gleicher Tag (insgesamt 506,8 km gelaufen)

Hospital de Órbigo (1119 Einwohner), 819 m ÜdM, Provinz León

Hotel, Doppelzimmer, 30 Euro ohne Frühstück

In meinem Zustand sind dreihundert Meter bis zu einer Herberge, die vielleicht komplett belegt ist oder - was sehr wahrscheinlich ist - Hunde nicht einlassen, zu viel. Ich schau mich um und siehe da: Ich stehe genau vor dem Eingang eines Hotels. Ich schleppe mich die vielen Stufen hinauf und fühle mich wie Sylvester Stallone als Rocky Balboa. „Geschafft! Gebt mir ein Bett und ihr seht mich heute nicht mehr wieder - noch nicht einmal zum Essen!“ Rien ne va plus - nichts geht mehr. Mit letzter Kraft schleppe ich mich ächzend ungefähr fünf Meter bis zur Theke und erfahre, dass ich den Laden unverzüglich wieder verlassen muss, weil hier keine Tiere geduldet werden. Mit offenem Mund starre ich den „Lackaffen“ an, der mir diese Worte ohne Begrüßung an den Kopf schmeißt und denke: „Du bist doch auch hier!“

Ich tue so, als hätte ich nichts verstanden. Das kann nicht sein Ernst sein. Sieht der denn nicht, was mit mir los ist? Nein! Sieht er nicht oder es ist ihm schlichtweg egal. Er hält mir die Tür auf und bittet mich mit bösem Blick auf Ruddi, sofort wieder zu gehen. Am liebsten hätte ich ihm eine geknallt, aber dann haut der womöglich zurück und ich lieg im Dreck vor seiner Theke. Also gehe ich lieber kopfschüttelnd vor Entsetzen und Wut wieder raus.

Ich muss ein anderes Hotel finden. Einheimische erklären mir, dass ich zirka einen Kilometer links die Hauptstraße runter laufen soll. Dafür muss ich den offiziellen Camino Francés verlassen. Tja, muss ich dann wohl. Mir bleibt nur die Hoffnung, dass ich unterwegs nicht einfach in den Straßengraben falle und da verrotte.

Aber ich schaffe es und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ich stehe an einem Kreisverkehr und es gibt tatsächlich zwei Hotels. Eines zu meiner Linken und eines zum meiner Rechten. Welches nehme ich denn bloß? Ich wähle das ungefähr fünfzweidrittel Meter näher liegende. Nun stehe ich vor einem riesengroßen Haus mit der leuchtenden Reklame „Hotel“ über dem Eingang und kann mein Glück kaum fassen.

Beim Betreten des überaus großen Gastraums, der mit grellbunter Neonlicht-Reklame beleuchtet ist, habe ich das Gefühl, in einer Spielothek gelandet zu sein. An den Wänden hängen Automaten und an diesen hängen Männer, die mich ungeniert anzüglich von oben bis unten mit einem ekligen, notgeilen Grinsen ansehen. Ein Raunen geht durch die Automatenreihe und sie werfen sich vielsagende Blicke zu. Es ist nicht ganz einfach, aber ich versuche, die Typen zu ignorieren Ich fühle mich auf einmal so eingeengt, so betatscht, obwohl der Abstand zwischen den Kerlen und mir gute fünf Meter beträgt.

Hinter der langen niedrigen Theke steht eine junge Frau, die sehr bunt und aufreizend gekleidet und noch farbenprächtiger geschminkt ist. Die blonden Haare sind wild und unsortiert auf dem Kopf zusammengesteckt. Sie fragt mich, ob ich ein Zimmer haben wolle. Ich bejahe das sofort, um so schnell wie möglich hier raus zu kommen. Sie geht mit mir durch einen Hausflur, der an den Treppenaufgang eines verlassenen Fünfziger-Jahre-Bürogebäudes erinnert. Die Tür direkt gegenüber dieser Treppe wurde irgendwann einmal durchschossen oder eingeschlagen. Spätestens jetzt sollte ich zusehen, dass ich Land gewinne, aber ich folge dieser „Dame“ den dunklen Flur runter. Der Boden ist, wie die Treppe auch, der blanke Estrich.

Endlich bleibt sie stehen und macht sich an dem Türschloss zu schaffen. Der Schlüssel scheint der falsche zu sein. Mit viel Gerüttel an der Klinke und Schlüssel hin und her drehen, bekomme ich dann doch noch Einblick ins „Paradies“. Ein penetranter Geruch schlägt mir entgegen. Sie betritt den halbdunklen Raum, zeigt mir im Vorbeigehen, wo sich das Bad befindet. Dann stehen wir vor einem Regal und ich entdecke darin Wäschestücke. Ich weise sie darauf hin. Panisch schubst sie mich aus dem Zimmer und zieht die Tür hinter sich zu, ohne abzuschließen.

