Donnerstag, 1. Mai 2008
Hontanas (65 Einwohner), 925 m ÜdM, Burgos
17. Etappe bis Itero de la Vega, 21,4 km
Die Nacht war wunderbar ruhig in diesem Gemäuer, es herrschte absolute Stille. Mein Schlaf hingegen war ein Fiasko. Mit Ruddi zusammen ist es sehr eng im Schlafsack. Wir beide sind immer wieder wach geworden und haben uns die ganze Nacht, gezwungenermaßen synchron, hin und her gewälzt. Die Wolldecke rutschte in regelmäßigen Abständen vom glatten Material des Schlafsacks ab. Die spielte mit mir „fang mich, oder ich bin weg“. Die wollte bestimmt nach Hause in ihr gemütliches Wohnzimmer zurück. Aber so haben wir nicht gewettet. Diese eine Nacht musste sie mit mir und meinem Hund verbringen. Meine vordere obere Körperseite war durch die Wärme meines kleinen Vierbeiners auf einer angenehmen Temperatur. Meine Rückseite, die Beine und Füße blieben kalt. Ich bin nicht sicher, aber wahrscheinlich hätte Ruddi lieber in seiner Tasche geschlafen, da kann er sich doch besser ausstrecken - und seine Decke ist nicht so zickig. Was nützt das Nachkarten? Sei’s drum! Wichtig ist doch, dass wir hier willkommen waren und die Herbergsmutter mir ihr letztes „Hemd“ gegeben hat.
Den Geräuschen nach zu urteilen, verlassen die anderen Pilger bereits diese Albergue. So will es das Herbergsgesetz: Spätestens um 8 Uhr müssen alle Pilger draußen sein. Es wird so langsam Zeit aufzustehen. Es ist kurz nach sieben und ich kuschle mich nochmal ganz gemütlich in meinem Schlafsack an Ruddi, zieh mir die Wolldecke bis an die Ohren und wir genießen die Zweisamkeit. Soviel Zeit muss sein. Das ist so schön warm und friedlich. Mein Schnurzel schmiegt sich an mich wie eine Katze. Er gibt sich auch alle Mühe, sich so anzuhören. Die leisen, vibrierenden Geräusche, der er macht, kommen dem Schnurren einer Katze sehr nah. Es wundert mich nicht wirklich. Als er im Juni 2000 zu mir kam, wurde er von meinen beiden Katzen erzogen, bis er ein gutes Jahr alt war. Da hat er sich ’ne Stenge abgeguckt.
Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, nehme alles in mich auf, was ich erblicken kann. Was ich sehe gefällt mir sehr gut und erweckt meine Fantasie zum Leben. Ich stelle mir vor, was in diesen uralten Mauern schon so alles passiert sein mag: Wie viele Zigarren wurden vor Urzeiten an dem großen Kamin von den Herrschaften geraucht, wie viele Drinks genommen? Welch tiefgründigen Gespräche wurden hier geführt, welche Probleme gewälzt? Wie oft haben Verliebte vor dem Feuer gesessen, sich tief in die Augen gesehen und heiß geküsst, wie wild waren die Feste, die hier stattgefunden haben? Ich sehe sie vor meinem geistigen Auge in ihren prunkvollen Kleidern tanzen und höre sie lachen.
In meine Fantasien versunken drehe ich mich auf den Rücken, strecke mich nochmal aus. Mit einem Lächeln und geschlossenen Augen bleibe ich noch ein paar Minuten in meiner Traumwelt. Nach einer Weile komme ich wieder zu mir und bin bereit, die nächste Etappe anzugehen. Ich öffne meine Augen, mein Blick ist zur Decke gerichtet. Oh Schreck! Was sehe ich denn da genau über mir? Ich traue meinen Sinnen nicht: Da oben ist doch tatsächlich ein „Fenster“ in der Zimmerdecke. Das ist mindestens einen Quadratmeter groß. Moment mal: das heißt doch, wenn auf der 1. Etage Leute sind, diese mich die ganze Zeit beobachten können, wenn sie wollen. Nicht, dass ich was zu verbergen hätte, aber so was weiß ich lieber vorher. Keine Ahnung, was ich alles so mache, wenn ich mich total alleine wäge?! Mir bleibt nur zu hoffen, dass ich mich die Nacht über benommen habe und nicht zum neuen Pilger-Bar-Thema geworden bin. Vielleicht war mein Schlaf ja auch deshalb so extrem unruhig. Es ist erstaunlich: Da habe ich einen zirka 50 Quadratmeter großen Raum zur alleinigen Verfügung und bette mich genau unter diesem Spionage-Fenster. Maldita sea (so ein Mist)!
