Montag, 12. Mai 2008
Molinaseca (771 Einwohner), 590 m üdM, Provinz León
28. Etappe bis Villafranca del Bierzo, 31 km
Direkt nach dem Aufwachen werde ich von einem aggressiven Kater belästigt. Könnte mir vorstellen, dass der sich ständig hier herumtreibt und alle Pilger unsanft aus ihren Träumen von der gestrigen sagenhaften Berglandschaft in die Realität zurückholt. Ich traue mich gar nicht aus dem Bett, so furchtbar faucht der. Er heißt Muskelkater und lässt sich nur durch stetige Bewegung vertreiben. Also überwinde ich mich, setze - trotz „panischer“ Angst vor einem Angriff - vorsichtig ein Bein nach dem anderen auf den Fußboden. Er geht in Deckung, gibt mir aber deutlich zu verstehen, dass ich mich ja nicht zu abrupt bewegen sollte. Er bleibt bis nach der Morgentoilette in Angriffsstellung, aber schon beim Rucksackpacken habe ich ihn soweit im Griff, dass ich mich wieder einigermaßen frei rühren kann.
Das Frühstücks-Buffet ist ein Traum. Es ist genauso perfekt bestückt, wie das riesige Kaminzimmer eingerichtet ist. Trotz der Größe strahlt der Raum Gemütlichkeit und Wärme aus. Außer mir hält sich momentan nur ein Ehepaar aus England hier auf. Sie sind gerade dabei, den ersten Kaffee zu trinken. Ich erkenne sofort, dass das keine Pilger sind. Sie wiederum identifizieren mich spontan als solchen und bieten mir an ihrem Tisch einen Platz an. Gerne setze ich mich zu ihnen und beantworte alle ihre Fragen.
Sie sprechen ein bisschen Deutsch und ich ein bisschen Englisch. Mit großen Augen hören sie mir gespannt bei meinen Ausführungen über die Pilgerschaft zu. Zum ersten Mal wird mir so richtig bewusst, wie viel ich nach 570 Kilometern mit Hund auf dem Jakobsweg zu erzählen habe. Wenn sie alles wissen wollen, müssen wir noch ein, zwei Tage in diesem traumhaften Hotel verbringen. Ich glaube sie bekommen so langsam Lust, sich auch einmal auf den Camino zu wagen.
Kurz nach neun reiße ich mich am Riemen und mache mich auf den acht Kilometer langen Weg nach Ponferrada. Insgesamt habe ich für heute unglaubliche 31 Kilometer eingeplant. „Denn man tou!“ wie der Norddeutsche sagen würde. Die letzten beiden Tage lag ich mit 21 und 15 Kilometern weit unter dem Tages-Durchschnitt. Es nützt ja nix, da müssen Ruddi und ich heute mal ein bisschen Gas geben. Ich habe die Hoffnung, dass wir übern Berg sind und zur Abwechslung mal wieder schön flach unterwegs sein können. Wenn alles gut geht, übernachte ich also in Villafranca del Bierzo.
Am Ortsausgang werfe ich noch einen letzten Blick zurück auf Molinaseca. Die Sonne strahlt aus einem wolkenlosen dunkelblauen
Himmel und lässt alles noch schöner und freundlicher erscheinen, als es sowieso schon ist. „Danke für alles!“
Auf einem gepflasterten, ziemlich breiten Bürgersteig führt der Camino ganz bequem über sanfte Hügel an einer mäßig befahrenen Landstraße entlang. Meditatives Gehen! Nicht denken, einfach treiben lassen. Traumhaft! Es geht fast von alleine. Ich genieße den Weg durch das Bierzo, das von ziemlich hohen Bergen umgeben ist. Ich will die Schönheit dieser Landschaft aufsaugen, konzentriere mich völlig darauf und verpasse schön den gelben Pfeil der dem aufmerksamen Pilger den rechten Weg weist. Schade, der hätte mich von der Landstraße weg durch die Felder geführt. Ich bleibe cool, denn auf diesem Weg komme ich ebenfalls ganz sicher nach Ponferrada. Das zeigen mir die Hinweisschilder für Autofahrer deutlich an.
Kurz vor der Stadt stolpere ich über eine weggeworfene Burger- Tüte. Ich staune nicht schlecht. Sowas gibt es hier also auch? Der Camino Francés hat mich auf 570 Kilometern noch kein einziges Mal an so einen Laden herangeführt, oder? Wahrscheinlich bin ich mit ganz eng anliegenden Scheuklappen durch die wirklich großen Städte gelaufen. Na super, jetzt habe ich Heißhunger auf Fastfood! Hoffentlich liegt der Laden auf meinem Weg. Bei 31 Tageskilometern kann ich mich nicht auch noch auf die Suche machen.
