gleicher Tag (insgesamt 715,0 km gelaufen)
Palas de Rei (4812 Einwohner), 570 m üdM, Provinz Lugo
Hostal, Doppelzimmer, 24 € ohne Frühstück
Nach fast achtundzwanzig Kilometern komme ich ziemlich geschafft in Palas de Rei an. Der Jakobsweg führt durch eine großzügige Parkanlage in der eine Herberge ansässig ist. Sie vermieten zu meiner Freude auch Hotelzimmer. Wie so oft am Ende des Tages, klettere ich mit meinen letzten körperlichen Reserven die vielen Stufen zum Hoteleingang empor. Leider ist aber kein einziges Bett mehr frei. Schade! Nicht nur, dass ich am Ende bin, es gefällt mir einfach sehr gut hier. Trotz des Hochbetriebs herrscht eine überaus positive Stimmung.
Der schicke, große Gastraum, in dem ich mich niedergelassen habe, befindet sich im Hotelbereich. Der freundliche Señor, der alle Hände voll zu tun hat, verspricht mir, sobald er eine freie Minute findet, telefonisch für mich bei einem befreundeten Hotelier nachzufragen und zu reservieren. Da ich mir keinen unnötigen Kilometer zusätzlich zumuten will, bitte ich ihn, prophylaktisch auf meinen Hund hinzuweisen. Er gibt mir zu verstehen, dass er das tun wird, im Grunde aber deswegen keine Probleme erwartet. Ich muss fast eine Stunde warten, bis der hilfsbereite Mann Zeit findet, zu telefonieren und mit guten Nachrichten aufwarten kann.
Es ist ein kleines Hotel direkt an der Hauptverkehrsstraße gelegen. Das gepflegte, alte Haus ist sehr schmal, dafür aber umso höher. Ich lege den Kopf in den Nacken und lasse ehrfürchtig meinen Blick die Fassade herauf schweifen. Mir schwant Böses. Wenn mein Zimmer höher als im ersten Stock liegt müssen sie mich hochtragen. Das schaffe ich nicht mehr! „Liebes Universum, lass sofort ein Wunder geschehen, pronto!“
Der Eingang sieht vielversprechend aus. Die Inneneinrichtung hält was er verspricht. Ich betrete eine hochmoderne Bar mit einem ganz besonderen Ambiente. Einige junge Leute tummeln sich an der schwarzen, langen Theke und genießen lachend ihr Wochenende. Wo ist denn die Rezeption? Mir bleiben nur ein paar Sekunden der Ratlosigkeit, bevor ich darüber staunen darf, dass ich bereits sehnsüchtig erwartet und so herzlich wie ein alter Stammgast empfangen werde. Aha, die Bar ist also gleichzeitig auch der Empfangsbereich für Hotelgäste. Eine der beiden jungen und bemerkenswert hübschen Spanierinnen redet temperamentvoll auf mich ein. Ich kann nur ein paar Brocken aufschnappen, die darauf hinweisen, dass für mich müden Pilger telefonisch ein Zimmer bestellt wurde und alles hergerichtet ist. Wie selbstverständlich stellt ihre Kollegin inzwischen für Ruddi ein Schälchen mit frischem Wasser hin.
Aber woher wissen die Mädels denn, dass ich es bin, die über Nacht bleiben will? Ja klar: Mein Erkennungszeichen ist der „perrito negro (kleiner schwarzer Hund)“. Wir beide sind wohl tatsächlich einzigartig auf dem Jakobsweg - jedenfalls in den letzten Wochen. Meine erste Amtshandlung ist ein Café con leche. Ich bin noch nicht bereit auch nur drei Stufen hinaufzuklettern. Nachdem ich mich ein Viertelstündchen erholt habe, bitte ich um den Zimmerschlüssel. Die Señorita bringt mich persönlich zu meinem Zimmer. Ich folge ihr nur schleppend, ebenso schnell es geht fünf Stufen hinauf. Unerwartet bleibt sie stehen, dreht sich lächelnd zu mir um und drückt lässig ein Knöpfchen in der Wand. Ich muss wohl gerade so ungläubig aus der Wäsche gucken, als käme ich aus einer anderen Epoche und hätte noch nie ein Knöpfchen in der Wand gesehen, das auch noch leuchten kann.
Ob sich irgendjemand auf dieser Welt vorstellen kann, wie glücklich und erleichtert ich bin, dass es hier einen Aufzug gibt? Ich fahre auf dem Camino das allererste Mal mit einem Aufzug. Was für ein Luxus! Ich bin eben doch eine Prinzessin! Oder ich habe gute Connections zum Universum!
Das Zimmer ist zwar sehr klein, aber hell und gemütlich. Eine Doppeltür führt auf einen winzigen Balkon, von dem aus ich auf die Stadt blicken kann. Frische, weiche Handtücher liegen auf dem breiten Bett. Ja! Ich bin angekommen und fühle mich, als wäre ich schon oft hier gewesen.
Mein Magen knurrt, hört sich an, wie einer der sagenumwobenen wilden Hunde Spaniens, von denen ich bis heute noch keinen getroffen habe. Ich reiße mich schwer am Riemen und gebe noch mal Gas, bevor der Hunger mich komplett umhaut. Ruddi hüpft wie jeden Abend sofort in seine Hundetasche und ich mach mich schnell an die obligatorische Handwäsche. Ich genieße ausgiebig eine heiße Dusche, nachdem ich altes Ferkel ja gestern bei Gordon das Bad gemieden habe. Ich fühle mich wie neugeboren.
Der Comedor befindet sich im Souterrain. Locker flockig fahre ich natürlich mit dem Lift elegant bis fast vor den Tisch. Ich glaube, die anderen Gäste sind Urlauber. Sie werden nämlich aufmerksam, als ich die wenigen, aber kaum noch zu bewältigenden Schritte bis zu einem freien Stuhl mache und umständlich Platz nehme. Vielleicht gebe ich auch ein paar wehleidige Töne von mir. Dass ich beobachtet werde, fällt mir erst auf als ich endlich sitze. Falls mein Publikum jetzt applaudieren will, muss es sich damit abfinden, dass ich sitzenbleibe. Die Luft ist raus! Der Tank ist leer!
Das Pilgermenü ist sehr gut und reichlich. Es sind tatsächlich keine anderen Pilger hier. So verbringe ich den Abend glücklich und gelassen in aller Ruhe alleine. Nach dem Essen falle ich todmüde und trotzdem rundum zufrieden nach imponierenden 27,4 Kilometern und mit Schlaf-Nachholbedarf ins Bett. Die ausgesetzten Pilger, die mich über die gesamte Etappe - mal auf dem Weg, mal in den Bars - begleitet haben, waren zwar Energieräuber. Umso bewusster ist mir nach diesem Tag, was mir das „echte“ Pilgern gibt - was ich in den letzten fünf Wochen so beeindruckend fand, dass ich für immer so weiter machen könnte.
Ich darf gespannt sein, was die letzten 85 Kilometer, die noch vor mir liegen, Spannendes für mich bereithalten. Ich lasse mich von den gleichmäßigen Autogeräuschen auf der Hauptstraße unter meinem offenen Fenster in den Schlaf tragen.