„Nicht ärgern, Birgit!“ rufe ich mich zur Ordnung, „Sachen packen und loslaufen.“ Das Frühstück lasse ich mal ausfallen. Irgendwie habe ich keine Lust dazu. Hm, was ist denn da los? Kein Café con leche, kein Croissant? Das ist ja seltsam. Ich frage nochmal bei mir selber nach - es bleibt dabei: Keine Lust. Nun denn, es wird schon seinen Grund haben. Vielleicht müsste ich ja zu lange auf einen freien Tisch warten, wer weiß!? Mein Bauch weiß wieder mal mehr als mein Kopf. Dann bin ich jetzt eben ausnahmsweise „unvernünftig“. Der Camino ruft heute Morgen aber auch besonders laut nach mir. Kurze Zeit später verlassen wir Hontanas und gehen einen schmalen, nicht asphaltierten Pfad Richtung Castrojeriz. Mein Perro-Kumpel und ich fühlen uns topfit und genießen die Landschaft. Wir sind nicht alleine in dieser schönen Gegend unterwegs. Es mag nicht zuletzt daran liegen, dass ich eine gute Stunde früher auf dem Weg bin als sonst. Wie schon erwähnt, ziehen es die meisten Wallfahrer vor, sehr früh am Morgen loszugehen.
Bis Castrojeriz sind es knappe zehn Kilometer. Das ist doch ein Klacks, die hüpfe ich doch auf einem Bein ab! Wir sind voller Energie und Vorfreude auf das historische und denkmalgeschützte Dorf mit seinen knapp 1000 Einwohnern. Die ersten vier Kilometer schlängelt sich ein schmaler Pfad weit oberhalb der Landstraße an einem Hang durch Wiesen und Felder. Immer wieder begleiten uns einige bunte Schmetterlinge ein Stückchen. Die Vögel fliegen gut gelaunt auf und ab, landen auf dem Weg, hüpfen auf die Wiese und suchen nach Futter. Hontanas ist dort unten auch noch zu sehen. Das alles zusammen sieht aus, wie gemalt - wie aus einer anderen Zeit. Dieses Fleckchen Erde ist wirklich märchenhaft. Ich fühle mich fast wie Schneewittchen, das in den sieben Bergen unterwegs ist. Hätte ich nicht den schweren Rucksack auf dem Rücken, würde ich fröhlich hüpfen. Das Bild, das sich mir bietet, würde jedes Bilderbuch bereichern.
Die nächsten sechs Kilometer bis zum Ort führt der Jakobsweg über die wenig befahrene Landstraße, die ich bisher von oben gesehen habe. Ich nehme Ruddi an die Leine, denn wenn ein Auto kommt, dann ist es sehr schnell unterwegs. Gegen elf Uhr passiere ich das halb verfallene Kloster San Antón.
Einige Pilger sitzen auf einer Treppe in der Sonne und machen ein kleines Picknick. Oder sind das die sieben Zwerge? Sie sind jedenfalls sehr ausgelassen, ich höre sie schon von weitem lachen und als sie mich entdecken, winken sie mir einladend zu. Na, da darf ich wieder gespannt sein, auf welche Menschen ich treffe. Zipfelmützen haben sie jedenfalls keine an! Von Neugierde getrieben wird mein Schritt automatisch ein wenig schneller. Diese kleine Gruppe stellt einen großen Teil der Welt dar: Männer und Frauen aus Brasilien, England, USA, Japan, Schweden und Italien sind hier versammelt. Ich geselle mich als Deutsche zu ihnen und lasse mich auf die quietschfidele Stimmung ein.