Sie zieht mich in die entgegengesetzte Richtung, vorbei an dem Treppenaufgang und der Tür mit den Schusslöchern und versucht mit dem gleichen Schlüssel ein weiteres Zimmer aufzuschließen. Das gelingt ihr auch. Schneller als eben. Warum ergreife ich nicht die Flucht? Ich weiß schon lange, dass ich hier nicht bleiben will und abhauen sollte, so lange es noch geht. Aber ich bin wie gelähmt. „Scheiße! Wo bin ich hier bloß gelandet?“ So langsam gerate ich in Panik.

Als sich die Tür öffnet, fällt mir auf, dass die Wände nur wenige Zentimeter dick sind, nicht mehr als das Türblatt selbst. Der Geruch, der mir aus diesem Raum entgegenschlägt ist ein Gemisch aus Schweiß, Nikotin, Alkohol, Bahnhofsklo und Verwesung. Das Bett an sich versteckt sich unter einer dreckigen, ehemals wahrscheinlich weißen, mittlerweile aber kackgelben und fleckigen Decke. Viele kleine und größere Löcher weisen daraufhin, dass ihre Zeit längst abgelaufen ist und sie schon so einiges erlebt und mitgemacht hat. Mit zusammengekniffenen Augen - das Grauen erwartend - lasse ich meinen Blick über das klebrige Bett schweifen, um sicher zu gehen, dass da keiner - sei es tot oder lebendig - drin liegt.

Die bodentiefe Fensterscheibe hat neben dem Griff ein Loch, so groß wie ein DIN-A-5-Blatt. Es handelt sich um eine Schiebetür, die auf einen umlaufenden Laubengang führt. Sie ist nicht nur kaputt, sondern auch noch einige Zentimeter weit geöffnet. Der Versuch, sie zu schließen, schlägt fehl. Ich zeige entsetzt darauf und frage, wie ich mich hier sicher fühlen könnte. Die Señorita ist ganz hibbelig und gibt mir zu verstehen, dass sie nach einer Lösung suchen will. Geschäftig stürzt sie aus dem Zimmer.

So stehe ich, wie angenagelt alleine in diesem Raum und weiß nur eins: Ich muss weg, ganz schnell. Beim Rausgehen fällt mein Blick noch in das offene Bad, wenn man das so nennen darf: Unübersehbar dreckig, keine Klobrille, winziges Waschbecken mit zentimeterdickem Knös an den Armaturen und am Abfluss; offene genauso eklige Dusche und eine kleine Spiegelplatte unter einer nikotingelben, runden, uralten Lampe mit einer Schnur dran, um sie zum Leuchten zu bringen. Vom Fußboden will ich erst gar nicht anfangen. Für den Gestank fehlen mir die Worte, um ihn näher zu beschreiben. Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf - wenn Sie wollen. Egal welche Gerüche auch immer Sie sich vorstellen, Sie können keine Fehler machen, Sie liegen in jedem Fall richtig, wenn sie nur abscheuerregend sind.

Endlich kann ich mich wieder bewegen und spüre meine Schienbeine gar nicht mehr. Sie sind einfach nicht mehr da. Ich stolpere die Treppe hinunter, stürze in die Bar und setze mein breitestes Grinsen auf, das mir in dieser Situation zugänglich ist. Warum ich nicht gleich rauslaufe? Weil ich nicht verfolgt werden möchte, entweder weil sie denken, ich würde die Polizei rufen oder aber, weil sie einfach Bock drauf haben. Zuzutrauen wäre es ihnen. Nein! Ich muss deutlich machen, dass ich nicht alleine bin! Mann, hab ich Schiss!

Mit gespielter Freude, meinem Handy für alle sichtbar in der Hand und sehr eilig werfe ich den Schlüssel auf die Theke und sage beim Rausgehen aufgeregt zu der Bardame: „Amigo, telefone, yo Albergue él ésta aqui, lo siento, adiós.“ Wörtlich übersetzt heißt das so was wie- „Freund, Telefon, ich Herberge, er ist gleich da, tut mir leid, Tschüss.“ Ich beherrsche mich sehr, nicht zu rennen und dennoch sehr eilig wegzugehen.