Meine erste Tat in der City ist die Überweisung der Hotelrechnung. Ponferrada, die Hauptstadt des Bierzo, hat 62.000 Einwohner und die scheinen alle auf den Beinen zu sein. Jede Menge Betrieb, viele Geschäfte, viel Verkehr, viele Menschen, die zum Einkäufen unterwegs sind. Eine Bank ist schnell gefunden. Ich muss mich in eine lange Schlange stellen. Oha, hoffentlich geht das schnell! Ich muss weg! Könnt ihr mich nicht vorlassen? Ungeduldig tippel ich von einem Bein auf das andere. Eine Bankangestellte erkennt wohl meine Not und hat Erbarmen. Sie winkt mich an ihren Schreibtisch und fragt, wie sie mir helfen kann. Sehr zuvorkommend und freundlich nimmt sie mich mit in ein kleines Büro und überweist für mich die 40 Euro nach Molinaseca.
Vor einem Supermarkt steht eine Parkbank unter einem großen Baum. Das ist die Gelegenheit, noch schnell ein paar Croissants und Wasser zu besorgen. Ruddi kann im Schatten gemütlich auf mich warten. Ich leine ihn an der Bank an und frage einen Mann, der es sich bequem gemacht hat, ob er einen Moment auf meinen Hund aufpassen kann. „Sí, claro (ja klar)!“ Blitzschnell finde ich im Laden alles was ich brauche und habe von der Schlange an der Kasse aus, einen guten Blick auf das, was draußen mit meinem Schnurzel passiert. Zwei Leute knien vor ihm und tun so, als ob sie ihn kennen. Der von mir engagierte Hundesitter sieht gerührt zu, lässt sie aber nicht aus den Augen. Na, da bin ich aber mal gespannt, wer sich so intensiv mit Ruddi beschäftigt!
Nach einer halben Ewigkeit komme ich endlich aus dem Geschäft und freue mich ein weiteres Loch in den Bauch als das Rätsel gelöst wird. Das sind Thomas und Gabi, das junge Pärchen aus der Bar in Rabanal. Der nette Señor, der mir geholfen hat, freut sich mit uns. Ich erzähle den beiden, dass ich bei Sturm und Regen heulend am Cruz de Ferro vorbeigelaufen bin und in Manjarín übernachten musste, weil Ruddi in Foncebadón unerwünscht war. Sie haben Tränen in den Augen und möchten es gar nicht glauben: „Wir haben uns schon so etwas gedacht, wärst Du doch in Rabanal geblieben, dann wäre Dir viel erspart geblieben. Du Arme! Wir haben die Herberge von Tomás ja gesehen und können uns gar nicht vorstellen, dort zu übernachten.“ Ich erzähle ein bisschen detaillierter von meinem Erleben auf dem Berg, um sie zu beruhigen. Sie zeigen echte Anteilnahme. „Ich habe aber auch in Molinaseca übernachtet und es ganz besonders gut angetroffen. Dieser Ort hat was Himmlisches an sich!“ Sie nicken mit leuchtenden Augen durchgehend und bestätigend mit dem Kopf, als ich begeistert davon erzähle. Obwohl sie selbst nur auf einen Kaffee dageblieben sind, haben sie auch den Glitzer über dem Ort gesehen.
Es fällt uns so schwer uns voneinander zu verabschieden, aber die heutige Etappe ruft immer lauter. Thomas und Gabi müssen noch im Hotel ihre Rucksäcke abholen und so mache ich mich alleine mit Ruddi wieder auf den Weg. Es ist übrigens keine Fastfood-Kette in Sicht, aber mein Heißhunger ist auch schon wieder verflogen.
Ponferrada hat viel Zeit in Anspruch genommen und ich bin froh, dass der Weg tatsächlich ganz einfach zu laufen ist. Die meiste Zeit bewegen wir uns auf einer Landstraße, wo nur ab und zu mal ein Auto vorbeikommt. Es ist wieder ganz schön warm in der Mittagssonne, aber es hält es sich in Grenzen. Ruddi ist noch rasant unterwegs. Die kleinen Ortschaften, die wir durchlaufen, sind sehr gepflegt. Hier stehen viele schicke und moderne Einfamilienhäuser mit geschmackvollen Vorgärten. Es ist nicht zu übersehen, dass das Bierzo eine der reichsten Gegenden in der Provinz León ist.
