseren Weg fort. Ich bin sehr überrascht, wie viele Pilger auf den paar Kilometern bis nach Los Arcos mit uns unterwegs sind. Drei oder vier Mal werden wir überholt. Es bleibt ein Phänomen - sie tauchen immer aus dem Nichts auf. In Los Arcos genehmigen wir uns einen Café con leche in einer Bar. Hier bleiben wir aber nicht allzu lange, denn Viana kommt ja nicht zu uns, sondern wir müssen dahin.

Der Weg und das Wetter bleiben gnädig und so kommen wir sehr gut voran. Der Ausblick erinnert mich an eine Mondlandschaft. Die zahlreichen Hügel wirken durch ihr Grau ein bisschen kühl. In der Ferne können wir schon sehr lange den kleinen Ort Sansol ausmachen, aber wir haben den Eindruck, als liefe er vor uns weg - kommen ihm augenscheinlich nicht näher. Das macht mürbe und wir legen eine Rast am Wegesrand ein. Mein Hund ist heute wieder fit wie ein Turnschuh und aus seiner Sicht könnten wir auch einfach weiterlaufen. Diesmal sitze ich alleine auf seiner blauen Decke. Ich bewundere diesen kleinen Vierbeiner und beobachte ihn ein bisschen. Er schnüffelt ganz aufgeregt, läuft ein Stückchen weiter vor, bleibt stehen und hält dann seine Nase Richtung Himmel. Unglaublich wie beweglich diese Nase ist! Die Ohren sind gespitzt und er legt gespannt den Kopf von der einen auf die andere Seite, so als hörte er etwas. Er hat eine Fährte aufgenommen. Vielleicht ist es die von Hermann, der ja mit Sicherheit gestern auch hier gewesen ist. Dann kommt er zu mir, setzt sich vor mich und erzählt mir mit seinen Augen, was er eben erfahren hat. Aber das bleibt unser Geheimnis! Mir fällt auf, dass Ina die ganze Zeit ihre Jacke in der Hand hält. Sie ist eine der wenigen, die ohne Pilgerstab oder „Gehhilfen“ unterwegs ist. Mich würde es wahnsinnig machen, wenn ich ständig etwas in der Hand halten müsste, das genauso gut im Rucksack liegen könnte. Meine Hände sind mit den Trekkingstöcken beschäftigt. Die unterstützen mich tatkräftig. Sie sorgen dafür, dass die Finger nicht anschwellen und durch die geöffnete Armhaltung das Atmen leichter ist. Wenn ich zuhause spazieren gehe, empfinde ich es als sehr angenehm, wenn die Hände frei im Rhythmus mitschwingen können. Ina sagt, es mache ihr nichts aus, sie trüge immer irgendetwas in der Hand. Sie kann sich nicht vorstellen, mit Stöcken zu wandern. So ist halt jeder Jeck anders und ich versuche, mir keine Gedanken mehr über ihre Gewohnheiten zu machen. Hauptsache sie fühlt sich wohl.

Nachdem wir tatsächlich Sansol doch noch einholen konnten, erreichen wir kurz darauf, so gegen 13 Uhr Torres del Rio. Wir wünschen uns nichts sehnlicher, als irgendwo gemütlich zu sitzen und einen oder zwei, wenn nicht drei Café con leche genießen zu dürfen. Wir sind immerhin schon über 20 Kilometer gelaufen. Das heißt, dass wir unglaublich schnell unterwegs waren. Heute ist der Camino aber auch wirklich erstaunlich leicht zu gehen. Er ist breit und flach. Bis auf ganz kurze Abschnitte vollkommen ohne Verkehr und zudem ist das Wetter optimal.