Ich fühle mich beobachtet und verfolgt, bis ich das andere Hotel, links vom Kreisverkehr erreicht habe. Ich funktioniere nur, ich habe mich momentan nicht wirklich unter Kontrolle. Bevor ich hier irgendetwas unternehme muss ich wieder bei Verstand sein. Also trinke ich einen Café con leche, lasse das Geschehene in Kürze nochmal Revue passieren und mache mir klar, dass ich nun in Sicherheit bin und in den Schnell-wieder-vergessen-Modus umschalten sollte. Um mich herum herrscht reges Treiben. Es sind ganz viele Leute hier unterwegs. Ganz normale Leute; an der Rezeption entdecke ich einige Rucksäcke, deren Besitzer sich gerade ein Zimmer reservieren. Die Räumlichkeiten sind schön eingerichtet, hell, übersichtlich und einladend. Und es riecht so gut! Wüsste ich es nicht besser, könnte ich mir nicht vorstellen, dass es nur zweihundert Meter von hier entfernt die „dunkle Seite“ gibt.

Mein Verstand funktioniert wieder und gibt mir unmissverständlich zu verstehen: „Schön, dass wir das geschafft haben, aber jetzt zackig: Zimmer buchen, bevor alles belegt ist.“ Ach so! Kann man mir das nicht ansehen, dass ich hier übernachten will?

Ruddi und ich sind herzlich willkommen und Minuten später befinden wir uns in einem echten Hotelzimmer. Es ist so groß, so duftend sauber, so hell! Das Bad: So viele Handtücher, so viel Platz, so viel Glanz. Toll! Ich bin angekommen, rupfe Perritos Tasche aus dem Rucksack, lasse mich aufs Bett fallen und meinen Blick zufrieden und beruhigt umherwandern. Ruddi weiß von nichts und schläft schon tief und fest in seiner weichen Decke wie jeden Abend.

Ohne Essen kann ich aber doch nicht schlafen gehen. Mein Körper schreit danach und mein Appetit ist auch so langsam wieder da. Vorher muss ich auf jeden Fall in die Dusche, auch wenn es schon sehr spät geworden ist. Ich habe mich noch nie so dreckig gefühlt. Der Gestank der beiden Zimmer in der „Räuberhöhle“ steckt in meiner Nase fest. Sehr lange lasse ich ganz viel heißes Wasser an mir runter laufen, um den Dreck loszuwerden und die schlechten Energien den Abfluss runterzuspülen. Die gleiche Prozedur gönne ich meinen Klamotten - dreimal so viel Wasser und Waschmittel wie üblich.

Kurz bevor ich mein Zimmer verlassen will, um endlich essen zu gehen, klingelt mein Handy. Ich brauche einen Moment, bis ich das Geräusch zuordnen kann. Ich bekomme einen Schreck: Ob was Schlimmes passiert ist? Bitte nicht! Vorsichtig und fragend melde ich mich und höre unglaublich erleichtert die fröhlichen Stimmen meiner Eltern. Wie es mir geht, wollen sie wissen. Also, dass sie gerade heute anrufen ist schon ein Ding! Aber meine Eltern hatten das immer schon gut drauf, mir diese Frage im richtigen und passenden Moment zu stellen. Sie fühlen, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist. Ich erzähle ganz kurz und in sehr abgeschwächter Form von dem Erlebten, auch von den höllischen Schmerzen in meinen Schienbeinen heute Nachmittag. Mami und Papi staunen nicht schlecht über diese Neuigkeiten und Baby geht es noch besser, jetzt wo es allen Kummer loswerden konnte. Die Überraschung des Tages ist aber, dass meine Eltern mir heute 300 Euro überwiesen haben, damit ich nicht so auf den Cent gucken muss, vor allem bei der Zimmersuche. Ist das nicht ein Ding? Durchs Telefon knutsche ich die beiden und führe einen Freudentanz auf, angesichts der überraschenden Finanzspritze. Womit habe ich das verdient? Meine Eltern antworten mir darauf: „Wir wissen, wie wichtig Dir dieser Weg ist und wollen Dir helfen, das bis zum Ende durchzuhalten.“ „Danke, ich liebe Euch.“

Das Abendessen genieße ich alleine unter vielen Menschen, die ich nicht kenne. Ich fühle mich wohl hier. In diesem Moment brauche ich nichts weiter, als mich selbst, das Gemurmel der anderen Gäste, das gute Essen und ein, zwei Gläser Rotwein. Ich gucke mir die Menschen an, die in meiner Nähe sitzen und überlege, was sie wohl heute so erlebt haben mögen.

Endlich im Bett bin ich mir sicher: Ich bin der Held des Tages auf dem gesamten Camino. Und: Ich habe eine Wunderheilung erlebt. Ich kann wieder laufen. Morgen bin ich wie gewohnt „on the road“ Buenas noches, queridos amigos (gute Nacht, meine lieben Freunde).

5 1/2 Wochen
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