gleicher Tag (insgesamt 461,4 km gelaufen)
Puente de Villarente (154 Einwohner), 804 m üdM, Provinz León
Hotel, Doppelzimmer, 24 Euro pro Person ohne Frühstück
Nach den doch nervenaufreibenden letzten sechs Kilometern bin ich überaus glücklich, in Puente de Villarente angekommen zu sein. Wie schön war doch heute Morgen der „ach-so-langweilige“ Weg über die Nebenstraße. Einmal mehr weiß ich etwas erst zu schätzen, wenn ich es nicht mehr habe. Okay! Loslassen, Birgit! Jetzt sind eben die National- und Schnellstraßen dran. Ruddi wird sich daran gewöhnen, zwischendurch auch mal wieder angeleint laufen zu müssen.
Der Ort hat nur 154 Einwohner - ist also recht klein. Aber die Brücke über den Fluss Porma hat es ganz groß in sich. Ich befinde mich immer noch auf der Nationalstraße, die wirklich sehr befahren ist. Ein LKW nach dem anderen donnert an uns vorbei. Ruddi muss schon seit einiger Zeit an der ganz kurzen Leine laufen, aber über die Brücke muss ich ihn in seinem Notfallnetz vor meiner Brust tragen, sonst überleben wir das beide nicht.
Wir haben nur einen halben Meter breiten „Bürgersteig“ zur Verfügung. Ich traue mich kaum zu atmen, damit ich die zwei Zentimeter Luft zwischen den vorbeidonnernden Zugmaschinen und mir nicht in Anspruch nehme. Ich habe echte Panik, von so einem Ding mitgerissen zu werden. Und die Brücke ist lang! Sehr lang! Als ich sie endlich passiert habe, bin ich dem Heulen nah. Das war echte Lebensgefahr. Dass da von der Stadt nichts geändert wird, ist mir ein Rätsel. Hurra! Wir leben noch!
Ich bleibe auf der linken Straßenseite - ich wüsste auch nicht, wie ich auf die andere kommen sollte, ohne doch noch unter die Räder zu kommen und bin zuversichtlich, dass sich hier ganz schnell ein Hotel oder so was finden lässt. Es dauert zwar noch ein paar hundert Meter, die ja bekanntlich für den Pilger am Ende des Tages eine fast unbezwingbare Strecke darstellen können, aber ich werde fündig. Mit Ruddi vor der Brust - hab vor lauter Schreck vergessen, ihn wieder abzusetzen - betrete ich den Schankraum, in dem auch die Übernachtungsgäste angenommen werden.
Nachdem ich ein Getränk bestellt habe, frage ich ohne zu zögern nach einem freien Zimmer, denn wenn es hier keins gibt oder mein Hund unerwünscht ist, muss ich schnellstens weiter. Ich wundere mich darüber, dass Ruddi überhaupt nicht beachtet wird und der Señor hinter der Theke mir ganz bewusst und angestrengt in die Augen guckt, nur um meinen Hund nicht wahrnehmen zu müssen. Ah! Ich glaube, ich habe verstanden. Er will mich zwar aufnehmen, darf aber eigentlich keine Tiere zulassen.
Ohne ein Wort oder Zeichen zwischen dem Mann und mir, drehe ich mich so unauffällig wie möglich weg, mache mich für einen Moment unsichtbar, nehme Ruddi aus dem Netz und setze ihn auf dem Boden ab - angeleint und ganz nah bei mir. Dann wende ich mich wieder Richtung Tresen und tue so, als hätte es die letzten Sekunden gar nicht gegeben. Dem freundlichen Señor reicht es, Perrito nicht mehr in seinem Blickfeld zu haben und endlich kommt die Zusage für ein freies Bett. Noch bevor ich einen Schluck trinken kann, nimmt der trotz allem, freundliche Señor den Zimmerschlüssel in die Hand und bittet mich ihm zu folgen. Über eine breite Treppe führt er mich in den ersten Stock und zeigt mir ein sehr großes und sauberes Zimmer inklusive einem blinkenden Bad.
Einen Atemzug später ist er auch schon wieder verschwunden und ich bin alleine. Ich beschließe, Ruddi in seine Hundebett-Tasche zu stecken und wieder nach unten an die Bar zu gehen. Da wartet schließlich mein Getränk noch auf mich. Es wird genau registriert, dass ich nun eine relativ große „Handtasche“ dabei habe. Dass „el perro“ nun darin steckt, ist dem Mann klar und ich merke an einem verbindlicheren Umgang mit mir, dass das so in Ordnung ist. Wir sind uns einig, dass wir unter keinen Umständen jemals ein Wort über den Inhalt meiner Tasche verlieren. Er wird stillschweigend akzeptiert. Toll, wieder eine neue Variante. Der gute Wille zählt. Danke!
Um die Mission „unsichtbarer Hund“ erfolgreich für heute zu beenden, esse ich sofort und ungeduscht. Ich werde sehr gut bedient und mit einem noch besseren Pilgermenü belohnt. Ruddi bewegt sich keinen Millimeter in seiner Tasche. Der schläft schon den Schlaf der Gerechten und wird nur nochmal kurz wach, als ich ihm ein Stückchen Fleisch durch den einige Zentimeter weit aufgezogenen Reißverschluss stecke.
Satt und zufrieden wie ein Baby verabschiede ich mich relativ früh und verlasse den Comedor durch den Schankraum. Nun stehe ich im stockfinsteren Hausflur. Eine schwere Holztür ist hinter mir zugeschlagen. Ich finde keinen Lichtschalter neben der Tür und sehe die eigene Hand vor den Augen nicht. Keine Ahnung, wo hier der Treppenaufgang ist. Wie ein Pantomime bewege ich meine Hände vor mir und mache ein paar vorsichtige Schritte, um vielleicht die gegenüberliegende Wand oder das Treppengeländer zu finden, an der oder dem ich mich dann entlang bewegen könnte. Aber nö! Nix in Tastweite. Ich traue mich nicht wirklich weiter vor, denn es könnte ja auch sein, dass ich am Treppenabsatz nach unten stehe. Es ist aber auch zum Mäusemelken! Es ist tatsächlich stockfinster, is nix mit „die Augen gewöhnen sich schon an die Dunkelheit“. Gerade will ich um Hilfe schreien, da öffnet sich die schwere Holztür und der Wirt schaltet das Licht ein. Der hat sich vielleicht erschrocken, als ich für ihn völlig unerwartet da rumstehe - war ja eigentlich schon lange weg. Er zuckt zusammen und lässt einen kurzen spitzen Schrei los. Ich muss schrecklich aussehen, so ungeduscht. Tja, selber schuld, in einem guten Hotel gibt es immer eine Notbeleuchtung, Was ist denn da los?
Obwohl es doch viel später geworden ist, als ich dachte, gönne ich mir noch eine lauwarme Dusche. Jaaaa! Eine lauwarme Dusche! Natürlich nicht, ohne vorher meine Klamotten durchzuwaschen. Dann falle ich in das große Bett und gehöre ganz ihm. Mein letzter Gedanke heute: Schön, dass ich noch lebe. Die Brücke hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.