Sie haben sich alle erst auf dem Camino „gefunden“, sind schon seit einer Weile gemeinsam unterwegs und wirklich „bunte Vögel“. Sie sind so ganz anders, als die Pilger, die ich bisher kennengelernt habe: Sehr laut, sehr derb, sehr albern, obszön - eben ausgeflippt - und dazu musikalisch. Sie singen temperamentvolle Lieder und es würde mich nicht wundern, wenn sie anfingen, den Regentanz zu performen. Es fühlt sich an, wie auf einer Fete zu fortgeschrittener Stunde. Sie haben alle ein großes Herz und sind sehr „gastfreundlich“. Mir werden Croissants, Käse, Wurst, Chips, Kekse und Schokolade angeboten. Klar, das gehört zu einer guten Party auch dazu! Na also, wer sagt’s denn: So komme ich also heute zu einem Frühstück. Na? Kann man sich auf sein Bauchgefühl verlassen oder nicht? Na klar! Wieder eine neue Variante. Das Pilgern birgt täglich außergewöhnliche Begegnungen, mit denen man überhaupt nicht rechnet. Ruddi wird ebenfalls mit kleinen Leckereien verwöhnt. Nachdem ich den Nachtisch in Form von Zigaretten bereitgestellt habe, verabschieden wir uns mit sehr innigen Umarmungen in vielen verschiedenen Sprachen voneinander. Ich kann sie noch sehr lange hören, während ich mich immer weiter von ihnen entferne.
Gestärkt wandern mein Hund und ich immer der Nase nach auf dieser Landstraße, die kein Ende nehmen will. Castrojeriz ist schon lange zu sehen, aber es ist wie verhext, wir kommen dem Ort anscheinend nicht näher. Nach dem ausgefallenen Frühstück brauche ich jetzt ganz dringend einen Café con leche.
Auch heute ist es wieder ziemlich heiß. Zum Glück stehen am Straßenrand jede Menge große Bäume, die Schatten spenden. So kurz vor der Stadt ist ein bisschen mehr Autoverkehr als bisher. Da ist volle Konzentration gefordert und das lenkt mich ein wenig von der Überzeugung ab, dass ich laufe und laufe und dem Ort doch nicht näher komme. So findet natürlich auch diese Straße ein Ende. Na so was?!
Direkt am Ortseingang von Castrojeriz befindet sich ein kleines Lokal mit einem Biergarten in einer liebevoll arrangierten Gartenanlage. Da ich mich den ganzen Tag in der Sonne aufhalte, ziehe ich es vor, meine Pause innerhalb des Lokals zu machen. So können Kopf und Körper ein bisschen runter kühlen. Auch die Inneneinrichtung wurde mit viel Liebe zum Detail gemacht und ich genieße in dieser harmonischen Umgebung gleich zwei Tassen meines spanischen Lieblingsgetränks. Mein Reiseführer verrät mir, dass bis Itero de la Vega noch fast zwölf Kilometer vor mir liegen und gleich zu Anfang 100 Höhenmeter auf ganz kurzer Strecke hinauf zur Sierra de Mosterales bezwungen werden wollen. Die Siesta fällt dementsprechend ein bisschen knapper aus, als ich vorhatte.
Castrojeriz liegt am Hang eines Hügels und erstreckt sich auf ungefähr einen Kilometer. Ich bestaune dieses außergewöhnliche denkmalgeschützte Dorf. Ich fühle mich wieder mal in eine andere Epoche versetzt. Es sind nur wenige Menschen unterwegs, es gibt keinen Autoverkehr - zumindest momentan nicht - wenige Geschäfte, absolute Stille. Nur aus den Häusern dringt hier und da ein leises Rumoren, Klappern des Geschirrs und Stimmengewirr. Es sieht so aus, als seien viele Häuser unbewohnt. Ruddi läuft - endlich wieder ohne Leine und trotz der Mittagshitze - gleichmäßig fröhlich vor mir her. In dieser Idylle fühle ich mich gut aufgehoben.