Auf der Hauptgasse finden wir einen Hinweis auf eine österreichische Herberge. Ina ist ganz begeistert: „Da müssen wir hin, ich habe von diesem Haus schon viel gehört. Ich will mir das unbedingt mal ansehen. Die sollen besonders nett und sauber sein. Wollen wir da unsere Pause machen?“

Gesagt, getan. Durch ein Törchen kommen wir auf das Grundstück. Es ist wie in einem Märchen. Wir betreten einen kleinen Hof, der liebevoll mit bunten Blumen dekoriert ist. Über dem Gartentisch und den Stühlen ranken an einem Gitter grüne Pflanzen, die Schatten spenden. Auf dem Tisch stehen Kerzen, Kekse und Kaffeekannen auf einer sommerlichen Decke. An der Hauswand befindet sich ein kleiner, alter Brunnen und daneben einige schnuckelige Gartenzwerge, die damit beschäftigt sind, die winzigen Beete rechts und links in Ordnung zu halten. Neben der Eingangstür steht ein Kühlschrank mit einer Glastür, durch die man die kalten Getränke sehen kann. Sofort bekommt man Lust auf eine dieser Erfrischungen. Mein Gesamteindruck dieses Hofes ist mehr als einladend, ich fühle mich sofort irgendwie „gut aufgehoben“. Durch zwei große Fenster blicken wir in einen hellen und sauberen Schlafraum. Die Betten sind mit frischen, weißen Laken bezogen und am Fußende liegen Wolldecken.

Nach ungefähr einer Minute erscheint die Herbergsmutter, die diese Idylle abrundet. Sie strahlt Freude, Ruhe und Gelassenheit aus und heißt uns - inklusive Ruddi - herzlich willkommen: „Schön, dass Ihr hier seid. Läuft der Kleine auch den ganzen Weg? Bist Du süß! Wie heißt Du denn? Du bist bestimmt müde und hast Durst!“ Sie preist uns den Brunnen an, um frisches Wasser für meinen Hund zu zapfen und erkundigt sich nach unserem Befinden. Der Empfang könnte nicht liebevoller sein. Sie fragt uns, ob wir übernachten wollen. „Nein, aber wir möchten bei Dir eine Pause machen und Kaffee trinken. Geht das?“ Sofort holt sie zwei Tassen und frische Kekse raus. Sie entschuldigt sich: „Bedient Euch. Ich komme gleich wieder zu Euch, aber vorher muss ich noch schnell eine Pilgerin, die vor ein paar Minuten angekommen ist, einschreiben und ihr ein Bett zuweisen.“

In der Kaffeekanne auf dem Tisch befindet sich nur noch ein Rest, so gerade eine Tasse. Ina überlässt ihn mir mit den Worten: „Ich trinke jetzt sowieso lieber was Kaltes. Ich gehe mal eben zur Toilette und bringe mir dann was mit. Bin gleich wieder da.“ Kaum ist sie im Haus verschwunden, bekomme ich ganz schwach mit, dass sie mit jemandem spricht, den sie anscheinend kennt: „Hallo, wie kommst Du denn hierhin...?“ Mehr kann ich nicht verstehen, aber ich werde wohl gleich Bericht erstattet bekommen.

Zufrieden lasse ich mich auf einem der Stühle nieder und könnte mir durchaus vorstellen, hier zu übernachten. Aber es ist erst Mittag und ich will meinen Tages-Kilometer-Durchschnitt ein wenig anheben. Nach einigen Minuten kommt Ina mit einem Getränk in der Hand wieder raus und verzieht das Gesicht: „Du kommst nie drauf, wer drinnen sitzt!“ Kurze Pause. „Gudrun ist hier und bleibt auch. Die kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Die nervt mich. Momentan kann ich die Jammerei nicht ertragen. Es geht immer nur um ihre Krankheiten. Gut, dass wir nach der Pause weitergehen.“ Ich antworte: „Bleib ruhig. Das wird schon nicht so schlimm sein. Ich glaube nicht, dass sie raus kommt. Also genieße die Pause und denk einfach nicht dran. Komm setz Dich neben mich.“