In einer Eck-Kneipe in Camponaraya nach insgesamt fast 18 Kilometern gönne ich uns eine Pause. Es ist sehr laut hier drin, aber auch amüsant. Vier ältere Männer spielen Karten. Sie versuchen sich zu konzentrieren, jeder will gewinnen. Sie haben fünf Kinder dabei. Es scheinen die Enkelkinder zu sein. Sie sind so zwischen vier und sechs Jahre alt und, wie es sich in diesem Alter gehört, voller Energie. Ihr Spiel heißt „Opa nerven“. Wild und laut lachend toben sie um den Tisch herum und zupfen neckend an den Karten, die die Opas krampfhaft in den Händen halten. Die lassen sich aber nicht wirklich vom Karten abhalten und versuchen, das Benehmen der Kinder zu ignorieren. Das finden sie total doof und setzen noch einen drauf. Jetzt klettern sie an ihren Opas hoch und fangen mit einem Umstyling an. Mit wilden Frisuren bleiben die Blicke der Senioren starr auf die Karten gerichtet - es hat ein bisschen was von Wahnsinn... Erst als neu gemischt werden muss, fällt ihnen auf, wie der jeweils andere aussieht. Ich hätte als Kind mächtig Ärger bekommen, wenn ich meinen Vater oder Opa beim Kartenspiel so genervt und zugerichtet hätte - vor allem in der Öffentlichkeit. Und was passiert hier. Die Männer gucken sich an, brechen in schallendes Gelächter aus und klopfen sich auf die Schenkel. Das Ende vom Lied ist: Die Kinder haben die Karten in ihre Gewalt bekommen und dürfen auch mal eine Runde spielen. Die Spanier haben eben große Herzen und leben die Gelassenheit. Na, dann kann ich ja beruhigt meinen Weg fortsetzen.
Ein sehr steiler Weg führt mich auf einen Steg. Auf ihm überquere ich die A6 und gehe weiter auf Feldwegen zwischen Weingärten. Und wieder ist die Landschaft atemberaubend schön und hügelig. Obwohl es lecker warm ist und noch gute dreizehn Kilometer vor mir liegen, bin ich zuversichtlich, es bis Villafranca del Bierzo zu schaffen.
Es ist zehn vor fünf als ich mitten in diesem Weinbaugebiet an einem handgemachten hölzernen Hinweis vorbeikomme auf dem steht „Santiago de Compostela 195“. Kaum zu glauben: Wir haben die 200- Kilometer-Marke unterschritten. Ich drehe mich im Kreis. Santiago ist zum Greifen nah und doch so fern. Der Frankfurter Flughafen ist von meinem Zuhause 195 Kilometer entfernt. Mit dem Auto sind wir da locker zwei Stunden unterwegs. Der ICE braucht nicht mal eine Stunde. Mir bleiben noch acht, allerhöchstem neun Tage zum Laufen. Acht Tage wären besser; ich will ja noch mit dem Bus nach Fisterre. Schaffe ich das? Was für eine Frage?! Na klar! Wer oder was sollte mich aufhalten? Das macht durchschnittlich knappe 24 Kilometer am Tag. Ich liege also genau im Plan. Ich empfinde in diesem Moment viel Stolz und Ehrfurcht vor mir selbst, dass ich es bis hierhin schon geschafft habe. Was für ein Gefühl!
Ich setze mich an den Wegesrand. Ruddi legt sich wie immer in meinen Schatten und sieht mich mit treuen Augen an. Ich streichle diesen kleinen Körper, die langen, schlanken Beinchen und die kleinen, pechschwarzen Pfoten. Es stecken so viel Kraft und Ausdauer, Mut und Gelassenheit in diesem Hund. Wie oft werden gerade kleine Hunde - meistens von Nicht-Hundemenschen - als Schoßhündchen abgestempelt? Die Pilger, die uns auf diesem langen Weg bisher begegnet sind, bewundern ihn täglich und können es nicht glauben, dass er wirklich - bis auf ganz kleine Ausnahmen - immer selber läuft. Er und ich waren all die Jahre schon ein sehr gutes Team, aber der Jakobsweg mit all seinen unvorhersehbaren Gegebenheiten hat unsere Mensch-Hund-Beziehung zu einer einzigartigen gemacht. Jedes Mal, wenn ich auf dieses kleine und so großartig disziplinierte Energiebündel sehe, fühle ich eine tiefe Liebe in meinem Herzen.
In Cacabelos gibt es noch einen Café con leche auf die ganz schnelle. Es fehlen noch gute sieben Kilometer und mein Reiseführer verspricht mir einige Auf und Abs. Zunächst geht es auf einer Landstraße weiter, die ziemlich gut befahren ist. Es fängt leicht zu regnen an. Ich überlege, ob ich mir meinen Poncho antue oder nicht. Ehrlich gesagt, ist er ja auch ein bisschen lästig und außerdem ist mir warm. Ich warte noch, bin ja nicht aus Zucker. In der Tat geht es ständig kurz aber heftig steil bergauf und bergab.
Ungefähr drei Kilometer vor Villafranca del Bierzo geht es auf Feldwegen weiter. Der Regen ist stärker geworden und die Stadt, in der ich auf jeden Fall übernachten muss, kommt immer näher. Damit ich Ruddi rechtzeitig verstecken kann, kommt mein Poncho nun doch zum Einsatz. Ich kann heute kein Risiko eingehen. Nach 31 Kilometern spielt mein Körper nicht mehr mit. Meine Ventile klappern jetzt schon.