Plötzlich, ohne Vorwarnung, stürzt sich ein Hund - nur wenig größer als meiner - vollkommen aggressiv auf meinen und wirbelt ihn durch die Luft. Er hat ihn im Nacken gepackt und schüttelt ihn wild, dann lässt er für den Bruchteil einer Sekunde los. Ruddi legt sich sofort steif auf den Rücken, begibt sich also in die unterwürfigste Haltung, die er einnehmen kann. Unter Hunden ein eindeutiges Zeichen für „ich ergebe mich“. Der andere ignoriert das und beißt blindlings drauflos. Ich höre meinen Hund jaulen, er lässt sich nicht auf diesen Kampf ein, bleibt regungslos liegen. Ich bin in Panik. Ich schreie so laut ich kann um Hilfe. Mit meinen Pilgerstöcken versuche ich den Wildgewordenen zur Seite zu drängen. Andere Pilger kommen herbeigeeilt, versuchen ebenfalls mit ihren Stöcken den Hund wegzudrücken. Wir achten trotz allem darauf, dem Durchgedrehten nicht wehzutun. So schaffen wir es auch, dass die Beißerei aufhört.
Endlich kommt der Besitzer dieses Hundes aus einem Haus gelaufen, stürzt sich auf sein Tier und verprügelt es so brutal, dass ich ihn anschreie, er solle sofort damit aufhören. Es wundert mich nun nicht mehr, dass diese arme Kreatur so unkontrolliert aggressiv ist. So ein Verhalten sollte bestraft werden. Meiner Meinung nach, kann ein Hund normalerweise nur so gut oder schlecht sein, wie sein Herrchen mit ihm umgeht. So unverhofft er aufgetaucht war, so schnell ist er auch wieder weg.
Zitternd vor Schreck und Entsetzen kümmere ich mich natürlich sofort um Ruddi. Er ist, Gott sei Dank, nur leicht verletzt. Die Bisse sind nicht spurlos geblieben, aber es hält sich in Grenzen. Vielmehr steht er unter Schock. Mit großen, nassen Augen sieht er mich an, als wenn er sagen wollte: „Warum? Der hätte doch mit mir reden können. Ich habe mich sofort ergeben! Ich verstehe das nicht?!“ Er tut mir so leid. Ich nehme ihn vorsichtig in den Arm, sein kleines Herz klopft wie verrückt. Noch nie hat er schlechte Erfahrungen mit anderen Hunden gemacht. Und gerade hier auf dem Camino Francés mit seinen vielen kleinen Dörfern, in denen es immer freilaufende Hunde gibt, hat er sich schon mit so vielen „unterhalten“. Jedes Mal schnauzen sie ihn ganz aufgeregt an, wenn wir ein Dorf betreten. Mir ist schon oft vor Schreck die Luft weggeblieben, vor allem, wenn es sich um große, schwere Hunde gehandelt hat. Aber mein kleiner Ruddi, weiß nicht, dass er klein ist und bellt selbstbewusst mit aufgestelltem Kamm, eben wie ein „ganz Großer“, allzeit irgendwas Resolutes zurück und schon nach einer kurzen „Diskussion“ ist das Thema durch. Oft laufen die Hunde sogar gemeinsam ein Stückchen. Die Kommunikation klappt normalerweise hervorragend.
Ich bin immer schon der Meinung gewesen, dass ich mich in solchen Situationen nicht einmischen sollte, die Hunde haben ihre eigene Art, sich kennenzulernen. Die Kläfferei hört sich meist viel bedrohlicher an, als sie in Wirklichkeit gemeint ist. Ich sorge lediglich stets dafür, dass er bei einer Begegnung mit der eigenen Art ohne Leine kommunizieren kann, damit er nicht unbewusst von mir beeinflusst wird.
Die mir zu Hilfe geeilten „Pilger-Kollegen“ bleiben noch ein paar Minuten, um sicher zu gehen, dass mit uns alles in Ordnung ist. Völlig irritiert setzen wir beide den Weg durch dieses Dorf, auf das wir uns so gefreut hatten, fort. Ich will meine Unbekümmertheit wieder haben, auf der Stelle! Aber ich habe Angst, dass dieser Hund noch einmal über Ruddi herfallen könnte. Dauernd schau ich mich um, ich habe Gänsehaut, fühle mich verfolgt und bedroht. Ich lege den zweiten Gang ein, will nur noch hier weg.