Sie ist sehr schnell wieder friedlich. In diesem Moment öffnet sich das Tor und eine sehr große Frau mit einem Riesen-Rucksack betritt stürmisch den Hof. Sofort fängt sie aufgeregt an zu blubbern. Mann, ist die temperamentvoll - das passt gar nicht ins Bild. Sie kann nicht stillstehen, dreht und wendet sich und zack... lässt sie sich, mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken, neben mir in den Stuhl plumpsen. Ina guckt mich genervt an und gerade als sie was sagen will, steht die wild gewordene Pilgerin wieder auf, um ihr Gepäck abzulegen. Blitzschnell sitzt Ina mit einem bösen Blick auf dem soeben frei gewordenen Stuhl. Es ist eine Reise nach Jerusalem - ach, nicht nach Santiago? Aber Spaß beiseite, ich hätte es an ihrer Stelle genauso gemacht. Hat denn die „Neue“ überhaupt kein Benehmen? In der nächsten Sekunde höre ich es scheppern und platschen. Die hat doch tatsächlich durch ihre Unachtsamkeit mit ihrem Hintern meinen Kaffee vom Tisch geschossen. Der verteilt sich jetzt langsam ab sicher auf dem Boden. Die Kekse machen ihren Freischwimmer und ich bin entsetzt. Wie kann sie es wagen?! Alles was ihr dazu einfällt ist ein gut gelauntes „Ups!“. Ich jammere sie an: „Das war der letzte Kaffee. Den wollte ich eigentlich trinken.“ Sie kümmert sich nicht weiter darum und geht hinein, um sich anzumelden. Ina und ich gucken uns sprachlos an und dann können wir uns nicht mehr halten vor Lachen. „Was war das denn für eine?!“

Ich begebe mich nun auch mal in das Haus und auf die Suche nach der Toilette. Auf meinem Weg dorthin, verstärkt sich mein positiver Eindruck noch. Alles ist blitzblank und unheimlich gemütlich, passend zum Eingangsbereich - außen hui, innen auch. Als ich das Bad betrete, ist meine Begeisterung auf dem Höhepunkt. Obwohl es sich um eine kleine Herberge handelt, gibt es hier drei oder vier Duschkabinen und ebenso viele WCs. Die Wände und der Boden sind weiß gefliest. Das Porzellan hat die gleiche Farbe. Große Spiegel hängen über den Waschbecken. Die Luft ist sehr gut, der Raum hell und blitzblank. Die Toiletten sind jeweils mit einem Bewegungsmelder ausgestattet, so dass die Lampe von alleine an- und ausgeht. Was für ein Luxus! Das hatte ich noch nicht mal im teuren Hotel in Roncesvalles. Ein kleiner, aber lustiger Nachteil ist, dass sich etwas bewegen muss, wenn es auf dem Klo dunkel wird, damit die Technik einem ein Licht aufgehen lässt. So sitzt man also winkend auf dem Pott. Wie gut, dass hier kein Spiegel hängt, sonst käme ich schon vor Lachen nicht mehr hoch. Mein Körper spielt sowieso noch immer nicht so geschmeidige Bewegungen ab, wie ich es von ihm gewohnt bin. Grinsend verlasse ich das stille Örtchen und im selben Moment öffnet sich gegenüber die Duschkabine. Die tropfende Gudrun steht mit - vom heißen Duschen - knallrotem Kopf und Dekolletee vor mir. Wir grüßen uns knapp und ich mach mich schleunigst vom Acker.

Einige Minuten später kommt Margret, die Herbergsmutter zu uns raus und sieht die Kaffeepfütze auf ihrem Hof. Sie macht nicht viel Aufhebens davon, spritzt schnell mit einem Schlauch die braune Brühe weg. Ruddi gerät kurz in Panik und läuft planlos von einer Ecke zur anderen. Sie muss schmunzeln, beruhigt ihn aber auch und drosselt die Wasserzufuhr.

Jetzt hat sie ein bisschen Zeit, sich mit uns zu unterhalten. Sie kommt aus Österreich und hat heute ihren letzten Arbeitstag hier in Torres del Rio. Sie war - wie jedes Jahr - drei Monate ehrenamtlich in dieser Herberge tätig. Morgenfrüh kommt ihre Nachfolgerin. Sie ist eine Frau, die rundherum zufrieden ist, nichts zu meckern hat. Sie strahlt von innen - wie ihre Herberge. Ich bewundere ihre Halskette. Der Anhänger ist eine kleine silberne Jakobsmuschel. Ich frage nach, wo man so eine Kette kaufen kann, die muss ich auch haben. Sie würde mich immer an den Jakobsweg, Margret und diese erholsame Pause in „ihrer österreichischen“ Herberge erinnern. Zu meiner Überraschung verkauft sie diese Ketten. Das hatte sie fast vergessen - überlegt, wo sie die hingelegt hat. Sie geht ins Haus, um nachzuschauen.

