Freitag, 16. Mai 2008
Pitín (ca. 50 Einwohner), ca. 650 m üdM, Provinz Lugo
32. Etappe bis Vilachá, 26,9 km
In dieser Nacht habe ich besonders tief geschlafen. Mein Wecker holt mich von ganz weit her auf diese Welt zurück. Ich kuschel mich noch für ein paar Minuten tief in die Kissen, um dieses Zimmer zu genießen. Ob die Österreicher schon unterwegs sind? Vielleicht treffe ich sie ja auf einen Kaffee beim Frühstück! Bei diesem Gedanken, hält mich nichts mehr im Bett. Nichts wie raus aus den Federn! Zum Glück treibt mich kein Feueralarm, denn ganz so spontan komm ich dann doch nicht in Gang. Es gibt wieder neue Muskelgruppen in meinem Körper, die noch nicht richtig geölt sind. Es knirscht und reibt schmerzvoll in allen wichtigen Teilen.
Ganz vorsichtig schleppe ich mich erst mal bis zum Fenster. Aufrecht stehen? Unmöglich! Ich mach eine kurze Pause, tu mir selbst gegenüber so als wär nichts und schau ein bisschen auf die Dorfstraße herunter. Ich muss den Ablauf meiner Morgentoilette also gekonnt in vertretbare Abschnitte einteilen, dann wird es schon gehen. Die nächste Etappe reicht gerade bis zu dem Stuhl, auf dem meine Klamotten fein säuberlich abgelegt sind. Ich bücke mich unter Schmerzen die paar Zentimeter runter, um sie fassen zu können. Lieber Himmel, die Badezimmertür ist mindestens vier Meter entfernt, wie soll ich denn da hinkommen? Beruhigend ist ja, dass ich nochmal an meinem Bett vorbeikomme und da gegebenenfalls eine weitere kurze Pause machen kann. Mit viel Willenskraft erreiche ich das rettende Ufer. Wie ein Häufchen Elend liege ich mit den Füßen auf dem Boden und dem Oberkörper auf der Matratze und habe keine Ahnung, wie ich je wieder hochkommen soll. Ich habe das Gefühl, mich zum Sterben niedergelassen zu haben. Und da kein anderer da ist, bedaure ich mich selbst so gut ich kann.
Nein, so geht das nicht! Ich nehme mich selbst streng ins Gebet: „Stell Dich nicht so jungfräulich an. Beiß die Zähne zusammen! Es gibt viel Schlimmeres! Du hast gar keine Zeit zum Sterben!“ Was ich mir da selber sage, ist eine Unverschämtheit und völlige Ignoranz meiner doch so realen Qualen. Ein paar dicke Tränen stehlen sich aus meinen Augenwinkeln. Nee, auf diese Weise komm ich auch nicht klar. Eine andere Taktik muss her! Ich könnte liebevoller mit mir umgehen. Selbst einen Fremden würde ich in dieser Situation nicht niedermachen, sondern verständnisvoll aufbauen und behutsam in positivere Bahnen lenken.
So fange ich diesen Morgen zunächst einmal mit zwanzig Minuten Reiki an und rufe mir währenddessen einige wunderbare und lustige Erlebnisse der letzten Wochen ins Gedächtnis. Dabei fällt mir auch wieder ein, wie schmerzvoll die ersten Tage auf dem Jakobsweg waren. Wie oft haben Hermann und ich über unsere grotesken Bewegungsabläufe und den dazugehörigen pilgereigenen Stoßseufzern lachen müssen, obwohl uns auch das Lachen wehgetan hat. Je mehr wir es uns verkneifen wollten, desto intensiver wurde unser Galgenhumor. Der Volksmund sagt „Lachen ist die beste Medizin“. Wie konnte ich das vergessen? Ich habe insbesondere hier auf dem Jakobsweg schon so oft die Bestätigung dafür erhalten.