Ein paar hundert Meter weiter haben wir uns beide wieder ein wenig beruhigt und ich betrete mit Ruddi unterm Arm einen kleinen Laden, um mir etwas Essbares und eine Flasche Wasser zu kaufen. An der Wursttheke will ich eine Leckerei für meinen tapferen Krieger ergattern. Ein Knochen soll es sein, den er während unserer nächsten Pause bearbeiten kann. Die Señora ist von meinem Hund entzückt, hat aber leider keinen Knochen da. Wild entschlossen macht sie eine riesengroße Tüte mit Wurstenden fertig und drückt sie mir als Geschenk in die Hand. Ich kaufe mir ein „nach Wunsch“ belegtes Baguette und verlasse dankbar und zufrieden angesichts so viel Herzlichkeit das Geschäft.
Nur wenige Meter weiter gibt es einen Tante-Emma-Laden. Da sich heute meine Füße wieder einmal schmerzvoll bei mir beschweren, will ich mich nach einer speziellen Fuß-Salbe für Pilger umschauen. Bereits mehrere Male wurde mir gesagt, dass jeder diese Salbe braucht, weil sie die müdesten und kaputtesten Füße wieder beruhigt. Die meisten Pilger haben sie in ihrem Rucksack. In diesem winzigen vollgestopften Laden gibt es alles, was man sich nur vorstellen kann. Der uralte Señor, dem das Geschäft gehört, sitzt hinter einer Theke auf einem Hocker und lächelt mich freundlich an. Zwischen all seinen Waren ist er mir zuerst gar nicht aufgefallen. Mit Händen und Füßen, in diesem Fall viel mehr mit den Füßen, erkläre ich ihm, was ich suche. Sofort weiß er, worum es geht. Er hält mir ein Töpfchen unter die Nase und beschreibt voller Begeisterung die Wirkung dieser Salbe, packt sie in eine kleine Papiertüte und überreicht sie mir. Für ihn ist es gar keine Frage, ob ich sie nun kaufen will oder nicht. Für ihn ist es ein Muss! Also lege ich bereitwillig zwölf Euro auf die Theke, bedanke mich für die freundliche Beratung und werde spanisch temperamentvoll verabschiedet.
In einer Stadt, in der ich so viele ungleiche Erfahrungen gemacht habe, möchte ich mir auch einen Stempel in meinen Pilgerpass setzen lassen. Ich steuere die nächste Herberge an. Viele Stufen muss ich erklimmen, um den Eingang zu erreichen. Hier steppt der Bär. Wie gestern in Hontanas halten sich in dieser Albergue viel zu viele Pilger auf. Sie teilen mir gleich mit, dass es kein freies Bett mehr gibt. „Ich will doch nur einen Stempel haben!“ antworte ich amüsiert. Sie wirken wieder alle so gestresst. Es wundert mich nicht. Der Stress ist vorprogrammiert: Viele laufen in aller Herrgottsfrühe los, oft schon um fünf Uhr, um nur ja noch am frühen Nachmittag ein Bett zu bekommen. Sie gehen davon aus, dass sie zu späterer Stunde auf keinen Fall mehr einen Schlafplatz finden können. Hallo...! Ich weiß, dass das nicht stimmt. Wichtig ist: schön geschmeidig bleiben und fest dran glauben, dann klappt‘s auch mit der Unterkunft.
Ich muss für den Stempel eine Weile anstehen und sehe mich wieder einmal darin bestätigt, wenn irgend möglich, in einer Pension oder einem Hotel zu übernachten. Der Einblick in den Schlafsaal genügt mir. Wie in Grañón in der Kirche, liegen auch hier in einem riesengroßen Raum, der an eine Turnhalle erinnert, Matten auf dem Boden. Matte an Matte, dazwischen gerade genug Platz für die Füße, damit man sein Lager erreichen kann. Nee danke, das muss ich mir nicht geben! Nachdem mein Pass gestempelt ist, bin ich auch ganz schnell wieder weg.
Die Belohnung des Tages ist die Beschaffenheit des Weges bis zum Anstieg zur Sierra de Mosterales. Er führt durch Felder und Wiesen, ist nicht asphaltiert, sehr breit, flach und ohne Stolperfallen. Tief berührt, nach dem Stress in Castrojeriz, überlasse ich mich hier meinen Tagträumen von einem erfahrungsreichen, unterm Strich immer harmonischen, Jakobsweg.