Ich erzähle Ina, dass ich auch auf Gudrun getroffen bin und frage, was genau sie an ihr auszusetzen hat. „Sie ist undankbar. Wenn Du ihr den kleinen Finger reichst, nimmt sie die ganze Hand. Ich habe tage- und nächtelang sehr viel Rücksicht auf sie genommen, bin mit ihr zusammen ein paar Tage im Schneckentempo den Camino entlang gekrochen und als es mir mal nicht so gut ging und eine Pause machen wollte, sagte sie mir, ich würde sie aufhalten. Es war ihr egal, was mit mir los war. Sie hatte überhaupt kein Verständnis für mich. Und außerdem ist es sehr anstrengend, wenn jemand immer nur von seinen Krankheiten erzählt. Ausschlaggebend für den Streit war, dass sie mich um vier in der Früh zum wiederholten Mal geweckt hat, weil sie mal wieder ihre Beine wickeln musste. Ich verstehe nicht, warum das mitten in der Nacht passieren muss. Sie stört dadurch ja schließlich auch die anderen, die mit uns in einem Raum schlafen. Das wurde mir einfach zu viel.“ „Umgib Dich auf „Deinem Weg“ ausschließlich mit Leuten, die Dir gut tun, sonst tut Dir der Weg nicht gut. Überlege aber trotzdem in einer ruhigen Stunde, warum Du dieser Frau begegnet bist. Du triffst keinen Menschen ohne Grund. Jeder, dem Du begegnest hat Dir irgendetwas mitzuteilen, ist Dein Spiegel.“ Das ist alles was ich dazu sage.

Margret kommt tatsächlich mit zwei Jakobsmuschel-Ketten zurück. Es ist mir wurscht, was dieses Schmuckstück kostet, mache zwei Laufknoten in das schwarze Baumwollband und hänge sie mir um den Hals. Dann stelle ich die Länge ein und bemerke erst jetzt, dass die beiden Mädels mir mit offenem Mund dabei zuschauen. Ich frage, was los ist. „Es die Technik, wie Du das Band geknotet hast. Das ist ja praktisch! Wie geht das?“ fragt Ina, die sich ebenfalls diese Kette kauft. Margret nickt zustimmend. Ich zeige es den beiden an ihren Ketten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich damit jemanden beeindrucken kann. Nun sind es gleich zwei Frauen, die das so toll finden, dass sie mir vor Dankbarkeit um den Hals fallen. Als wir bezahlen wollen, fragt die Österreicherin uns, was uns die Kette wert sei, sie hätte keinen Preis im Kopf. Das ist schwierig, ich kenne mich mit den Materialien von Schmuckstücken nicht aus und frage sie nach einer Preisspanne. Sie antwortet: „Zwei, drei oder fünf Euro vielleicht?“ Wir geben ihr jeder fünf Euro. Sie freut sich nochmal und dann verabschieden wir uns - nicht ohne ihr zu sagen, wie schön es hier ist. Es ist so, als wären wir alte Bekannte. Dieser Abstecher hat richtig gut getan. Unbemerkt sind fast eineinhalb Stunden vergangen. Nun wird es höchste Zeit. Es ist 14 Uhr und wir haben noch elf Kilometer vor uns.