Endlich habe ich mich wieder gefangen und führe ein intensives Gespräch mit dem Universum. Ich bestelle mir per Express einen geschmeidigen und gängigen Körper, Zuversicht, Kraft und absolut positive Gedanken. Die da oben reagieren prompt. Ruckizucki bin ich soweit wieder beweglich, dass ich mir entspannt noch ein paar Minuten die Füße und Beine mit der bewährten Pilgersalbe massieren kann. Eine Viertelstunde später komme ich erfrischt aus dem Bad und fühle mich fit wie ein Turnschuh. Schmunzelnd erfreue ich mich an einem weiteren körpereigenen Allheilmittel - der Kraft der Gedanken!
Nach zwei Tassen Café con leche und frischen Croissants mit lecker Butter und Marmelade verlasse ich dieses tolle Hostal mit einer herzlichen Umarmung meiner Vermieter. Ich bin die letzte Pilgerin, die heute Morgen das Haus verlässt.
Nach Calvor geht es weiter megasteil bergab. Es ist nicht mehr matschig. Die Sonne scheint und hat die Nässe der letzten Tage zum großen Teil vertrieben. So läuft es sich viel entspannter. Heute kann ich den Wald ganz anders wahrnehmen und richtig genießen. Mächtige Bäume säumen den schmalen Pfad. An einen, der sich mir quasi in den Weg stellt, lehne ich mich für ein paar Minuten an.
Das tut richtig gut. Ich kann mich tatsächlich darauf einlassen, mit dem Baum zu verschmelzen - kurze Zeit eins mit ihm zu sein - kann regelrecht fühlen, dass er lebt. Mein Atem wird ruhig und gleichmäßig. Ich fühle mich mit der Erde verwurzelt und trotzdem ganz leicht. Ich glaube, der Baum sortiert gerade meine letzten chaotischen Gedanken aus und lässt sie in den Boden sickern. Mein Kopf scheint sich für das Universum zu öffnen. Wie durch einen riesigen Trichter lasse ich positive Energie in meinen ganzen Körper fließen. Das erste Mal im Leben schöpfe ich bewusst Kraft aus einem Baum - eine sehr bewegende Erfahrung.
Das Gehen fällt mir so leicht wie noch nie. Keine Spur mehr von den Anlaufschwierigkeiten nach dem Aufstehen. Die Wegbeschaffenheit lässt völliges Entspannen zu. Ich bin mit mir und dem Camino im Frieden. Durch die Bäume hindurch zeigt sich mir völlig unerwartet ein Pferd. Es steht einfach ruhig da. Magisch zieht es meinen Blick in seine Richtung und mir geht im gleichen Moment das Wort „Krafttier“ durch den Kopf. Wo kommt das denn jetzt her?
Ich weiß, dass das Pferd für Freiheit und Beweglichkeit steht. Es lehrt mich, im Hier und Jetzt zu sein. Es bedeutet, dass alles im Umbruch ist und ich diesen Weg alleine gehen muss - es ist eine Reise der Selbstentdeckung, mein ganz persönlicher Pfad des Wachstums und der Selbstheilung. Ich werde neue Situationen erleben, die mich wachsen und reifen lassen. Ich soll Vertrauen in meinen Weg haben. Wenn das nicht zum Camino passt, dann weiß ich es auch nicht!
Ich bleibe noch einige Minuten stehen, habe das Gefühl, dass wir beide uns noch etwas zu „sagen“ haben. Gerade als ich leise „adiós“ sage, hebt das Pferd sein rechtes Hinterbein und dreht seinen Kopf Richtung dieses Hufs. Da das seine einzige Bewegung ist, verankert sie sich in mir und ich höre die Warnung förmlich, die von diesem Tier ausgeht: „Achte auf Deine Füße, besonders auf die Zehen!“ Als wäre so ein Gespräch mit einem Pferd für mich das normalste der Welt, verabschiede ich mich mit einem „Mach ich, danke Dir“.