Dass Träume wahr werden, steht für mich schon sehr lange fest. Sie verwirklichen sich in der Intensität, mit der man an sie glaubt. Eine positive Grundeinstellung ist das wichtigste Handwerkszeug um Träume in die Erfahrung zu holen. Und daran „arbeite“ ich täglich. Schlechte Erfahrungen, die nicht zu meinen Träumen passen, zeigen mir über meine Emotionen, dass ich mich in die entgegengesetzte Richtung entwickle. Sie erinnern mich daran, mich mehr mit dem Gewünschten zu beschäftigen, anstatt dem Negativen zu viel Raum zu geben.
So hänge ich also meinen Träumen nach, bis der angekündigte Anstieg beginnt. Ich sehe auf dem sehr, sehr, sehr, sehr steilen Weg nach oben viele Pilger, die ihr Fahrrad schieben. Ich erkenne von weitem, wie arg sie sich mit dem Gewicht des Rades und zusätzlichen Gepäcks quälen. Zentimeter um Zentimeter bewegen sie sich vorwärts. „Nur nicht bange machen lassen!“ beruhige ich mich selbst. Es ist eine echte Herausforderung, die ich jetzt angehe. Meine Schritte sind ganz kurz, höchstens so lang wie mein Fuß. Ich rufe mir in Erinnerung: „Du schaffst das. Alles ist möglich! Du musst es Dir nur vorstellen können. Geh einfach. Der Weg wächst im Gehen, unter deinen Füßen, wie durch ein Wunder.“ Der Anstieg ist tatsächlich kurz, aber dafür umso steiler (ja, ich weiß, dass ich mich wiederhole). Es sind 100 Höhenmeter. Mein graziler Ruddi schwebt natürlich vor mir her und feuert mich an: „Komm schon, es ist ganz leicht!“
Fix und fertig, aber glücklich und stolz auf mich, erreiche ich die Sierra de Mosterales und werde, wie erwartet, mit einem atemberaubenden Ausblick über die unendliche Tierra de Campos belohnt. Hier oben stehen Tische und Bänke für die geschafften Wanderer bereit. Ich packe Ruddi‘s Fresstüte von der freundlichen Señora aus und staune nicht schlecht, als ich ein Stück Schinken entdecke, das einen ausgewachsenen Schäferhund satt machen würde. Ruddi darf eine Weile daran rumknabbern. Komplett kann ich ihm die Köstlichkeit nicht überlassen, das bekäme ihm nicht. Wir machen eine etwas ausgedehntere Pause, obwohl noch acht oder neun Kilometer bis Itero de la Vega vor uns liegen. Es ist jetzt fast 15 Uhr. Zu lange sollte ich nicht hier kleben bleiben. Obwohl ich mir in diesem Moment durchaus vorstellen kann, mich einfach auf diesen Tisch zu legen und einzuschlafen. Vielleicht würde ich es tun, wenn mein Schlafsack wärmer und größer wäre.
Der Abstieg ist zunächst genauso steil wie der Anstieg. Wie schon so oft überlege ich, was mir leichter fallt: Das Raufgehen oder das Runterlaufen?! Beim Kraxeln möchte ich gerne schneller sein, bergabwärts muss ich peinlichst darauf achten, dass meine „Bremsen“ nicht versagen. Ich finde keine Antwort auf diese Frage. Sicher ist nur, dass ich früher immer dachte, ich könnte gar nicht bergauf laufen. Ich wurde auf dem Jakobsweg schon am ersten Tag eines Besseren belehrt. Es geht! Und zwar viel leichter, als ich mir je hätte vorstellen können. Der Trick dabei sind lediglich die ganz kurzen Schritte.