Zunächst ist der Camino noch gnädig und wir kommen ganz gut voran. Aber nach zwei, drei Kilometern ist Schluss mit Lustig. Es ist ein ständiges unglaubliches Auf und Ab. Es sind wieder alle Stolperfallen dabei, die so ein Weg hergeben kann. Volle Konzentration ist angesagt. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass wir schon so weit gelaufen sind, aber es ist außergewöhnlich anstrengend. Und ich dachte, die Pyrenäen wären am steilsten. Ich werde deutlich eines Besseren belehrt. Ina läuft trotz ihrer Blasen wie eine Gazelle die Hügel rauf und runter. „Hut ab!“

Nach fast zwei Stunden, muss ich mich wieder ausruhen. Ich nutze die Gelegenheit, als meine Begleiterin ein paar Fotos machen möchte. Ich schwenke nicht die weiße Fahne, aber Ruddi’s Kuscheldecke und setze mich demonstrativ an den Wegesrand. Ina macht es mir ohne zu meckern nach. Mein Hund freut sich über meine Entscheidung und lässt sich dankbar nieder. Er lädt mich großzügig auf sein weiches Lager ein. Diese Pause dehnen wir natürlich nicht zu sehr aus. Nach etwa 15 Minuten gehen wir weiter.

Mein Körper schimpft was das Zeug hält, er erklärt mich für komplett verrückt. Ich habe keine Ahnung, wie ich es bis zum Etappenziel schaffen soll. Auf diesem Wegabschnitt von elf Kilometern zwischen Torres del Rio und Viana gibt es wieder keine Versorgungsmöglichkeit. Das bedeutet, dass wir weiter müssen. Es sei denn, wir bauen uns für die Nacht ein eigenes Häuschen aus dem Lehm und den Steinen, die wir auf dem Weg finden. Aber das ist noch anstrengender, oder? Ich glaub, ich spinn - das ist die pure Verzweiflung. Ich bin sehr gespannt, wann wir unser Ziel erreichen. Hoffentlich nicht zu spät, um ein Zimmer zu bekommen. Ina ist immer noch fit wie ein Turnschuh.

Sie lenkt mich ab und erzählt ein bisschen von sich. Ich erfahre, dass sie zuhause den puren Luxus leben könnte. Ihr Mann verdient gutes Geld, aber sie will unbedingt mit ganz wenig auskommen. Sie hat ihr eigenes Konto, auf das regelmäßig ein bisschen Geld fließt und wenn das erschöpft ist, dann quält sie sich durch das Monatsende. Ihr Mann und ihre Kinder können das nicht verstehen, aber sie lässt sich nicht davon abhalten. Aus diesem Grund schläft sie auch in den Herbergen. Sie nennt mir eine Summe, die sie bis Ende April übrig hat, und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie sie damit durchkommen will. Es bleibt kaum was für das Essen übrig. Zumal sie ja heute mit mir ein Pensionszimmer teilen will.

Ich schleppe mich wirklich mit allerletzter Kraft weiter Richtung Viana. Immer wieder muss ich mich selbst anfeuern. Ich komme nur noch sehr langsam voran und der Camino kennt kein Erbarmen - er holt heute Abend wirklich das Letzte aus mir raus. Aber es gibt kein Zurück oder Aufgeben. Bus oder Taxi kämen für mich auch heute nicht in Frage - selbst wenn eine gute Fee ein Gefährt herzauberte.

Wo und wann ist mein positives Denken verloren gegangen? Ich höre mich über den Wanderführer meckern: „Das muss doch erwähnt werden, wenn der Weg so anstrengend ist. Dann plane ich doch keine 31,4 Kilometer für eine Etappe. Alles Mögliche steht in diesem blöden Buch, nur nicht das Wesentliche. Ina, sag doch auch mal was dazu!“ Die läuft weiterhin wie ein junges Reh vor oder hinter mir her und sagt: „Komm schon, wir schaffen das. Wir sind bestimmt gleich da. Guck mal, da vorne ist doch Viana schon zu erkennen.“ Das stellt sich allerdings als Irrtum raus. Dieses Lichtermeer, das gerade unser Etappenziel vortäuscht, lassen wir links liegen.

Meine kompletten Beine gehören mir nicht mehr. Die Knie sind leicht gebeugt, die Füße platschen wie in den ersten Tagen, einfach nur noch auf den Boden und mein Oberkörper kommt diesem auch immer näher. Ich habe das Gefühl, gleich zusammenzubrechen. Der Drang zu weinen, mich einfach an den Wegesrand zu legen und einzuschlafen ist riesengroß. Gott sei Dank bin ich in diesem Moment nicht alleine. So schaffe ich es, mich zusammen zu reißen. Das will ich Ina nicht antun.

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