Nur fünf Minuten später: Ich bewege mich gerade an einer etwa zwei Meter hohen Böschung vorbei, als ich Geräusche von da oben wahrnehme. Mein neugieriger Blick trifft genau auf die Unterseite einer Kuh. Im ersten Moment bin ich sehr erschrocken. Das Tier ist gewaltig - vor allem, wenn es so viel höher steht. Das Rindvieh ist sehr erfreut, mich zu sehen und ruft zwei Kumpels herbei, die ebenfalls ihre Nüstern blähen und wiederkäuend auf mich herabschauen. Wenn sie noch einen Schritt auf mich zu machen, bin ich platt. Es gibt keinen Zaun zwischen uns. Aber die werden schon wissen, was sie tun. Die stehen ja nicht das erste Mal hier.
Tja, dann hab ich heute wohl den Tag der Krafttiere. Die Kuh bringt Fülle und Segen. Sie will mir sagen: „Die universale Quelle ist immer da. Fühl Dich mit allem versorgt, was Du brauchst. Stärke die Verbindung zu ihr. Wähle den Weg, der Dir guttut. Du findest gerade den Anschluss an Dein wunderbares, schöpferisches Potential. Ich führe Dich auf Deine innere Weide. Dort kannst Du ausruhen, alles Erlebte gründlich verdauen und neue Kraft schöpfen. Bringe Geben und Nehmen in die vollendete Balance. Denke darüber nach, was Du für Dein Wohlergehen brauchst und genieße dann den Strom des Lebens.“ Wow, noch keine zehn Uhr und schon so viele wunderbare Erfahrungen! Ich bin ganz gespannt, was der Tag mir bringt und gehe offenen Herzens weiter „meinen Camino“.
Nach insgesamt sechs Kilometern erreiche ich Sarría. Ich zähle diesen Ort mit fast 10.000 Einwohnern zu den Großstädten. Gerade heute bin ich sehr besinnlich und will nur ganz schnell da durch. Ich trinke direkt am Ortseingang in einer sehr großen Gaststätte einen Café con leche. Die Sonne scheint und ich habe es mir auf der Terrasse direkt an der mäßig befahrenen Hauptstraße bequem gemacht. Ab und zu hält ein Auto an, dessen Fahrer eilig ins Rasthaus springt, mit einem Getränk zurückkommt und wieder davon rauscht. Ganz relaxt beobachte ich das rege Treiben eine Weile und genieße in vollen Zügen die Tatsache, dass ich seit Wochen keinerlei Alltagsstress mehr zu bewältigen habe.
Bis ein kleiner Lieferwagen anhält, dessen Radio mit voller Lautstärke die gesamte Stadt unterhält. Der Bass kommt einer Klangmassage nah. Der junge Fahrer steigt mit seinem Handy am Ohr aus und telefoniert inbrünstig vor dem Auto. Im Wageninneren hört er ja schließlich nicht, was sein Gesprächspartner ihm sagen will. Ein zweiter Wagen hält an. Die eingebaute Anlage steht der ersten in nichts nach und hält mit völlig anderer Musik fordernd dagegen. Die beiden Männer kennen sich. Mit großem „Hola“ und „Qué tal“ findet nur drei Meter von mir entfernt eine Wiedersehensparty zu ihrem Höhepunkt, als zwei sexy Señoritas die Straße herunter spaziert kommen. Was hat eben die Kuh zu mir gesagt: „Wähle den Weg, der Dir guttut.“ Nein, ich meine nicht eine der Señoritas, sondern das Rindvieh auf der Böschung. Ja, dann: „Adiós, queridos (tschüss, meine Lieben)!“ Schmunzelnd mache ich mich aus dem Staub. Das ist eben der ganz normale Wahnsinn. Und den gibt es auch auf dem Jakobsweg.
Sarría ist - von Santiago de Compostela abgesehen - die größte Stadt im galicischen Teil des Jakobswegs. Ich genieße wider Erwarten den Spaziergang durch die engen und steilen Gassen der schönen Altstadt. Obwohl jede Menge los ist, bleibe ich erstaunlich gelassen. Ich habe auf den vielen hundert Kilometern noch nie so viele Pilger gesehen, die offensichtlich ihre erste Etappe vor der Nase haben. Ist aber kein Wunder, denn Sarría liegt nur etwas mehr als hundert Kilometer von Santiago entfernt und ist somit ein wichtiger Startpunkt für Pilger, um die begehrte Compostela zu erhalten.