Nach kurzer Zeit wird der Abstieg sanfter und ich kann mich wieder entspannen. Diese Weite des Landes beeindruckt mich tief. Das Grün der Felder und das Blau und Weiß des Himmels prägen sich in „die Ecke der schönsten Erinnerungen“ meines Gehirns. Ich staune über einige schneeweiße Felder, die deutlich aus der Landschaft hervorstechen. Bin gespannt, was das ist. Schnee kann das nicht sein, dafür ist es viel zu heiß - das ist sicher. Und noch etwas kommt mir in den Sinn: „Ohren nach hinten aufhalten, mit Fahrradpilgern ist zu rechnen.“ Das bleibt mir aber erspart. So laufe ich, völlig eins mit der Natur, die nächsten Kilometer glücklich und zufrieden auf „meinem Camino“. Übrigens glaube ich, dass es sich auf den weißen Feldern um Kalk handelt. Ein bisschen abseits des Wegs befinden sich offene Kalkbrüche.
Kurz bevor ich den Pisuerga auf der Puente Fitero, einer romanischen Brücke, überquere und damit die Provinz Burgos verlasse, ruft Hermann an. Er ist ungefähr zehn Kilometer weiter als ich. Aufgeregt erkundigt er sich nach unserem Befinden. Er hat gedacht, ich hätte wegen Ruddi meine Mission Jakobsweg abbrechen müssen, weil er seit ein paar Tagen nichts mehr von mir gehört oder gesehen hat. Wir erstatten uns kurz gegenseitig Bericht über unsere Erfahrungen. Bei ihm ist ebenfalls alles in Ordnung, er verläuft sich auch nicht mehr so oft. Ich habe mich sehr über seinen Anruf gefreut. Wir sind beide gespannt, ob wir uns nochmal begegnen. Die Chance ist groß, er will ja auch bis Santiago de Compostela gehen.
Direkt am Fluss befindet sich die kleine Herberge San Nicolás, die früher ein Pilgerhospital war. Davor sitzen einige Pilger und der Herbergsvater mit seinem Schäferhund. Ruddi und ich werden freudig begrüßt und eingeladen, ein bisschen zu verweilen. Der Hospitalero bietet mir sofort seinen Sitzplatz an. Die beiden Hunde verstehen sich auf Anhieb und streunen ein bisschen herum. An diesem Ort fühle ich mich sofort wohl. Die Leute sind vollkommen entspannt, gut gelaunt Und zuvorkommend. Sie machen den Eindruck auf mich, als wären sie eine große Familie. Dabei kennen sie sich alle erst seit ein oder zwei Stunden. So ist das auf dem Pilgerweg, man ist sich sehr schnell sehr vertraut. Ich erfahre, dass es hier lediglich zwölf reguläre Schlafplätze gibt, jedoch mindestens schon 17 oder 18 Pilger für die Nacht untergebracht sind. Schade, hier wäre ich gerne geblieben, obwohl es eine Herberge ist. So wie es aussieht, gibt es nicht einmal ein richtiges Bad, aber dieser Ort hat eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich. Ich kann mich nur schwer loseisen.
Die letzten ein oder zwei Kilometer bis Itero de la Vega verlaufen neben dem Fluss, an dessen Ufer viele große Bäume stehen. So kann ich ein bisschen Schatten finden und Ruddi bahnt sich seinen Weg durch das kühle Unterholz. Am frühen Abend erreichen wir unser heutiges Etappenziel. Und da ist wieder dieses fast unbeschreibliche Gefühl, das sich beim Pilger einstellt, wenn er angekommen ist. Ein Baby könnte sich so fühlen, wenn es die ersten Schritte vom Couchtisch bis zum Sessel macht und sich nach dem Ankommen erleichtert und unendlich stolz mit dem Oberkörper auf die sichere, weiche Unterlage fallen lassen kann. Es war schwer, aber doch so schön und außergewöhnlich, dass es von nun an jeden Tag ein paar Schritte mehr machen will und wird. Immer mit der Gewissheit, dass es sich am, von ihm selbst ausgesuchten Ziel, weich fallen lassen darf. Wenn es sich unterwegs mal den Kopf gestoßen hat, schreit es kurz auf und läuft dann umso entschlossener weiter seinem Ziel entgegen. Und wenn es abends todmüde, frisch gebadet und satt in seinem Bettchen liegt, träumt es von neuen Zielen am folgenden Tag. Ja, so ähnlich fühle ich mich.