Auf den sogenannten „corredoiras“ geht es weiter durch die gebirgige Region Galicien. Die von Steinmauern gesäumten Wege, über die die Kühe auf ihre Weiden getrieben werden, führen durch eine Reihe kleiner Weiler, durch Täler, die von der Außenwelt fast abgeschnitten und dadurch wirtschaftlich kaum entwickelt sind. Ich bin mir sicher: Hier ist die Zeit stehengeblieben. Galicien ist bekannt für seine ergiebigen Regengüsse und das, durch den nahegelegenen Atlantik, kühlere Klima. Die Natur ist dementsprechend üppig und so saftig grün, wie ich es noch nirgendwo gesehen habe.
Die Corredoiras machen ihrem Namen alle Ehre. Ich finde mich im Wald inmitten einer Kuhherde wieder. Von ihrem Besitzer fehlt jede Spur. Ich bin ein bisschen beunruhigt. Da es zwischendurch immer wieder einen Regenschauer gibt, hängt mein feuerroter Poncho griffbereit über dem Rucksack. Die Rinder sind auch sehr interessiert an mir. Ruddi brauche ich nicht zu retten, der läuft weit ab vom Weg durch das Gestrüpp. Ich bewege mich wie in Zeitlupe mit weit ausgebreiteten Armen, wild klopfendem Herzen und starrem Blick durch die geschätzten zwanzig Tiere starke Herde. Kaum hörbar geht von mir ein zaghaftes „Hilfe!“ aus. Ich will ja keinen erschrecken! Wenn diese Tiere anfangen zu rennen, hab ich wahrscheinlich verloren.
Und tatsächlich entdecke ich endlich den Bauern, der mit einem Stock in der Hand lässig vor den Kühen her spaziert. Nur noch fünf oder sechs muss ich überholen, dann hab ich es überstanden. In Schweiß gebadet und um Anerkennung meines Mutes ringend, schenke ich dem Señor ein erleichtertes „Hola“. Wie war das noch mit dem Krafttier Kuh? Fülle und Segen? Dem scheine ich ja besonders nah zu sein.
Außerhalb des Waldes, zwischen den Wiesen wandernd, stelle ich mir vor, dass es so in Irland aussehen muss. Die niedrigen Steinmauern ziehen sich durch die gesamte grüne Landschaft. Weit und breit ist kein Pilger zu sehen, obwohl doch auf diesen letzten 100 Kilometern, so viele mehr unterwegs sind.
Zwischen Barbadelo und Ferreiros treffe ich auf einen Engländer, der hier lebt. Er macht seinen täglichen Paseo (Spaziergang) und begleitet mich einige Kilometer. Er ist den Camino Francés vor Jahren gelaufen und anschließend hierhin ausgewandert. Er hat das nie bereut und kann sich nicht mehr vorstellen, anders zu leben. Man sieht ihm an, wie zufrieden und glücklich er ist. „Auf dem Jakobsweg zuhause zu sein, ist etwas ganz besonderes. Jeder Pilger bringt ganz intensive Energien mit. Vor allem die, die schon viele Tage und Wochen laufen. Es gibt nichts Spannenderes, als sich mit den Wanderern aus aller Welt über ihre ganz persönlichen Erkenntnisse auf ihrem langen Weg zu unterhalten.“ Er sagt: „Denke immer daran, dass du deine Gedanken transformierst. Wenn Du einen Stein ins Wasser wirfst, ruft er um die Eintauchstelle herum Kreise hervor. Genau so verhalten sich Deine guten und schlechten Gedanken. Sie berühren den menschlichen Geist und erzeugen in ihm Vibrationen und mentale Atmosphären, die sich in alle Richtungen ausbreiten.“ Ich weiß, dass es so ist, vergesse es nur manchmal. „Gracias!“ Das Gespräch mit diesem Mann hat mir unendlich gutgetan.